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 Stationen der Literatur: Johann Peter Hebel

 
Alpha-Forum-extra: Stationen der Literatur:
Johann Peter Hebel

Prof. Dr. Wolfgang Frühwald

im Gespräch mit Dr. Walter Flemmer

   
Flemmer: Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, herzlich willkommen zu einem Gespräch über Johann Peter Hebel. Mein Gesprächspartner im Studio ist Professor Dr. Wolfgang Frühwald. Hebel, das ist die wohl seltsamste Station in der deutschen Literatur, der ungewöhnlichste Dichter. Man muss bei ihm den Dichter vielleicht sogar in Anführungszeichen setzen, denn er wollte nicht unbedingt Dichter werden. Aber mit ein paar Gedichten und ein paar Prosastücken hat sich dieser seltsame Mann in die Weltliteratur hinein katapultiert. Man muss sagen, dass er einer der wenigen Autoren ist, für die man sowohl Zehnjährige wie auch Achtzigjährige als Publikum gewinnen kann. Denn beide Altersgruppen können sich an den Geschichten aus dem "Rheinländischen Hausfreund" erfreuen. Wo fing denn das bei ihm an? In welchem Humus ist denn das alles zustande gekommen?
Frühwald: Das Ganze heißt "Großherzogtum Baden", er ist ein Badener Dichter. Das heißt, er ist in einem ganz kleinen Land groß geworden und musste dort auch sein Leben lang bleiben. Er ist, wie Sie richtig gesagt haben, ein Dichter wider Willen geworden. Denn er wollte viel lieber Pfarrer sein: Er hätte gerne Seelsorge in einer Gemeinde betrieben, aber er musste zusehen, er musste wirklich von außen zusehen, wie er immer höher stieg und im Endeffekt so etwas wie ein badischer Landesbischof wurde.
Flemmer: Und dann kam er sogar noch in den Landtag.
Frühwald: Ja, er kam als Prälat der badischen Kirche sogar im Landtag an und war dort Mitglied. Aber er hat die Fühlung für das Volk nicht verloren. Und er hat das, was er das Volk gelehrt hat, was er gepredigt hat, dann im Grunde genommen auch auf die Gebildeten übertragen. Und deswegen können heute in der Schule die Zehnjährigen genauso gut etwas mit seinen Texten anfangen wie große Dichter, z. B. Elias Canetti, und überhaupt alle gebildeten Menschen.
Flemmer: Er hat ja lange warten müssen, bis er ins Amt gekommen ist. Das hing vielleicht auch damit zusammen, dass er ein ziemlich schlechtes Examen gemacht hatte. Begonnen hat sein Leben ja in Basel: Dort ist er im Jahr 1760 zur Welt gekommen, 1826 ist er gestorben. Es ist nie über diesen kleinen Kreis hinausgekommen: Sein Vater war ein Leinenweber.
Frühwald: Sein Vater starb allerdings bereits, als Johann Peter Hebel ein Jahr alt war.
Flemmer: Sein Vater starb an Typhus, ebenso wie seine kleine Schwester, die wohl auch an dieser Krankheit zugrunde gegangen ist. Es blieb ihm dann nur noch seine Mutter: Hebel war ein Mutterkind wie so viele Dichter, die sich ebenfalls an die Mutter halten mussten. Aber auch seine Mutter starb bald.
Frühwald: Er hat gute Erinnerungen an seine Mutter bewahrt.
Flemmer: Sie taucht auch immer wieder auf in seinen Werken.
Frühwald: Das stimmt. Es ist ja bestimmt auch ein schreckliches Erlebnis für ein Kind, wenn in so einer Situation dann auch noch die Mutter stirbt. Hebel war 13 Jahre alt, als seine Mutter auf einer Reise starb: Diese Reise verlief im Grunde genommen auf einem Ochsenkarren und genau darauf ist ihm dann auch seine Mutter gestorben. Ich glaube, eine solche Traumatisierung verwindet ein Kind sein ganzes Leben lang nicht. Und in allen Hebel-Biographien wird immer wieder auf diesen Tod im Beisein des Dreizehnjährigen hingewiesen.
