Flemmer: |
Nein,
und da beginnt ja in Karlsruhe zusammen mit seiner Arbeit am
Gymnasium der zweite Auftrag von Hebel. Wie kam es dazu? Wie wurde
Hebel zu einem Kalendermann? Denn das hatte ja etwas mit diesem
Gymnasium zu tun. |
Frühwald: |
Ja, er
hat im Grunde genommen ein unverlangtes Gutachten über diesen
Kalender geschrieben. |
Flemmer: |
Zunächst einmal war es ja doch so, dass dieses Gymnasium das Recht
hatte, diese Kalender betreuen und herausbringen zu dürfen. |
Frühwald: |
Ja, und
das war natürlich eine gute Einnahmequelle für dieses Gymnasium.
Dieser Kalender war ein wichtiges Instrument. Die
Kalenderliteratur war überhaupt ein wichtiges Instrument. Dieser
Kalender war ein wichtiges Instrument der Regierung zur Aufklärung
des Volkes. Das ging so weit, dass der badische Herzog 1798, wenn
ich das richtig im Gedächtnis habe, diesen Kalender sogar durch
Soldaten mit Gewalt hat verkaufen lassen. Die Bauern mussten sich
diesen Kalender kaufen, mussten darin lesen, mussten ihn sich
vorlesen lassen. |
Flemmer: |
Das war
also eine Art von Volkserziehung. |
Frühwald: |
Das war
ein echter volkserzieherischer Kalender. Aber dies hat Hebel nicht
mehr gewollt. Er hatte stattdessen gewollt, dass die Leute diesen
Kalender freiwillig lesen. Das kam also aus dem Gymnasium heraus,
wo dieser Kalender hergestellt worden ist. Und Hebel fand eben,
man könne ihn besser machen. |
Flemmer: |
Es gab
ja eine lange Tradition dieser Kalender: Nicht nur in Baden sind
sie zustande gekommen. Wenn man ganz weit zurückgreift, dann
könnte man in diesem Zusammenhang auch an Grimmelshausen denken,
der ja auch ein Kalendermacher gewesen ist und für die späteren
Generationen zum großen Vorbild wurde. Dieser Kalender jedoch in
Karlsruhe verkaufte sich nicht mehr allzu gut: Es ging bergab mit
ihm, die Beiträge schienen die Menschen nicht mehr zu
interessieren. Das war der Punkt, an dem sich Hebel einschalten
konnte. Sie haben dieses Gutachten bereits angedeutet, das er dann
geschrieben hat. |
Frühwald: |
Er hat
wirklich ein unverlangtes Gutachten, wie man diesen Kalender so
besser machen kann, dass er wieder eine hohe Auflage erreicht. Und
mit "hoher Auflage" meinte er wirklich eine hohe Auflage. |
Flemmer: |
40000
Stück hat er erreicht. |
Frühwald: |
Ja, das
war eine Auflage von 40000 bis 70000 Stück. Selbst der spätere
Kalender, als die Auflage dann zurückging, hatte immerhin noch
eine Auflage von 10000. Dann jammerte Hebel allerdings, dass von
10000 Exemplaren 6000 liegen bleiben. Und das war natürlich
schwierig. Man wollte also auf jeden Fall in eine Auflage von
vielen Tausend Stück hinein. So ein Kalender sollte wirklich
Lektüre für das Volk sein. Nachdem er dieses unverlangte Gutachten
geschrieben hatte, machte man ihn zum Redakteur dieses Kalenders –
was er freilich gar nicht gewollt hatte. |
Flemmer: |
Er hat
damit einen Auftrag, den er nicht gewollt hat. Und von heute auf
morgen wird er zu einem Dichter, von dem einzelne Stücke –
mindestens drei oder vier – zur Weltliteratur zählen. |
Frühwald: |
Und die
auch in alle Sprachen der Welt übersetzt worden sind. |
Flemmer: |
Richtig. Wo hatte er denn seinen Stoff her? |
Frühwald: |
Dieser
Stoff ist ihm erzählt worden, dieser Stoff ist aus naturkundlichen
Büchern entnommen, dieser Stoff ist vielen anekdotischen Kalendern
entnommen worden usw. Er hat also eine große Fülle von Literatur
für seinen Kalender aufgenommen. Und der größte Teil dieser
Erzählungen, dieser kurzen Geschichten, ist ja nicht inhaltlich
von ihm erfunden worden. Nein, er war der Redakteur dieser
Geschichten! Er hat sie "lediglich" in eine neue und, wie man fast
sagen muss, klassische Form gegossen. Als Beispiel dienen hierfür
meinetwegen "Kannitverstan" oder auch "Unverhofftes Wiedersehen",
was ja wahrscheinlich den Höhepunkt dieser Geschichten darstellt.
