12 - 4.    Gedanken zu Ciceros Orator Konvolut 3 / Text

(Original ohne Titel,
Quelle im Text)

 

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4.

Viel Beherzigenswerthes enthält (in sich) die Abhandlung die Cicero unter dem Titel Orator hinterließ, nicht nur für die Kunst, sondern auch für das Leben. M. Antonius dessen Beredtsamkeit sein Zeitalter den ersten Preis zuerkent, behauptete er habe schon viele fertige Sprecher, aber noch keinen Redner gesehen. Es könte Zweifelhaft scheinen, ob er in diesem Urtheil mehr Anmaßung oder Bescheidenheit verrieth, wen nicht der eine, der alle seine Vorgänger durch Genie u. Kunst verdunkelte, keinen neben sich aufkomen ließ und für alle Nachfolger das Muster blieb, eben unser Cicero, ihm ein ehrenvolles Zeugniß gäbe und selber seinem Urtheil beipflichtete. Nicht genug daß Antonius den vollkomenen Redner nie gesehen hat, er hat noch nie gelebt; Es lag in der Seele des Mannes die Idee zu einer Beredtsamkeit der nichts fehlt, die kein Mensch erreichen, nur ein Gott realisiren kan. Nur wer ihr am nächsten komt ist der beste.
Wie wahr u. groß gedacht! Ist Hat nicht in ieder Classe der Vollkomenheiten, etwas unerreichtes u. erreichbares, nemlich dais Vollkomenher Vollkomene selber? Strebt nicht ieder große Geist, alles mittelmäßige verachtend, einzig  nach ihm? Wird Führt ein anderer Weg zum äußersten erreichbaren, als der zum hohen unzugänglichen Ziele aufsteigt? Verbirgt sich nicht darin mehr, als in irgend etwas unsere edle Natur? Nährt etwas anderes eben so kräftig unsere unsterblichen Hofnungen. Wem das irdische genügt, wen das unvollkomene ausfüllt, sollte der einer unendlichen Fortdauer würdig seÿn, u. im Ernst daran glauben.

 

 

 

   

 

Der Orator ist ein im Jahre 46 v. Chr. von Marcus Tullius Cicero verfasstes Lehrwerk über Rhetorik. Es ist in Form eines Briefes an den späteren Caesarmörder Marcus Iunius Brutus geschrieben und ganz auf diesen zugeschnitten. Mit De inventione und De oratore gehört es zu den wichtigsten Werken Ciceros über die Redekunst. Es zeichnet das Bild des idealen Redners, dessen universale Bildung vorausgesetzt wird, und es betont die vorrangige Bedeutung des sprachlichen Ausdrucks in seiner ganzen Fülle (elocutio).

 

 

 

 

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