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Sehr verehrter Herr Staatssekretär Sieber, sehr verehrter Herr Bürgermeister
Bühler,
sehr verehrte Frau Reber-Liebrich, liebe Hausener, Wiesentaler,
liebe Gäste und,
vor allem, liebe Frau Beig,
der
erste Gedanke, als ich erfuhr, dass Maria Beig den diesjährigen
Johann-Peter-Hebel-Preis erhalten würde, war: Wie passend! Johann Peter
Hebel hätte seine Freude gehabt an dieser Preisträgerin. Er hätte sie
als eine durch ihre Literatur mit ihm Verwandte verstanden, als eine
Schriftstellerin, deren Texte seine Sprache sprechen und deren Figuren
aus seiner Welt kommen.
Maria Beig kam spät zum Schreiben. Lang hat sie als Lehrerin gearbeitet, hat
eine Tochter großgezogen – die heute auch unter uns weilt –, war
mit Familie und Beruf vollauf beschäftigt. Sie war fast sechzig, als
sie mit dem Schreiben begann, oder genauer: als sie mit dem Schreiben
beginnen mußte, weil sie das Schreiben plötzlich brauchte. Und seither
geht es Schlag auf Schlag. In gut zwanzig Jahren, von 1982 bis heute,
veröffentlichte Maria Beig nicht weniger als acht Romane und vier
Kurzgeschichtenbände, dazu schrieb sie immer wieder auch Geschichten,
die in Zeitungen und Anthologien erschienen.
All
dies hätte Johann Peter Hebel zweifellos bewundert, doch weshalb er
wirklich seine Freude an dieser Preisträgerin gehabt hätte: Wie er, so
versteht es auch Maria Beig Geschichten, die das Leben schreibt,
aufzuzeichnen und zu Literatur werden zu lassen. Maria Beigs Geschichten
konzentrieren sich aufs Wesentliche. Ihre Romane sind kurz, voller
Handlung, direkt. Voll der Würde der Sparsamkeit treten ihre Texte
bescheiden hinter Leben und Ereignisse zurück, steuern dabei aber
kunstvoll ein Ziel an, das man überrascht und dankbar immer erst ganz
am Ende voll wahrnimmt. Dieses Ziel eine Pointe zu nennen, wäre zu
wenig gesagt. Dieses Ziel eine Moral zu nennen, wäre missverständlich.
In Maria Beigs Büchern geht es zweifellos auch um moralische Werte, um
Beichte, Sünde, Religion und Vorurteile. Doch stellt Maria Beig, die
Autorin, diese dar. Sie wertet nie. Sie steht zurück hinter die
Menschen, die sie in ihren Büchern aufleben lässt. Um was es bei Beig
– wie auch bei Hebel – immer zuerst geht, ist ein zutiefst
empfundener Humanismus, ein Menschsein, das jede und jeden sofort und
zuallererst als Kreatur zelebriert, als eine Kreatur mit Schwächen,
Beschränkungen, Schmerzen, als eine Kreatur, die in einer eigenen,
individuell bemessenen Zeit lebt. Vieles ist bei Beig gegen den Tod,
gegen die Vergänglichkeit, gegen das Vergessen geschrieben. Und durch
die Intensität, mit der dies geschieht, wächst in Maria Beigs
Literatur jede Figur sofort über das bloße Figursein hinaus.
Immer
wieder kommt es deshalb bei Beigs Lesern zu Missverständnissen. Dieses
Menschsein ihrer Figuren ist so stark, daß manche Leserinnen und Leser
es nicht schaffen, ihre Figuren als literarische Figuren aufzunehmen.
Kaum war Maria Beigs erstes Buch, Rabenkrächzen, 1982 erschienen, in dem sie von einer Bauernfamilie
mit vierzehn Kindern erzählt, als die Presse, ohne zuvor mit der
Autorin genaue Rücksprache zu halten, feststellte: Maria Beig sei als
eines von vierzehn Kindern aufgewachsen.
Hierbei
wurde von diesen frühen Kritikern übersehen, wie kunstvoll Rabenkrächzen
die Symmetrie von sieben Mädchen und sieben Jungen aufbaut, wie genau
das Buch das Märchen der Sieben Raben aufnimmt, es aber umkehrt und die
sieben Mädchen zu jenen werden lässt, die der Erlösung bedürfen.
Sechs Buben sterben – manche früh, manche im Krieg. Nur der jüngste
bleibt übrig. Ihm fällt alles zu. Er erbt den Hof, die Felder, das
Ansehen der Familie. Da denkt eine der sieben Schwestern als erwachsene
Frau: „Wir müssten alle erlöst werden, nicht nur der Bruder“ (12).
