zurück Die gewaltige Botschaft des philosophischen "Spaziergangs am See"
 

 


Zu der wenig bekannten, weil kaum veröffentlicht aufzufindenden Geschichte möchte ich  Dieter Walz, den Rektor unserer Grund- und Hauptschule zu Wort kommen lassen.
Er schreibt in seinem Buch „Mass und Mitte“ *:

In seinem „Spaziergang am See" (…) finden wir uns unter anderem inmitten des zeitlosen Theodizeeproblems wieder. Die religionsphilosophischen Betrachtungen mehrerer diskutierender Spaziergänger wurde 1814 geschrieben, jedoch erst im Jahre 1820 anonym im „Morgenblatt für gebildete Stände" in Tübingen veröffentlicht. Die Zielgruppe ist also nicht der einfache Kalenderleser oder der bürgerliche Schatzkästleingenießer, sondern der akademisch Gebildete. (…) 

Ich beschränke mich auf zwei wesentliche Aspekte: Die Disputationen, die sich an einer „verkrüppelten Ungestalt" und dem „schlimmsten ... Verführer und Mörder seines Geschlechtes" entzünden:
 
„Wäre es nicht besser, es wäre einer weniger auf ihr [der Welt] ?", fragt sophistisch der Baumwollfabrikant in Bezug auf das „unglückliche Wesen", welches die Harmonie der Spaziergänger schon allein durch sein Erscheinungsbild und Betteln stört. Der Doktor, dem die Hauptrolle der Ausführungen zukommt und in dem sich der Autor [J. P. Hebel] am meisten spiegelt, erläutert: „Dieser Mensch ... ist nur eine unverstandene Chiffre in dem Buch der Weissagung, das der Welt eine große Freude verkündet. Das Buch will verstanden sein." Weiter führt er aus: „Ich will nur soviel sagen, ... es gibt eine unübersehbare Menge möglicher Formen und Bedingungen des Körpers und Geistes, unter denen der Mensch erscheinen kann; aber jede muss irgendeinmal und irgendwo zum Vorschein kommen, wenn die Zeit für sie da ist, bis alle Möglichkeiten erschöpft sind. Dieser Unglückliche, den ihr bedauert habt, ist auf diese Weise geworden und ist gerechtfertigt durch seine Möglichkeit; dass er aber unter die Möglichen gehöre, beweise ich damit, dass er dort sitzt."
Das Hässliche und Hässlichste wird für den Doktor zur Gewähr des Schönen und Schönsten, auch wenn es von Menschen noch nie in idealer Weise verkörpert wurde.
Ähnlich wie der Gedankengang vom Hässlichen zum Schönen verläuft, verläuft der vom Schlimmsten zum Guten.
An einer Stelle meint der Doktor: „Aber einer von allen ... wird der Schlimmste sein, ... ein Verführer und Mörder seines Geschlechtes, ein allgemeines Weltgewitter, das in alle Throne und Altäre einschlagen wird, um König und Gott allein zu sein, der die Welt in Flammen stecken und mit Blut und Tränen löschen wird, um sie noch einmal anzuzünden." Hier kommt er zu dem Schluss, dass „alles Schlimmste ... nur Bürgschaft für das Beste ... ist." Das ästhetisch Hässliche und unter der gesellschaftlichen Kosten-Nutzen­rechnung als unwert erachtete Leben hat dieselbe Lebensberechtigung wie das anheimelnde Schöne. Der im Geschichtlichen auftauchende „Verführer und Mörder", der „Gott alleine sein will", hat ebenso wie das Hässliche eine Funktion in dem chiffrierten Sinn des Seins. So wie sich Gutes und Böses innerhalb der Menschheit auf die Individuen verteilt, so ist es innerhalb eines Individuums verteilt.
An einer Stelle meint der Doktor deshalb doppelsinnig: „Der Mensch ist eine Welt. Man muss ihn nie mit einer Einheit vergleichen, sondern mit einer Ganzheit, zum Beispiel nicht mit einem Kirschbaum, sondern mit einem Baum. Alle Pflanzen des Erdbodens umfassen nicht so viel Mannigfaltiges und Entgegengesetztes, so Süßes und Bitteres, so vielerlei Heil und so vielerlei Gift als das einzige Menschengeschlecht in seinen Individuen." In jedem Individuum zeitigt sich also die Widersprüchlichkeit des gesamten Menschengeschlechtes immer wieder neu und weil sich im Einzelnen das Allgemeine spiegelt, hat das einzelne ein Recht auf zwischenmenschliche Zuwendung und individuelle Gültigkeit. (…)
 
Eine Kernfrage nach dem Sinn des Lebens (…):
Wie lebe ich mein Verhältnis zu den Mitmenschen und der belebten Natur?
 
Wenn man in Anlehnung an die historischen Maßstäbe Adornos (Auschwitz) und Jaspers (Atombombe) versucht, den Verführer mit Hitler und den Verkrüppelten mit den als „unwertes Leben" vernichteten Menschen der Gaskammern gleichzusetzen, wird deutlich, wie gewaltig die Botschaft des philosophischen Spaziergangs am See ist.


* Dieter Andreas Walz, Mass und Mitte; Drey-Verlag Gutach; 2000
 
 
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