Flemmer: Hebel ist davor ja quasi nach Basel zurückgerufen worden, weil seine Mutter zum Sterben zurückkehren wollte: nämlich ins Wiesental in den Ort Hausen. Ein Verwandter kam daraufhin mit dem Ochsenkarren nach Basel, man lud die Mutter auf diesen Karren und dann hat dieser Dreizehnjährige das Sterben seiner Mutter in all seinen Phasen miterlebt auf dieser Reise. Wir werden später eines der ganz großen Gedichte zu besprechen haben, das Gedicht "Die Vergänglichkeit", das ja Bezug nimmt auf den Ort, nicht auf das Ereignis.
Frühwald: Auf den Ort. Das ist ein Gedicht über die letzten Dinge, über das Eschaton des Lebens. Und es geht darum, ob dieses wunderschöne Basel, das da dem Sohn und dem Vater erscheint, eines Tages auch zerstört werden wird – so wie die Welt in Feuer aufgehen wird, so wird auch von diesem Basel nichts mehr übrig bleiben.
Flemmer: Dieses Gedicht entfaltet sich ja in grandiosen Bildern: im Gespräch zwischen einem Buben und seinem Vater. Auch diese beiden sitzen auf einem Gefährt und sprechen über die letzten Dinge.
Frühwald: Sie sprechen über die Vergänglichkeit.
Flemmer: Bleiben wir doch kurz bei diesem Gedicht, man muss es wohl zitieren. Es ist in alemannischer Mundart geschrieben. Das Phänomenale an diesem Dichter ist ja wohl, dass er die Mundart in eine Höhe hinaufgeschrieben hat wie kein anderer. Man muss bei ihm wirklich in der Mundart bleiben, denn alle Versuche, seine alemannischen Gedichte ins Hochdeutsche zu übertragen, sind ja gescheitert. Die Bearbeitung von Reinick, der das mal mit Illustrationen von Richter versucht hat, verkitscht sein Werk im Grunde genommen.
Frühwald: Das sind schlicht Übersetzungen.
Flemmer: Ja, das ist dann in der Tat eine Übersetzung. Man hat das bis in unsere Tage hinein versucht, z. B. in einer Reihe bibliophiler Taschenbücher, als man das noch einmal nachgedruckt hat. Aber in diesen Übersetzungen ist dann eben auch alles verschwunden vom Duft dieser unglaublichen Sprache, dieser Bodennähe, dieses Heimatgefühls, das bei ihm echt ist.
Frühwald: Er war der Begründer der Dialektliteratur im 19. Jahrhundert. Die Schwierigkeit ist natürlich, diesen Dialekt zu sprechen. Er hatte eine Freundin, vielleicht die einzige Frau, die er in seinem Leben geliebt hat, Henriette Hendel, hieß diese Schauspielerin...
Flemmer: ... die diese Gedichte rezitiert hat.
Frühwald: Ja, Hebel hat versucht, ihr diese Gedichte in seiner Mundart beizubringen. Aber die Freunde von Hebel sagten, sie habe das allerliebst und anmutig gemacht, aber wer diese Mundart spreche, der habe sofort erkannt, welche Fehler in der Aussprache lagen. Ich bin ein Schwabe, aber ich bin ein Lech-Schwabe.
Flemmer: Das ist bereits ein Unterschied.
Frühwald: Ja, dieses Lech-Schwäbisch ist wirklich sehr verschieden vom alemannisch-badischen Dialekt von Hebel. Es ist daher selbst für mich sehr schwierig, diesen Dialekt zu sprechen. Verstehen kann ich ihn gut, aber ihn zu sprechen fällt mir schwer. Wenn man das wagt, dann wirkt man auf einen Menschen, der diesen Dialekt wirklich beherrscht, sehr leicht lächerlich, weil er sagt: "Das ist völlig ausgeschlossen, so spricht man das nicht aus!"