Sowohl
Hebels als auch Beigs Literatur ist eine Literatur, die in ihrem
schnellen, direkten Hinerzählen auf Konflikte noch dem lebendigen
Geschichtenerzählen nahesteht, der Welt, wo erzählte Märchen noch im
Alltäglichen ihren Platz hatten, wo Bibelgeschichten noch zum
allgemeinen Wissensschatz zählten.
Johann
Peter Hebel hätte auch seine Freude an Maria Beig gehabt, weil sie sich
auf keine literarischen Moden einlässt. Stilistischer Firlefanz und
literarische Eitelkeiten sind ihr fremd. Sie schreibt immer nahe an der
gesprochenen Sprache. Wortschatz und Diktion sind immer nahe am
Alemannischen, ohne daß sie sich jedoch ganz in die Tiefen des
geschriebenen Dialektes begeben würde.
Maria Beigs Bücher vollbringen, wie Hebels Bücher auch, das beinahe Unmögliche,
von dem jeder Schriftsteller träumt. Sie sind bei einem breiten
Publikum beliebt; sie finden in der Kritik beinahe einstimmiges Lob; und
sie werden sie von Schriftstellerkollegen anerkannt – mehr als
anerkannt: bewundert.
Beigs
erste Bücher brachten es schnell zu einer Gesamtauflage von über
hunderttausend Exemplaren. Katharina Adler, Martin Walser, Peter Hamm
gehörten zu ihren ersten Laudatoren. Gewiss keine geringen Namen.
Hinzugekommen sind Arnold Stadler, Armin Ayren, Helen Meier, Tina
Stroheker, Johanna Walser und viele, viele andere. Und immer wieder hört
man von dem, was Maria Beig fürs eigene Schreiben und Werden dieser
Schriftstellerinnen und Schriftsteller bedeutet. „Ungewolltgewollt,
bewußtunbewußt beeinflußt“ (Was
zählt 76) sei sie von Maria Beigs Büchern worden, schreibt Helen
Meier. Und Arnold Stadler zählt Maria Beigs Bücher zu dem, was ihn
„bewegt ... gar weitergebracht hat“ (Was
zählt 114). Und damit nicht der Eindruck entstehe, der Einfluss
von Maria Beigs Büchern erschöpfe sich etwa zweihundert Kilometer vom
Bodensee, oder er erschöpfe sich im Deutschen, erlauben Sie mir noch
ein paar englischsprachige Autoren zu zitieren, die, mit Ausnahme der Übersetzerin,
Beigs Bücher nur in ihrer englischen Übersetzung kennen.
Maria
Beigs Übersetzerin ins Englische, die mit zahlreichen Preisen
ausgezeichnete Jaimy Gordon, die sich heute auch im Publikum befindet (für
ihre Werke erhielt sie u. a. den Preis der American Academy and Institute
of Arts and Letters und 1995 wurde ihre Kurzgeschichte „A Night’s
Work“ zur Sammlung der „Best American Short Stories“ ausgewählt),
schreibt zunächst einmal zu ihrer Erfahrung beim Übersetzen von Maria
Beigs Büchern: „Übersetzen ist eine Vampirkunst; und Hermine, an der ich derzeit arbeite, ist eine Sammlung von
Frauenzeitaltern. Ich habe sie alle aufgenommen in mich und lebe nun mit
ihnen in mir – mit dem borstigen, neugeborenen Tier, dem jungen Mädchen,
in dessen Haaren sich eine Fledermaus verheddert hat, der jungen
Lehrerin, der Maikäfer im Ausschnitt ihres Kleides krabbeln, der Frau
im mittleren Alter, die vom Schrei der Eule in den Wald gezogen wird“
(Was zählt 42). Hermine.
Ein Tierleben, schreibt Gordon dann, habe 1984 schon „sowohl in
Form als auch in Inhalt einige der mutigsten und komplexesten
Innovationen in der zeitgenössischen Literatur vorweggenommen“ (Introduction
zur englischen Übersetzung von Hermine.
Ein Tierleben). Gordon redet hier von Beigs Kompositionstechnik, in
der für Hermine die Form des mittelalterlichen Bestiariums benutzt wird, um
durch vierundsechzig Tiere die Geschichte eines Frauenlebens von seiner
Geburt bis zu seiner Erlösung durchs Wort darzustellen. Hier haben wir
postmoderne Brechungen, verschmelzende Formen und am Ende doch wieder,
wie nur in der besten zeitgenössischen Literatur, eine Geschichte.
