Der Spaziergang
an den See (1820) Als sie - es kommt nicht darauf an, wer - an einem schönen Sommerabend lustwandelten nach dem Wirtshäuslein am See: die Luft war so mild, die Blumen des Feldes nach dem kurzen Regen wieder so frisch, die Pappeln am Wege wiegten sich so schön in der sanftbewegten Luft, zwar alles wie gewöhnlich und wie fast überall, aber man meint, man muß es sagen, und die schöne Adeline wandelte leichten Fußes und jugendlichen Sinnes voraus im schönen, schwebenden Ebenmaß und Gleichgewicht ihres Wuchses, da legte schon auf zwanzig Schritt weit ein verwachsener Mensch die Krücke zurecht, um stehend mit der einen antreten zu können, wenn sie an ihm vorbeikämen, und jedes reichte ihm eine Gabe fast mit weggewendetem Angesicht. Denn es war eine der beklagenswertesten Mißgestalten, vor denen sich die Natur entsetzt. Nur der Doktor sah ihn herzhaft an und konstruierte in der Geschwindigkeit sein Skelett. Und erst nach einigen Sekunden, als Adeline sagte: „Der arme Mensch", merkten die andern, daß sie alle stille geworden und wehmütig ob dem Anblick. „Nun, Herr Doktor, mit Eurer Spitzfindigkeit", fuhr jetzt der Baumwollenfabrikant fort, „mit Eurer Kunst, alles zu erklären und zu rechtfertigen: was tut solch ein unglückliches Wesen, eine so verwachsene und verkrüppelte Ungestalt auf der Welt? Wäre es nicht besser, es wäre einer weniger?" Da nahm der Doktor eine geheimnisvolle Miene an, noch nicht zu dem, was er sagte, sondern zu dem, was er sagen wollte. „Dieser Mensch", begann der Doktor, „ist nur eine unverstandene Chiffre in dem Buch der Weissagung, das der Welt eine große Freude verkündet. Das Buch will verstanden sein. Ich will nur mit zwei Worten meine Meinung sagen." Da schauten sich die Frauen heimlich an, nämlich, daß jetzt eine langweilige Unterhaltung zu erwarten sei, wie es auch möglich ist, und blieben allmählich ein paar Schritte weit zurück. „Ich will nur so viel sagen", fuhr der Doktor fort, „es gibt eine unübersehbare Menge möglicher Formen und Bedingungen des Körpers und Geistes, unter denen der Mensch erscheinen kann. Aber jede muß irgend einmal oder irgend wo zum Vorschein kommen, wenn die Zeit für sie da ist, bis alle Möglichkeiten erschöpft sind. Dieser Unglückliche, den ihr da bedauert habt, ist auf diese Weise geworden und ist gerechtfertigt durch seine Möglichkeit; daß er aber unter die Möglichen gehörte, beweise ich damit, daß er dort sitzt. Eure Frage wäre beantwortet. Insofern könnte ich jetzt aufhören." „Aber habt ihr noch je zwei ganz gleiche Gesichter gesehen?" fuhr der Doktor jetzt redselig fort. „Ich behaupte, von dem ersten an, das gewesen ist, bis zu den allerletzten, in denen sich alle möglichen Formen erschöpfen, wird nicht eines zum zweitenmal wiederkommen und noch weniger zu gleicher Zeit neben sich selbst vorhanden sein. Sonst wäre eins gleich zwei, was nicht möglich ist. Aber eines von allen muß absolut das häßlichste sein, der Ausstich von allen übrigen unzählbaren Millionen; das glaubt ihr doch?" Niemand verneinte. „Also muß auch absolut von allen eines das schönste und vollendetste sein, hinter welchem alle Künstlerideale zurückbleiben, und das eine muß irgend wo und irgend einmal, wenn's nicht schon da war, aufblühen, so gut als das häßlichste; das müßt ihr glauben!" Da fuhr es gelegentlich wie ein freudiger Schrecken durch den jungen Rechtspraktikanten, wie wenn man einen Schatz findet; denn er schaute bei dem Wort des Doktors, ,eines muß von allen das schönste sein', unwillkürlich die blühende Adeline an und sie unwillkürlich ihn, und er liebte sie ungemein und hätte gern verstanden, was ihr Auge ihm verriet; aber er hatte das Herz nicht. „Ebenso die Gestalten", fuhr der Doktor fort, „ebenso die Geister. Ich will nur so viel sagen: Der Mensch ist eine Welt. Man muß ihn nie mit einer Einheit vergleichen, sondern mit einer Ganzheit, z. B. nicht mit einem