Flemmer: Aber in diesen Gedichten ist so viel Musik drin: Als Lech-Schwabe könnten Sie es ja zumindest versuchen.
Frühwald: Die schönste Stelle in diesem Gedicht ist vielleicht die Stelle, wo dieser Vater darauf hinweist, was wohl im Jahre 2000 sein werde. Das Jahr 2000 ist nun schon vorbei, aber in diesem Gedicht heißt es: "Z'lezt fuults im Fundement, / und 's hilft nüt meh. Und wemme nootno gar / zweytusig zehlt, isch alles z'semme g'keit. / Und 's Dörfli sinkt no selber in si Grab. / Wo d'Chilche stoht, wo 's Vogts und 's Here Hus, / goht mit der Zit der Pflug." Es gibt einen deutschen Büchnerpreisträger, der diese Mundart spricht, das ist Arnold Stadler. Auch er hat eine Übersetzung dieses Gedichts versucht. Sie lautet: "Zuletzt wird es im Fundament faulen, umsonst. Und wenn man dann einmal gar das Jahr 2000 zählt, ist alles zusammengefallen und das kleine Dorf wird dann selbst ins Grab sinken. Da, wo die Kirche steht, da, wo das Haus des Bürgermeisters und das Pfarrhaus stehen, wird dann einmal der Pflug gezogen werden." Ich glaube, das ist die einzige Art und Weise, wie man das übersetzen kann: in eine Prosa-Paraphrase.
Flemmer: Das ist eine Übersetzung in die Prosa, aber das klingt dann nicht mehr, es lebt nur noch bedingt. Man muss dabei ja auch an folgende schöne Episode denken. Goethe in einer Zusammenkunft hört die Rezitation eines Gedichts, eines alemannischen Gedichts von Hebel, und dann sagt jemand in diesem Kreis, er würde das nicht verstehen und dass dieses Gedicht daher übersetzt werden müsse. Goethe wehrt sich aber vehement dagegen und sagt: "Einen solchen Dichter muss man im Original lesen! Dann muss man halt diese Sprache lernen!" Das trifft wohl wirklich zu. Goethe war ja überhaupt einer derjenigen, der diese alemannischen Gedichte sehr positiv besprochen hat.
Frühwald: Ja, Goethe und Jean Paul! Goethe hat gesagt, dieser Mann, also Johann Peter Hebel, habe das Universum verbauert. Goethe hat dieses Wort "verbauert" in Anführungszeichen gesetzt. Er meinte damit, Hebel habe mit seinen Gedichten das All und den Kosmos wirklich dem Bauern und dem Verständnis des bäuerlichen Volkes näher gestellt. Und es ist schon ungeheuerlich, wie man durch die Beschreibung der Planeten, der Erde, der Sonne, der Milchstraße dann plötzlich auf das Leben der Menschen, die den Pflug ziehen, kommt: "... goht mit der Zit der Pflug." Das man so etwas zusammenbringen kann, das ist dem Johann Peter Hebel gelungen. Und Walter Benjamin, der ja viel mit Mundart zu tun hatte, meinte einmal: Diese Spannung zwischen dem Inhalt, dem kräftigen eschatologischen Inhalt und der mundartlichen Form bringe im Grunde die Mauern ins Wanken, die zwischen den Ständen und zwischen den Klassen existieren, sodass Hebel ein Mann des ganzen Volkes, der Gebildeten wie der Ungebildeten, der Hochstehenden wie der Niedrigen geworden ist.