Das ist ein so bedeutender Text geworden durch Hebels Sprache,
dass man sagen muss: Damit ist er wirklich in die Weltliteratur
eingegangen. |
Flemmer: |
Das
waren z. T. einfach nur Zeitungsnotizen, die er aufgegriffen hat. |
Frühwald: |
Anekdoten und kurze Berichte. |
Flemmer: |
Berichte über einen Unglücksfall, über ein Polizeigeschehen usw.
Und er macht dann daraus eine phantastische Geschichte. Seine
Geschichten haben ja auch Wirkungen gezeigt. Kafka, Brecht usw.
haben von ihm zwar nicht abgekupfert, aber doch immerhin gelernt,
wie man solche Geschichten aufbaut. Dies ist wirklich von Hebels
Zeitgenossen bis in unsere Gegenwart hinein zu verfolgen. |
Frühwald: |
Er hat
das, was die Romantiker wollten, geschafft: das Ohr des Volkes zu
erreichen.
|
Flemmer: |
Was den
Romantikern freilich nie gelungen ist. |
Frühwald: |
Ja,
weil sie immer zu artifiziell geblieben sind. Das ist diesem
einfachen Johann Peter Hebel mit ganz einfachen Geschichten, die
trotzdem tiefgründig sind, gelungen. |
Flemmer: |
Nehmen
wir einfach mal zwei solcher Geschichten heraus, vielleicht die
Geschichte "Kannitverstan"... |
Frühwald: |
Wir
müssten davor vielleicht noch eine bestimmte Stelle im Leben
dieses Johann Peter Hebel besprechen. Denn diese
Kalendergeschichten wurden dann plötzlich von einem Verleger für
die Gebildeten entdeckt.
|
Flemmer: |
Ja, der
Verleger Cotta hat gesagt: "Daraus machen wir ein Buch!" |
Frühwald: |
Und das
hat den Hebel natürlich ungeheuer fasziniert: seine Geschichten,
die er im Grunde genommen für die Bauern, für die Menschen vom
Land geschrieben hat, nun in einem Buch den Gebildeten vortragen
zu können. Diese Sammlung hieß dann eben "Das Schatzkästlein des
rheinischen Hausfreunds". |
Flemmer: |
Vorher
hieß der Kalender "Der rheinländische Hausfreund". |
Frühwald: |
Dieses
spätere Buch ist ja ganz genau komponiert. Es beginnt im Grunde
genommen mit der Erzählung und dem Bericht des Weltalls und endet
mit dem "Unverhofften Wiedersehen". Angehängt ist dann noch die
Geschichte von Andreas Hofer, dem Rebellen. |
Flemmer: |
Eine
tolle Geschichte! Wie er diesen Andreas Hofer bewertet, das gibt
es sonst nirgendwo. |
Frühwald: |
Ja,
nämlich völlig anders als ihn seine Zeitgenossen bewertet haben.
Aber dieses "Unverhoffte Wiedersehen" bildet eigentlich den
Abschluss dieses Buchs. Es geht also vom Firmament und dem Weltall
bis dorthin, wo der Mensch eine Ahnung davon bekommt, dass auch er
zu diesem Weltall gehört, nämlich im "Unverhofften Wiedersehen".