Kirschenbaum, sondern mit einem Baum. Alle Pflanzen des Erdbodens umfassen nicht so viel Mannigfaltiges und Entgegengesetztes, so Süßes und Bitteres, so vielerlei Heil und so vielerlei Gift als das einzige Menschengeschlecht in seinen Individuen." ,Sie ist der weibliche Palmbaum', dachte der Praktikant. „Nicht zwei Menschen", fuhr der Doktor fort, „haben noch jemals alle höhern Kräfte des Geistes und alle schönen Tugenden des Herzens in gleichem Verhältnis in sich vereinigt und noch keiner von allen im rechten", - der Praktikant dachte: ,das sollte mich wundern' - „und im größtmöglichen Umfang ihrer Wirksamkeit." - ,Ja so', dachte der Praktikant, ,das wäre mir nicht einmal lieb.' „Aber einer von allen" - „wird der Schlimmste sein", fiel dem Doktor der Amtmann in die Rede. „Ich seh' euch kommen einen Verführer und Mörder seines Geschlechtes, ein allgemeines Weltgewitter, das in alle Throne und Altäre einschlagen wird, um König und Gott allein zu sein, der die Welt in Flammen stecken und mit Blut und Tränen löschen wird, um sie noch einmal anzuzünden." „Es gehört nichts dazu", fuhr der Doktor kaltblütig fort, „als ein total überlegener Verstand zur Beharrlichkeit des bösen Willens und günstige Zeit. Schon mehr als einer hat's versucht. Aber ich will vom Besten reden. Er ist möglich, so gut als der Schlimmste, und wenn er möglich ist, so bleibt er auch nicht aus. Irgend einmal müssen alle Umstände zusammentreffen, die erforderlich sind, daß er erscheine. Vielleicht trägt ihn eine Mutter bereits unter dem Herzen. Die Zeiten sind kurios." Da schmollte der Apotheker, der sonst lieber zuhört als spricht, und nahm den Ansatz zur Rede. „Erlaubt mir", sagte er, „was das betrifft" - aber der Doktor übersegelte ihn diesmal schon im Auslaufen. Denn es erschien jetzt, wie von einer himmlischen Glorie umflossen, vor seiner reichen und starken Phantasie der Herrliche und Große, in dem sich die Weisheit und Liebe aller Gesetzgeber und Könige, die je ihre Völker beglücken wollten, von dem weisen Salomo bis auf Kaiser Franz ... geschieden vom Irrtum und allem Haß vereinigen werden, und dessen Szepter alle frommen Gemüter aus Liebe und alle großen Geister aus Achtung für den größern und alle andern aus Furcht sich unterwerfen müssen. Ja, es ging vor ihm, im Rosenschimmer des Morgenrotes mit Gold durchwirkt, das glückliche Zeitalter der Menschheit auf, das sie für alle, erstandenen Leiden, „die Entdeckung von Amerika und die Erfindung der Buchdruckerkunst mit eingerechnet!" sagte er, trösten und erfreuen werde, daß es dem Berginspektor auf einmal zumute wurde, wie wenn er aus einem tiefen, feuchten Schacht zutage aufführe in die Maienblüte und in die Gesänge der Nachtigallen; denn der Doktor sprach davon auf nicht gemeine Weise, auch nebenher, wie er gewohnt ist, nicht ohne Necken. „Wie meint Ihr, Amtsrat", fuhr er fort, „wird er alle Hochgerichte abtun und nach neuen Gesetzen und Urteilssprüchen richten? Und Ihr, Pfarrer, wie wird er die Schulstuben ausräumen und die Kinder unter freiem Himmel in die Schule gehen lassen, an Regentagen lieber gar nicht, damit sie vernehmen lernen das lebendige Wort und nicht länger das tote; und Ihr, Bergrat, wie wird er alle Gräben zuwerfen lassen, damit niemand hineinfällt, weil jetzt vorderhand Metall genug zutag ist, besonders Messing und Eisen. Und Ihr, Stadthauptmann, wie wird er alle Kanonen abführen lassen, Eure zwei Dreipfünder nicht ausgenommen, und alle Schwerter in Pflugscharen umwandeln und alle Lanzen in Sicheln." „Diese Allmendsphrase aller Friedensdichter", sagte er, „hat seit den Tagen des Propheten Jesaia lange genug in Poesien ihre Wirkung getan. Es wäre nimmer zu frühe, wenn sie auch einmal als Prosa auf Zeitungsartikel benutzt würde. Was meint Ihr, Herr Pfarrer?" Der guten menschenfreundlichen Seele des Pfarrers hatte die Sache schon lange eingeleuchtet, nicht einmal