Flemmer: Es gibt in diesem Zusammenhang ja noch eine schöne Szene, die Carl Jacob Burckhardt beschreibt. Diese Szene spielt in Paris: Rilke ist mit ihm zusammen dort und jemand stellt die Frage, ob denn die Deutschen auch jemanden hätten, der so volkstümlich, so verständlich wie Lafontaine sei. Und dann fällt der Name Johann Peter Hebel. Und jemand zitiert das Gedicht "Das Gewitter": " Der Vogel schwankt so tief und still. / er weiß nit, woner ane will. / Es chunnt so schwarz, und chunnt so schwer, / und in de Lüfte hängt e Meer / voll Dunst und Wetter. Los, wie's schallt / am Blauen, und wie's widerhallt..." Rilke will dieses Gedicht übersetzt bekommen, aber dann ist alle Melodie aus diesem Gedicht weg. Rilke muss zur Kenntnis nehmen, dass solche Sachen in der Mundart bleiben müssen.
Frühwald: Ja, und das war natürlich nicht nur Rilke. Es waren viele, viele andere große Maler, Bildhauer, Holzschneider, Dichter wie Elias Canetti, die für diesen Hebel durchs Feuer gegangen sind. Elias Canetti z. B. hatte von den "Kalendergeschichten" von Johann Peter Hebel eine stenographierte Ausgabe, eine in Gabelsberger Stenographie gestaltete Ausgabe. Canetti hat also Stenographie an Johann Peter Hebel gelernt! Und zwar an der Geschichte von "Kannitverstan". Sein ganzes Leben ist er bei Hebel geblieben.
Flemmer: Bleiben wir noch ein Stückchen bei den alemannischen Gedichten. Man muss in diesem Zusammenhang ja auch darüber reden, welch sensationeller Erfolg sie geworden sind: Hebel hat Zeit seines Lebens fünf Auflagen davon erleben dürfen! Aber lassen Sie uns auch einen Blick werfen in dieses enge Leben, das man bereits mit ganz wenigen Stationen beschreiben kann. Es ging von Basel nach Lörrach und in ein paar andere Orte während seiner Gymnasialzeit. Und letztlich war es eben so, dass damals die badischen Schüler nach Erlangen zum Theologiestudium geschickt wurden. Dort hat Hebel also Theologie studiert.
Frühwald: Dieses Theologiestudium war für ihn offensichtlich das gemäße Studium: Das wollte er! Predigen, das wollte er! Und er hat im Grunde auch Zeit seines Lebens gepredigt. Aber er hat sich dessen auch gar nicht geschämt und die biblischen Geschichten am Ende seines Lebens sind natürlich für den Unterricht mit Kindern und auch für den Predigtunterricht gestaltet. Aber nach diesem Theologiestudium, das er, wie Sie schon sagten, mit schlechten Noten abschloss, sodass er nicht sofort eine Anstellung bekommen hat, ist er dann doch langsam in diesen Pfarrerberuf hineingekommen.
Flemmer: Er war Hilfspfarrer, Vikar usw.
Frühwald: Ja, er war Hilfspfarrer und hat Seelsorge betrieben. Er ist Zeit seines Lebens unverheiratet geblieben. Große Liebesgeschichten sind aus seinem Leben nicht bekannt – wenn man von Henriette Hendel vielleicht einmal absieht.
Flemmer: Der Briefwechsel mit Gustave Fecht ist eigentlich kein Liebesbriefwechsel.
Frühwald: Das stimmt, das ist kein Liebesbriefwechsel. Er hat die Frauen geachtet, als gleichrangige Partnerinnen betrachtet...
Flemmer: Obwohl dieser Briefwechsel ja über Jahrzehnte ging.
Frühwald: Ja, auch mit Sophie Haufe war er gut befreundet. Geliebt hat er wahrscheinlich nur diese Henriette Hendel. Und das ist schon interessant: Ein bodenständiger Pfarrer liebt dieses bohemienhafte Geschöpf, das von Stadt zu Stadt zieht, dort seine Aufführungen hat und seine Pantomimen darstellt und Rezitationen macht. Er hat dieses Geschöpf wohl wirklich geliebt. Es war vermutlich im Jahr 1808, als er ihr in Karlsruhe zum ersten Mal begegnet ist, wo sie gerade auf Gastspiel war. Als diese Karlsruher Zeit beginnt, beginnt auch die eigentlich große Hebel-Zeit.