So ist dieses Buch "Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes"
komponiert. |
Flemmer: |
Und als
Buch ist es dann wirklich ein Hausbuch geworden, ein Hausbuch über
die Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg, wie man heute wohl sagen
darf. In diesem Buch sind ein paar Geschichten drin, die wirklich
zur Weltliteratur geworden sind. Beginnen wir mal mit der
Geschichte "Kannitverstan". Wollen Sie etwas daraus zitieren oder
doch zumindest kurz skizzieren, worum es darin geht? |
Frühwald: |
Ich
würde zu gerne vorher noch erzählen, was der Canetti darüber
gesagt hat. Canetti ist ja in Bulgarien geboren worden, in
Rustschuk: In seiner Familie wurde Spanisch und Italienisch
gesprochen. Nur dann, wenn die Eltern im Gespräch miteinander von
den Kindern nicht verstanden werden wollten, haben sie Deutsch
gesprochen. Und dieser Elias Canetti sagt: "Mit der Erfahrung 'Kannitverstans',
als die Eltern in einer mir unbekannten Sprache zueinander
redeten, hatte mein Leben begonnen. Und was sich im Unverständnis
einzelner Gelegenheiten erhöhte: das wunderschöne Haus mit den
Fenstern voll Tulipanen, Sternblumen und Levkojen, die Reichtümer,
die das Meer ans Land schwemmt, der große Leichenzug mit den
schwarz vermummten Pferden – das hatte sich bei mir als Erhöhung
einer ganzen Sprache ausgewirkt." Deutsch hat er an diesem "Kannitverstan"
gelernt. |
Flemmer: |
Aber
nun müssen wir doch etwas zu dieser Geschichte selbst sagen. Ein
junger Mann kommt darin nach Amsterdam, er deutet auf ein Gebäude,
auf ein Schiff usw. und fragt jedes Mal die umstehenden Leute, wem
das Gebäude, das Schiff usw. gehöre, und bekommt als Antwort immer
nur "Kannitverstan". Er denkt dann, das alles gehöre diesem
reichen Herrn Kannitverstan, diese Häuser, Werften, Schiffe usw.
|
Frühwald: |
An sich
gab es diese Geschichte auch schon vor Hebel. Da ging es immer um
die Antwort "Kannitverstan", also "ich kann nicht verstehen". Das
ist diese Antwort, die man jenem sehr naiven Reisenden in all
diesen Vorlagen gegeben hat. Dieser naive Reisende meint nun aber,
das sei ein Eigenname, dieses "Kannitverstan", es handle sich also
um einen "Herrn Kannitverstan". Die Geschichte geht also so: Der
naive Reisende sieht diese prächtigen Häuser und fragt die Leute,
wem diese Häuser gehören. Man antwortet ihm "Kannitverstan". Er
sieht die Schiffe, die ausgeladen werden, und fragt, wem diese
Schiffe gehören. Er bekommt erneut die Antwort "Kannitverstan".
Und ganz am Schluss sieht er eben diesen Leichenzug. |
Flemmer: |
Zitieren Sie doch bitte diese letzten Sätze, in denen Hebel diesen
ganz großen Bogen schließt. |
Frühwald: |
"'Armer
Kannitverstan,' rief er aus, 'was hast du nun von allem deinem
Reichtum? Was ich einst von meiner Armut auch bekomme: ein
Totenkleid und ein Leintuch, und von allen deinen schönen Blumen
vielleicht einen Rosmarin auf die kalte Brust oder eine Raute.'
Mit diesem Gedanken begleitete er die Leiche, als wenn er dazu
gehörte, bis ans Grab, sah den vermeinten Herrn Kannitverstan
hinabsenken in seine Ruhestätte und ward von der holländischen
Leichenpredigt, von der er kein Wort verstand, mehr gerührt als
von mancher deutschen, auf die er nicht achtgab. Endlich ging er
leichten Herzens mit den andern wieder fort, verzehrte in einer
Herberge, wo man Deutsch verstand, mit gutem Appetit ein Stück
Limburger Käse, und wenn es ihm wieder einmal schwer fallen
wollte, dass so viele Leute in der Welt so reich seien und er so
arm, so dachte er nur an den Herrn Kannitverstan in Amsterdam, an
sein grosses Haus, an sein reiches Schiff und an sein enges Grab."