Ursula
Hegi, die inzwischen weltweit mit über dreißig literarischen Preisen
ausgezeichnet wurde, u.a. auch mit dem italienischen
Grinzane-Cavour-Preis, schreibt in der New York Times: „Maria Beig ... lässt zahllose deutsche
Frauenschicksale aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor uns
aufleuchten... Sie zeigt die wenigen Möglichkeiten, die sich diesen
Frauen in ihrer Jugend bieten, und dann, während sie älter werden, das
langsame Verschwinden selbst dieser Möglichkeiten.“
Rosmarie Waldrop, die, neben zahlreichen anderen Ehrungen für ihr literarisches
Schaffen von der französischen Regierung zum „Chevalier des Arts et
des Lettres“ ernannt wurde, schreibt: Maria Beigs Sätze
„schockieren uns mit ihrer reinen Kraft und holen uns heraus aus
unseren Sprachspielen“ (Lost
Weddings cover).
Janet
Kauffman, wie Jaimy Gordon Gewinnerin des
American-Academy-Institute-of-Arts-and-Letters-Preises, schreibt: „[Beigs]
Geschichten sind einfache, unerbittliche Herausforderungen an
traditionelle Ordnungen“ (Lost
Weddings cover).
Kellie
Wells, die den Flannery-O’Connor-Preis gewann, schreibt: „[Beigs]
Geschichten schimmern dunkel durch jenen Halbschatten, der das ‚visionäre
Glühen‘ der Kindheit verzaubert“ (Hermine
cover).
Und
die Malerin und Schriftstellerin Rikki Ducornet schreibt über Hermine.
Ein Tierleben: „Stellen Sie sich Breughels Landschaftsbilder in
dunkelstes Glas geritzt und gegen den Mond gehalten vor. Während sich
unsere Welt von der Welt der Tiere weiter und weiter entfernt, stellt
dieses fabelhafte Buch die Frage, wie unsere Phantasie diesen Verlust überleben
wird?“ (Hermine cover)
Ich
bin sicher, Johann Peter Hebel hätte ähnliches über Maria Beig und
ihre Texte gesagt. Der Zauber in Beigs Büchern liegt in ihrer
Einfachheit und ihrer Direktheit und in ihrer menschlichen Tiefe. Ihre Bücher
sind nahe am Traditionellen; und zugleich betreten sie mutig und
unkonventionell avantgardistisches Neuland. Wir finden in ihren Texten
eine willkommene Erinnerung daran, dass Literatur heute noch Geschichten
nahe am Leben entlang zeichnen und dabei höchst innovativ sein kann.
Wir finden in Maria Beigs Büchern eine Welt, bei der wir schon nach den
ersten Sätzen merken, wie gut wir sie kennen. Es ist eine Welt der
Hoffnungen, der entscheidungsschweren Augenblicke, der lebenslangen
Konsequenzen, die aus den Augenblicken der Schwäche und der Liebe herrühren,
es ist die Welt, in der der Basler Totentanz im Hintergrund immer gegenwärtig
ist. Es ist dieselbe Welt, in der der Ätti auf der Straße nach Basel
zwischen Steinen und Brombach sagt: „Hüst Laubi, Merz!“ Es ist die
Welt, in der eine zusammengeschrumpfte, an einer Krücke gehende Braut
ihrem vor fünfzig Jahren verunglückten Bräutigam, der als Jüngling
vor ihr liegt, ein schwarzseidenes Tuch mit roten Streifen umlegt und
ihn in ihrem Sonntagsgewand auf den Friedhof begleitet als sei es der
Hochzeitstag. Es ist die Welt der großen Literatur.
Ich
kann mir, meine Damen und Herren, niemanden vorstellen, zu dem der
Johann-Peter-Hebel-Preis besser passen würde und der ihn mehr verdient
hätte als Maria Beig.
Zitierte
Werke
Beig, Maria: Hermine, an Animal
Life. Translated by Jaimy Gordon. Kalamazoo: New Issues Press,
erscheint Frühjahr 2005.
Beig,
Maria: Lost Weddings. Translated by Peter Blickle and Jaimy Gordon. New
York: Persea Books, 1990.
Beig,
Maria: Rabenkrächzen.
Sigmaringen: Jan Thorbecke Verlag, 1982.
Burger,
Oswald (Hg.): Was zählt. Maria
Beig zum 75. Geburtstag. Sigmaringen: Jan Thorbecke Verlag, 1995.
Hegi,
Ursula: „No Country for Women“. The New York Times Book Review, 29. Juli 1990.
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