Flemmer: Er kam nach Karlsruhe und wurde dort Direktor eines Gymnasiums. Und er hat sich dort - das ist ja wohl die Geburt der alemannischen Gedichte und deswegen wollte ich unbedingt diese Verbindung herstellen - nach seiner Heimat gesehnt. Er hat daher dieses Wiesental in seinen Gedichten auferstehen lassen. Er ist mit diesen Gedichten mit einem Schlag als Dichter aufgetreten und bekannt geworden. Das ging eigentlich nur ein paar Jahre. Er hatte als junger Mensch natürlich auch antikisierende Verse geschrieben, die jedoch völlig unbedeutend geblieben sind. Aber mit einem Mal - aufgrund der Erinnerung und wegen seiner Sehnsucht, endlich wieder nach Hause zurückkehren zu dürfen - entsteht dann in Karlsruhe diese Dichtung.
Frühwald: Er hat natürlich profitiert von der damaligen Volksmode – und auch von der Volksliedmode –, die durch Herder und durch den jungen Goethe in der damaligen Literatur sehr stark geworden war. Auch deswegen hat ihn ja Goethe so geschätzt. Goethe hat ja auch selbst solche Schweizer Lieder aufgezeichnet. Er hat in ihm plötzlich einen Originaldichter gefunden, der bei seinen Gedichten hinsichtlich des Dialekts noch aus dem Vollen schöpfen konnte. Für alle diese Menschen ist der Dialekt ja eine zweite Sprache. Das ist eine Sprache wie eine Fremdsprache und wer den Dialekt und die Hochsprache voll beherrscht, der spricht zwei Sprachen. Die Fülle der Sprachmöglichkeiten ist vermutlich im Dialekt zu Hause und nicht in der Hochsprache. Und genau das hat Goethe bemerkt.
Flemmer: Goethe selbst hat ja den Frankfurter Dialekt sehr wohl beherrscht.
Frühwald: Ja, das alles hat er in seiner Rezension über die Gedichte Hebels beschrieben. Und das hat dann auch Jean Paul beschrieben: dass dieser Dichter ein großer Dichter ist, der zum Kanon der Weltliteratur in einer deutschen Sprache, in einer deutschen Dialektsprache gehört.
Flemmer: Dieser Johann Peter Hebel war ja ein durchaus gebildeter Mensch, der viel gelesen hat, der die antiken Autoren gelesen hat, der aber auch die Zeitgenossen gelesen hat. Er hat von Klopstock bis Goethe so gut wie alle rezipiert und hat wohl auch selbst Jean Paul sehr geschätzt.
Frühwald: Jean Paul war für alle diese Dichter bis tief in das Biedermeier hinein die eigentliche Vorlage, die eigentliche Quellenliteratur. Warum? Weil das ein Schreiben ist, das zu Herzen geht. Und auch aus einem weiteren Grund, das ist etwas, das Hebel wohl ebenfalls von Jean Paul gelernt hat: Die Verbindung zwischen der modernen Naturwissenschaft und dem ergriffenen Herzen im Anblick der Natur. Das kann man bei Jean Paul z. B. in seinem gewaltigen Text, "Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei", wirklich lernen. Und dieser Hebel ist ja auch jemand, der die Naturwissenschaft – nicht die Naturphilosophie – seiner Zeit voll rezipiert. Er hat sogar einmal Naturkundeunterricht gegeben, als Gmelin, der große Naturkundige, eine Vertretung braucht. Seine Vertretung war Johann Peter Hebel! "Das Schatzkästlein des rheinischen Hausfreunds", dieser große Texte von Johann Peter Hebel, beginnt ja auch mit einer Betrachtung des Himmelsgewölbes: mit Sonne, Mond und Sterne und mit der Größe der Sonne und mit der Entfernung der Sonne. All das wird in einer Sprache dargestellt, dass man das den Kindern heute noch vorlesen kann. Die Kinder bekommen dabei einen Eindruck von der Gewalt und der Wucht des Universums.