|
Flemmer: |
Das ist
einfach genial! Was da zusammenkommt in ganz einfachen Sätzen! |
Frühwald: |
Das ist
deswegen genial, weil es die Zufriedenheitsphilosophie der Zeit
zusammenfasst: Du kannst so reich sein, wie du willst, am Schluss
liegen wir alle in einem engen Grab. |
Flemmer: |
Aber
auch dieser Humor! Er verzehrt seinen Limburger Käse: Dass dann
eben auch noch dieser Gedanke drin ist, das ist phantastisch. Man
kann also auch darüber lachen, sich darüber freuen. |
Frühwald: |
Ja, das
ist schon eine Art von schwarzem Humor. Wenn man dieses
"Schatzkästlein des rheinischen Hausfreunds" durchliest, dann wird
einem ja Angst. Denn das ist keine Idylle, die da beschrieben
wird, und es gibt auch keinen erhobenen Zeigefinger zu sehen,
sondern es sind eigentlich Grotesken, die er darstellt: die
Groteske des normalen Lebens. Er sagt uns: "All so geht es zu in
der Welt!" Das ist fast wie bei Grimmelshausen und in dieser
Tradition steht Hebel wohl wirklich. |
Flemmer: |
Er
beschreibt Lebensumstände, die jedem begegnen können. Da geht es
nicht nur um das Leben der hohen Stände oder um ganz komplizierte,
komplexe Lebensumstände. Nein, das ist Alltag. Und der Prediger in
ihm ist halt der Kalendermacher und der Kalendermacher ist der
bessere Prediger, der von Haus zu Haus geht und in die Fenster
schaut, wie er an einer Stelle mal geschrieben hat. |
Frühwald: |
Ja, von
seinen historischen und bedeutenden Zeitgenossen hat er eigentlich
nur ganz, ganz wenige in seinen Geschichten vorkommen lassen: Das
ist zum einen Moses Mendelssohn. Die Literaturwissenschaftlerin
Hannelore Schlaffer hat das sehr schön dargestellt: Mendelssohn,
das ist der Weise. Dann gibt es den russischen Feldmarschall
Suwarow, der eigentlich ein Narr ist. Dann gibt es Napoleon, den
Hebel sehr schätzt und den er als den gütigen Kaiser bezeichnet
und da sind noch einige wenige andere Menschen, die in seiner Zeit
hervorragen. Aber im Grunde genommen kommen bei ihm nur ganz
wenige historische Personen vor. Und es kommt noch der Rebell mit
hinzu: der Andreas Hofer, der dann auch entsprechend seinem
Rebellendasein endet. |
Flemmer: |
Das
"Unverhoffte Wiedersehen": Das ist eine Geschichte, die in der
deutschen Literatur immer wiedergekehrt ist. Denn sie ist ja nicht
nur von Hebel behandelt worden. Aber von ihm wohl in der
eindrucksvollsten Form. Worum geht es in dieser Geschichte? |
Frühwald: |
Er hat
sie in der eindrucksvollsten Form gestaltet, weil sie von ihm in
der kürzesten Form gestaltet worden ist. E.T.A Hoffmann hat diese
Geschichte ebenfalls bearbeitet, Hugo von Hofmannsthal und viele
andere. Es geht in dieser Geschichte eigentlich nur um Folgendes:
Ein junges Hochzeitspaar hat den Hochzeitstermin bereits
festgesetzt und der Mann, ein Bergmann, muss einige Tage vorher
wieder einfahren in den Berg. Dort wird er jedoch verschüttet und
kehrt nicht wieder zurück. Als gut 50 Jahre später ein neuer
Stollen gegraben wird, findet man seine völlig unversehrte Leiche:
Sie ist in Vitriol getränkt, sodass sie sich über die Jahrzehnte
hinweg erhalten hat. Und als man diese Leiche ans Tageslicht
befördert, kommt ein steinaltes Mütterlein vorbei, sinkt vor
dieser Leiche auf die Knie und küsst sie und sagt: "Das ist mein
Bräutigam, der gestern erst eingefahren ist!" Und dann bekommt
dieser Mann ein neues Grab und dabei finden sich am Ende dieser
Geschichte die wunderschönsten Worte überhaupt. |
Flemmer: |
Sie
sagt, sie würde ihm ohnehin bald folgen, sodass sie dann endlich
beisammen seien. Aber alleine schon der Anfang dieser Geschichte:
"In Falun in Schweden küßte vor guten fünfzig Jahren und mehr ein
junger Bergmann seine junge, hübsche Braut und sagte zu ihr: 'Auf
Sankt Luciä wird unsere Liebe von des Priesters Hand gesegnet.'" |
Frühwald: |
"'Dann
sind wir Mann und Weib und bauen uns ein eigenes Nestlein.' – 'Und
Friede und Liebe soll darin wohnen', sagte die schöne Braut mit
holdem Lächeln, 'denn du bist mein einziges und alles, und ohne
dich möchte ich lieber im Grab sein als an einem andern Ort.'" |
Flemmer: |
Dieses
Zusammendrängen: "In Falun in Schweden küßte..." Das ist Hebel! |
Frühwald: |
Das
sind die typischen Anfänge von Hebel. Es ist immer der ferne Ort.