angesehen, daß er im vorigen Krieg viel Einquartierung hatte. Nur hätte er's gern durch ein Wunder gehabt. „Gerade da", entgegnete ihm der Doktor, „scheint Ihr mir auf einem unsichern Pfad zu reiten. Denn wenn Ihr's von einem Wunder erwartet, das Wunder kann ausbleiben. Wenn er aber schon in der Urne liegt, die die Lose der Menschheit bewegt, so kommt er irgend einmal gewiß. Übrigens sind das nur zwei Meinungen. Aber ein dritter sieht ins Klare." Hier wollte der Apotheker zum zweitenmal auslaufen; aber der Stadthauptmann kam ihm zuvor. „Wie aber", fiel der Stadthauptmann ein, „wenn der Schlimmste vor dem Besten käme und reine Arbeit machte! Dann würde mein Arsenal noch zu brauchen sein, von dem Ihr vorhin so höhnisch gesprochen habt." Der Pfarrer schüttelte den Kopf; denn er dachte an den Magog. Der Doktor aber, nie verlegen, erwiderte: „Wenn er vorher kommt, desto besser, so kann er hintennach nichts mehr verderben, und wenn er nur einmal gewiß dagewesen ist, so ist der Beste verbürgt. Denn alles Schlimmste ist nur Bürgschaft für das Beste. Ohne einen kürzesten Tag warteten wir auf den längsten vergeblich. Kein Pendel schwankt einseitig nur nach einem Extrem. Freilich muß er zuerst kommen, wenn er noch nicht dagewesen ist. Aber wegen der reinen Arbeit laßt Euch keinen Kummer werden; denn die erhaltenden und rettenden Kräfte überwiegen im großen und ganzen immer die zerstörenden. Eure zwei Dreipfünder werden den Ausschlag nicht auf die andere Seite bringen, hunderttausend Achtundvierzigpfünder auch nicht. Aber Eure Rede nicht zu vergessen, was wolltet Ihr vorhin sagen, Apotheker?" „Erlaubt mir, ich wollte nur sagen, das komme mir ebenso vor, als wenn ich sagen wollte, die Zahl 7777 müsse in der Frankfurter Lotterie, welche 21 000 Nummern hat, irgend einmal mit dem großen Los gewiß herauskommen, weil sie darin ist; wenn nämlich die Welt so lange steht und Frankfurt so lange zieht, bis sie herauskommt. Wißt Ihr aber auch, wenn alles recht glücklich geht, daß es noch 10 500 Jahre anstehen kann, vielleicht noch länger?" Drauf erwiderte mit Respekt gebietendem Tone der Doktor: „Mir kommt das nicht ebenso vor, was Ihr da sagt; denn erstlich hat die Menschheit nicht 21 000 Nummern, sondern, wenn's genug wär', aber es ist nicht genug, soviel Millionen." „Desto schlimmer", meinte der Apotheker. „Desto besser", erwiderte der Doktor; „denn erstlich zieht die Menschheit nicht erst seit heute, sondern vielmehr schon so viele tausend Jahre, als Eure Zahl Einheiten hat." Der Pfarrer meinte, 6000 wären auch genug und schon zuviel. Aber es lag nicht im Interesse des Doktors, darauf einzugehen und den Apotheker so geschwind loszulassen. „Und zweitens", fuhr er fort, „zieht die Menschheit nicht nur zweimal im Jahr, wie Frankfurt, sondern alle Tage, alle Minuten, auf allen Thronen, in allen Hütten, auf allen Inseln und Kontinenten; und wißt ihr auch bei alledem, daß Eure Zahl schon in der nächsten Ziehung herauskommen kann, so gut als die, welche wirklich herauskommen wird? Und wißt Ihr auch, daß sie vielleicht in alle Ewigkeit nie gezogen wird? Denn Ihr vertraut Euch alle Ewigkeit hindurch immer dem nämlichen Zufall an. In die Urne, welche die Lose der Menschheit rüttelt, wird keine Niete zurückgeworfen, um zum zweitenmal eine zu werden. Es ist genug, wenn jede einmal dagewesen ist. Wenn er aber als eine Möglichkeit darin liegt, so muß er irgend einmal herauskommen." Der Apotheker hatte das Herz nicht mehr, seine Einwendungen fortzusetzen; sondern er flüsterte heimlich zu dem Amtsrat. „Ihr habt recht", sagte der Amtsrat, und „Herr Doktor", nahm er das Wort, „setzt Ihr voraus, daß das menschliche Geschlecht sich ewig auf der Erde fortpflanzen wird?" „Das nicht", sagte der Doktor. „Wie aber, wenn sich sein Ende neigte, ehe Euer Morgenländer kommt! Wenn Ihr's für möglich haltet, daß es irgend einmal für nichts und wieder nichts könne