Flemmer: 1801/1802 hat er die alemannischen Gedichte wohl geschrieben. 1803 sind sie in der ersten Auflage erschienen und dann kamen immer wieder neue Auflagen hinzu. Haben denn die Zeitgenossen diesen Hebel missverstanden als Idylliker? Es scheint doch so zu sein, dass erst im 20. Jahrhundert deutlich geworden ist, welch untergründige, welch ernsthafte Lyrik hier geboren worden ist.
Frühwald: Ich fürchte, dieses Missverständnis reicht bis heute. Das hängt natürlich mit der schweren Zugänglichkeit dieses Dialekts zusammen. Aber die Unterbewertung, die Fehleinschätzung, Hebel sei ein Idylliker, reicht bis heute in die Literaturgeschichten hinein. Und weil er eben ein Autor für die Zehnjährigen und die Achtzigjährigen gewesen ist, hat man ihn ganz auf die Zehnjährigen reduziert. Ich glaube allerdings, es wäre auch für die Erwachsenen von Heute gut, wenn sie Hebel wiederentdecken würden.
Flemmer: Das ist ganz sicherlich so. Bleiben wir zunächst bei Hebels Station in Karlsruhe, denn er wird dort ja ein ganz wichtiger Mann. Man darf aber nicht vergessen, dass er in seiner Studentenzeit das Leben durchaus genossen hat, wie man sagen darf. Er war nicht der Verdruckste und sich immer nur im Hintergrund aufhaltende Einsame.
Frühwald: Nein, er war ein sehr lebenslustiger Mann, dieser Hebel. Er war ja auch in Studentenverbindungen Mitglied, die damals nicht gerne gesehen wurden von den Regierenden.
Flemmer: Sie würden, wie es damals hieß, in den Straßen lärmen usw.
Frühwald: Ja, er gehörte zu eben jenen Studenten, die zwar viel gelernt, aber auch ihre Freiheit genossen haben. Er hat das bis zum Ende seines Lebens beibehalten. Selbst als Prälat der badischen Kirche war er derjenige, der sich zumindest im Wort Freiheit bewahrt hat. In diesem Karlsruhe hat er jedoch nie besonders gerne gelebt. Man muss bedenken, dass das eine neue Stadt gewesen ist, die wohl erst 1715 gegründet worden war. Das war eine Kunststadt: Es gab damals in Karlsruhe also fast nichts historisch Gewachsenes: Das war einfach eine Stadt, die künstlich auf dem Reißbrett entstanden und auf die grüne Wiese gestellt worden war. Aber es ist ihm nie gelungen, aus Karlsruhe wegzukommen und das zu werden, was er eigentlich werden wollte, nämlich Pfarrer. Er ist dann halt in Gottes – für ihn vielleicht in drei Teufels – Namen in Karlsruhe geblieben.
Flemmer: Aber er ist dort eben auch von Stufe zu Stufe höher gestiegen. Er ist in der Karlsruher Gesellschaft auch anerkannt gewesen: Alle Türen standen ihm offen. Als Prälat und Abgeordneter hat er schließlich ein ganz hohes Ansehen genossen.
Frühwald: Dieses Ansehen hat er auch bis zum Ende seines Lebens beibehalten. Er ist noch relativ jung im Jahr 1826 auf einer Dienstreise gestorben. Er war zu diesem Zeitpunkt 66 Jahre alt, also noch nicht in einem besonders hohen Alter. Man hat in Karlsruhe schon gewusst, was man mit ihm verloren hat. Aber dieser Ruhm gründete sich dann eben nicht mehr nur auf die alemannischen Gedichte.