Hebel ist ja einer, der in Gedanken mit den Menschen durch die
ganze Welt reist. Und er reist sogar bis zur Sonne hinaus. Er sagt
in dieser Beschreibung dieses Firmamentes: "Nun stell dir mal vor,
wie weit das entfernt ist!" |
Flemmer: |
Und er
rechnet es den Menschen sogar vor. |
Frühwald: |
Ja,
genau. Er sagt nämlich ungefähr so: "Wenn dort droben ein Kanonier
steht und seine Kanone auf dich richtet und diese Kanone auch
abschießt, dann kannst du in allem Frieden ein Haus bauen,
heiraten, Kinder kriegen, deine Kinder ein Handwerk lernen lassen,
deine Enkel aufwachsen sehen und die Kanonenkugel ist immer noch
nicht da!"
|
Flemmer: |
Das ist
das Besondere an ihm, wie er Zeit in Sprache umsetzt. |
Frühwald: |
Ja, das
ist seine Kunst, wie er diese Entfernungen dem beschränkten
Bewusstsein des Menschen seiner Zeit näher bringt. Und dieses
"Unverhoffte Wiedersehen" reicht sogar noch über diese Sphären
hinaus.
|
Flemmer: |
Man
muss ja nur einmal daran denken, wie er in dieser kurzen
Geschichte Zeitgeschichte ablaufen lässt: Da geht es vom Untergang
der Stadt Lissabon bis in die damalige Gegenwart. Das ist wirklich
eine geniale Passage. |
Frühwald: |
"Unterdessen wurde die Stadt Lissabon in Portugal durch ein
Erdbeben zerstört, und der Siebenjährige Krieg ging vorüber, und
Kaiser Franz der Erste starb, und der Jesuitenorden wurde
aufgehoben und Polen geteilt, und die Kaiserin Maria Theresia
starb, Amerika wurde frei, und die vereinigte französische und
spanische Macht konnte Gibraltar nicht erobern. Die Türken
schlossen den General Stein in der Veteraner Höhle in Ungarn ein,
und der Kaiser Joseph starb auch. Der König Gustav von Schweden
eroberte Russisch-Finnland, und die Französische Revolution und
der lange Krieg fing an, und der Kaiser Leopold der Zweite ging
auch ins Grab. Napoleon eroberte Preußen, und die Engländer
bombardierten Kopenhagen, und die Ackerleute säeten und schnitten.
Der Müller mahlte, und die Schmieden hämmerten, und die Bergleute
gruben nach den Metalladern in ihrer unterirdischen Werkstatt."
Das ist der Verlauf der Zeit: So geht die Zeit. |
Flemmer: |
Man ist
dabei und in wenigen Sätzen ist man informiert, wie man vielleicht
sogar sagen darf. Ich finde kaum einen Vergleich in der
Weltliteratur der damaligen Zeit, auch dann nicht, wenn man sich
sehr weit umblickt. Finden Sie da Vergleiche? |
Frühwald: |
Nein,
das ist ein halbes Jahrhundert, das uns da Hebel in wenigen Zeilen
vorsetzt. Das ist eine klassische Kurzgeschichte: mit diesem
Beginn, wie wir ihn vorgelesen haben, und auch mit diesem Ende.
Aber 50 Jahre Zeit dann innerhalb dieser Geschichte auf zwei
Seiten zusammendrängen zu können, sodass jeder, der diese
Geschichte liest, diese 50 Jahre auch miterlebt, das ist große
Kunst. Denn Hebels zeitgenössische Leser haben diese 50 Jahre ja
in der Tat selbst miterlebt. Und dann schafft er es, dass wir den
Bräutigam vor uns sehen wie am ersten Tag. Das ist wirklich
ungeheuerlich: "...aber er öffnete den Mund nimmer zum Lächeln
oder die Augen zum Wiedererkennen, und wie sie ihn endlich von den
Bergleuten in ihr Stübchen tragen ließ, als die einzige, die ihm
angehöre und ein Recht an ihn habe, bis sein Grab gerüstet sei auf
dem Kirchhof. Den andern Tag, als das Grab gerüstet war auf dem
Kirchhof und ihn die Bergleute holten, schloß sie ein Kästlein
auf, legte ihm das schwarzseidene Halstuch mit roten Streifen um
und begleitete ihn in ihrem Sonntagsgewand, als wenn es ihr
Hochzeitstag und nicht der Tag seiner Beerdigung wäre. Denn als
man ihn auf dem Kirchhof ins Grab legte, sagte sie: 'Schlafe nun
wohl, noch einen Tag oder zehn im kühlen Hochzeitbett, und laß dir
die Zeit nicht lang werden. Ich habe nur noch wenig zu tun und
komme bald, und bald wirds wieder Tag. Was die Erde einmal
wiedergegeben hat, wird sie zum zweiten Male auch nicht behalten',
sagte sie, als sie fortging und noch einmal umschaute." |
Flemmer: |
Tja, da
bleibt einem die Sprache weg, wenn man das liest. |
Frühwald: |
Das ist
der wirkliche Glaube an die Auferstehung und damit schließt sich
dieser berühmte Kreis, der mit der Beschreibung von Sonne, Mond
und Sternen begonnen hat und mit dem Tod eines Menschen endet,
dessen geliebte Frau als uraltes Mütterlein zu ihm sagt: "Was die
Erde einmal wiedergegeben hat, wird sie zum zweiten Mal auch nicht
behalten!" |
Flemmer: |
Das
Erstaunliche ist ja, dass mit dem Kalendermachen, mit dem
"Schatzkästlein" diese Prosaarbeit von Hebel einfach zu Ende
gegangen ist: Es kommt nichts nach. Es kommen nur noch die
biblischen Geschichten nach.