so dagewesen sein, wie es ist mit seinen perennierenden Torheiten und Schmerzen, das ewige, wiederkehrende Einerlei eines schlechten Schauspieles, das imstande sein kann, ohne Entwicklung wieder aufzuhören, wie es anfing, matt? Dafür steht mir der Pfarrer mit dem Artikel de Providentia, gut." „Oder wie! wenn der Morgenländer unglücklicherweise von allen der letzte wär'! Das wäre doch auch möglich." „Möglich zwar", erklärte der Doktor, „aber wahrscheinlich eben nicht. Im schlimmsten Fall erfahren alsdann alle andern wenigstens, warum sie dagewesen sind. Seine kurze Zeit ist dann der Silberblick, mit dem sich das edle Metall der Menschheit von seiner Schlacke scheidet. Das Morgenrot geht dann dem menschlichen Geschlecht am Abend auf - das ist alles - und verschießt schnell im aufgelösten Sternenlicht eines neuen Himmels und einer neuen Erde." Der Pfarrer dachte: ,Er hat doch Religion, wenn schon eine eigene.' Der Praktikant aber fand schon lange keine Gelegenheit mehr für eine geheime Herzensglosse zu dem Text. Dafür weidete er sich in dem Anblick der holden Adeline und las in der sichtbaren Verklärung ihres Antlitzes, wie sympathisierend ihr sinniges und edles Gemüt den schönen Phantasien des Doktors nachkam, und wie sie ihre Gefühle durchschwebten. Eigentlich aber dachte sie an ihr niedliches Blumengärtlein daheim vor den Fenstern, und wie sie ihm gerne die schönsten daraus zu einem Strauße pflücken wollte, wenn er sie nur darum anspräche. Kurz, der angefangene Faden wurde fortgesponnen bis in das Wirtshäuslein hinein und durch das Wirtshäuslein hindurch, wie manchmal ein Gefecht durch ein Dorf, das nichts davon begehrt, bis an den Tisch im Garten unter dem Apfelbaum. Würzige Erdbeeren und fette Milch im reinlichen Napf dienten jetzt zur angenehmen Erfrischung - man meint auch, man muß es sagen - und bei mehr als einer Flasche köstlichen Seeweins - es muß nicht notwendig am Bodensee gewesen sein - disputierten jetzt die Männer über den ersten Grundsatz des Doktors, ob er auch richtig sei, und ob man ihm trauen dürfe. Der Apotheker aber sagte leise dem Amtsrat: „Es ist nichts mit ihm anzufangen"; die Frauen aber ergingen sich im Garten und sprachen von Haushaltungsangelegenheiten bis die Schönheit der untergehenden Sonne das poetische Gemüt der Amtsrätin auf sich zog. Adeline und der Praktikant aber schlenderten miteinander am blütenreichen Ufer des Sees entlang und unterhielten sich, wie die Kindlichkeit so gerne tut, mit einigen schönen Erinnerungen an ihre Kindheit, ehe er auf die Schule versendet wurde, und, was eigentlich nicht nötig war, ob sie sich einander auch noch gut seien, und als eben im nahen Gebüsch eine Nachtigall ihre zartesten Töne anstimmte, um ihnen gleichsam die Antwort auf die Lippen zu legen, da verstanden sie die Nachtigall. Denn sie konnten dem süßen Drang nicht länger widerstehen, sondern sie bekannten sich ihre Liebe mit dem ersten Kuß und nannten sich seit ihren Kinderjahren zum erstenmal wieder mit dem unschuldigen und lieben Du. Und als sie wieder zur Gesellschaft zurückkamen, stritten die Männer noch immer, auf dem Heimweg zwar auch noch, nur lebhafter und getrennter im Widerspruch über den ersten Grundsatz des Doktors, ob er auch wahr sei, und ob man ihm trauen könne. Die Amtsrätin aber fragte: „Kinder, wo seid ihr gesteckt, und habt ihr auch die Sonne gesehen schön untergehen?", und die Jungfrau in ihrer Unschuld und Wahrheit gestand: „Nein"; der Jüngling aber dachte: ,unter nicht, aber auf!' |
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Im "Morgenblatt für gebildete Stände", Tübingen 1820 anonym veröffentlicht; Textreferenz: J. P. Hebels Werke, Band 1; hrsg. v. Wilhelm Altwegg Dieter Walz: Die gewaltige Botschaft des philosophischen "Spaziergangs am See" Der Spaziergang am See - Anmerkungen von Wilhelm Zentner |
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