12 - 5.    Gedanken zu Lieben und Hassen -
              ev. über Petrarcas Laura
Konvolut 3 / Text

(Original ohne Titel)

 

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5.

Die Brust des Menschen ist so eng u. so schwach, und doch, welche Gefühle, welche Begirde, welche Plane* vermag der Sterbliche in ihr auf zu nehmen, u. fest zu halten, welchen Drang u. Sturm des innern Krieges zu bestehen?
Mit welcher Beharrlichkeit komen lieben u. hassen, oft das Haßenswerthe ans Herz drückend  und das liebenswürdige verschmähend? Unverrükt strebt er, opfer bringt Einem Zweck iegliches Opfer, muthiger durch ieden Widerstand, ärmer nach iedem Sieg. Eilt Iahre lang kan der Dichter von Vaeuclüse** der Laura*** die in eines Glücklichen Armen lag mit schüchterner u. keuscher Liebe huldigen, und doch noch 10 weitere Iahre lang in rührenden Stanzen**** ihren Tod beweinen. Anders wo kan ein 80. iähriger Greis über seinen Büchern sterben, und eine Welt verlassen, in der er nie aufgehört hat ein Fremdling zu seÿn. Doch während der eine dem blutigen Lorbeer das häusliche Glück, Gesundheit u. Leben opfert, kämpft ein anderer mit sich selbst um Preise die noch ein höhere Welt verbirgt u. von beiden gibt es, was eben so schön als treffend der Dichter sagt: Sein erstes Bedürfen ist Milch, das letzte noch ein Stein, u. zwischen beiden ist ihm eine Welt zu klein.

 

 

 

   

 

Der vorliegende Abschnitt ist nicht betitelt und es ist nicht definitiv bekannt , auf welche Quelle sich Hebel bezieht. Möglicherweise philosophiert er hier tatsächlich im Zusammenhang mit den "Rerum vulgarium fragmenta", dt. 'Fragmente volkstümlicher Dinge', eine Sammlung von italienischen Sonetten und Kanzonen, in denen Petrarca seiner Liebe zu Laura und seiner Trauer über ihren Tod 1348 Ausdruck verleiht.

* Plane = Der Plural Plane (für gedankliche Vorhaben) ist in der Goethe-Zeit durchaus geläufig,
 ist auch bei ihm selbst zu finden.

** Vauclüse = Vaucluse, Departement in Süd-Frankreich, Hauptstadt Avignon

*** Laura de Noves, auch Laure de Sade, (* 1310 in Avignon; † 6. April 1348)
        war die Frau von Graf Hugues II. de Sade. Sie war möglicherweise die Laura,
 über die der Poet Francesco Petrarca schrieb.

**** Stanzen = Die Stanze (ital. stanza, „Raum“ im Sinne von: Gedanken Raum geben),
  auch: Oktave (ital. Ottava rima), ist eine aus Italien stammende Strophenform.
     Eine Stanze besteht aus acht Endecasillabi und hat das Reimschema [abababcc];
im Deutschen wird als Vers der jambische Fünfheber verwendet.

Im Autograph befindet sich links neben den ersten Zeilen eine Anmerkung,
gelesen als "Schweikh. Morstadt 1710. Jun. Pr.", die leider keine weiteren
 Informationen ermöglicht, ein Morstadt-Verlag wurde erst 1863 gegründet.

 

 

 

 

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