|
Frühwald: |
Er mag
eigentlich nicht mehr. Er mag vor allem deswegen nicht mehr, weil
ihm eben auch religiöses Ungemach geschehen ist. Da gab es von ihm
diese Geschichte vom "frommen Rat". Eigentlich war das nur eine
ganz harmlose Geschichte: Es kommen auf einen jungen Mann von zwei
Seiten Prozessionen mit Monstranzen entgegen und er fragt: "Vor
welcher Monstranz soll ich jetzt niederknien?" Der Geistliche sagt
ihm: "Du sollst vor deinem Herren dort oben niederknien!" Dagegen
haben engstirnige Katholiken dieser Zeit protestiert, sodass diese
Geschichte aus dem Kalender herausgenommen werden musste. Das hat
ihm das ganze Kalendermachen regelrecht verleidet. Man muss aber
auf der anderen Seite schon auch sehen, wie seine späteren
Geschichten von 1813, 1814, 1815 und 1819 sind. |
Flemmer: |
Er ist
müde geworden. |
Frühwald: |
Ja, er
ist müde geworden: Sie haben nicht mehr die Kraft dieser frühen
Geschichten der ersten Auflage des "Schatzkästleins" von 1811. |
Flemmer: |
Er hat
sich dann später bemüht, die biblischen Geschichten für Kinder
nachzuerzählen. Er hat dabei auch bestimmte Deutungen an der Bibel
vorgenommen: Er hat bestimmte Dinge wie z. B. die Opferung Isaaks
weggelassen oder auch die Geschichte von David in der Löwengrube.
|
Frühwald: |
Ja, es
kommt da ein rationalistischer Zug hinein. |
Flemmer: |
Es geht
ihm auch hier wieder um Aufklärung. |
Frühwald: |
Ja, es
ist wirkliche Aufklärung. Das ist im Grunde genommen Aufklärung
mit rationalistischer Bibelauslegung. Aber das gehörte ja nun
einmal zu seinem Beruf als Pfarrer. Er hat dabei auch mit dem
katholischen Generalvikar Ignaz Heinrich von Wessenberg
zusammengearbeitet, der in jenen Tagen ein bedeutender Reformer
gewesen ist. Er hat also im Grunde den Frieden der Konfessionen
bewahrt und war wohl auch besonders erbost, weil der päpstliche
Nuntius gegen diese harmlose Geschichte vom "frommen Rat"
Einspruch erhoben hat. Denn Hebel hat in der Tat Frieden
gestiftet. |
Flemmer: |
Er
hatte ja auch wesentlichen Anteil an der Vereinigung der
lutherischen und der reformierten Kirche. |
Frühwald: |
Er hat
Konfessionsfrieden, aber auch Frieden unter den Ständen, Frieden
unter den Klassen gestiftet. Und dass man diese Geschichten bis
zum heutigen Tag in allen Ständen lesen kann und liest und dass
sie auch übersetzbar sind, macht seine Größe aus. Denn das sind ja
Geschichten, die wirklich in jede Sprache der Welt übersetzbar
sind. |
Flemmer: |
Vielen
Dank, Herr Professor Frühwald, für dieses Gespräch. Ihnen, liebe
Zuschauerinnen und Zuschauer, danke ich für Ihr Interesse.
|