 
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Dr. Walter Flemmer  Dr. Walter Flemmer und  Stationen der Literatur: Johann Peter Hebel   Stationen der Literatur: Johann Peter Hebel
 
   
Flemmer: Nein, und da beginnt ja in Karlsruhe zusammen mit seiner Arbeit am Gymnasium der zweite Auftrag von Hebel. Wie kam es dazu? Wie wurde Hebel zu einem Kalendermann? Denn das hatte ja etwas mit diesem Gymnasium zu tun.
Frühwald: Ja, er hat im Grunde genommen ein unverlangtes Gutachten über diesen Kalender geschrieben.
Flemmer: Zunächst einmal war es ja doch so, dass dieses Gymnasium das Recht hatte, diese Kalender betreuen und herausbringen zu dürfen.
Frühwald: Ja, und das war natürlich eine gute Einnahmequelle für dieses Gymnasium. Dieser Kalender war ein wichtiges Instrument. Die Kalenderliteratur war überhaupt ein wichtiges Instrument. Dieser Kalender war ein wichtiges Instrument der Regierung zur Aufklärung des Volkes. Das ging so weit, dass der badische Herzog 1798, wenn ich das richtig im Gedächtnis habe, diesen Kalender sogar durch Soldaten mit Gewalt hat verkaufen lassen. Die Bauern mussten sich diesen Kalender kaufen, mussten darin lesen, mussten ihn sich vorlesen lassen.
Flemmer: Das war also eine Art von Volkserziehung.
Frühwald: Das war ein echter volkserzieherischer Kalender. Aber dies hat Hebel nicht mehr gewollt. Er hatte stattdessen gewollt, dass die Leute diesen Kalender freiwillig lesen. Das kam also aus dem Gymnasium heraus, wo dieser Kalender hergestellt worden ist. Und Hebel fand eben, man könne ihn besser machen.
Flemmer: Es gab ja eine lange Tradition dieser Kalender: Nicht nur in Baden sind sie zustande gekommen. Wenn man ganz weit zurückgreift, dann könnte man in diesem Zusammenhang auch an Grimmelshausen denken, der ja auch ein Kalendermacher gewesen ist und für die späteren Generationen zum großen Vorbild wurde. Dieser Kalender jedoch in Karlsruhe verkaufte sich nicht mehr allzu gut: Es ging bergab mit ihm, die Beiträge schienen die Menschen nicht mehr zu interessieren. Das war der Punkt, an dem sich Hebel einschalten konnte. Sie haben dieses Gutachten bereits angedeutet, das er dann geschrieben hat.
Frühwald: Er hat wirklich ein unverlangtes Gutachten, wie man diesen Kalender so besser machen kann, dass er wieder eine hohe Auflage erreicht. Und mit "hoher Auflage" meinte er wirklich eine hohe Auflage.
Flemmer: 40000 Stück hat er erreicht.
Frühwald: Ja, das war eine Auflage von 40000 bis 70000 Stück. Selbst der spätere Kalender, als die Auflage dann zurückging, hatte immerhin noch eine Auflage von 10000. Dann jammerte Hebel allerdings, dass von 10000 Exemplaren 6000 liegen bleiben. Und das war natürlich schwierig. Man wollte also auf jeden Fall in eine Auflage von vielen Tausend Stück hinein. So ein Kalender sollte wirklich Lektüre für das Volk sein. Nachdem er dieses unverlangte Gutachten geschrieben hatte, machte man ihn zum Redakteur dieses Kalenders – was er freilich gar nicht gewollt hatte.
Flemmer: Er hat damit einen Auftrag, den er nicht gewollt hat. Und von heute auf morgen wird er zu einem Dichter, von dem einzelne Stücke – mindestens drei oder vier – zur Weltliteratur zählen.
Frühwald: Und die auch in alle Sprachen der Welt übersetzt worden sind.
Flemmer: Richtig. Wo hatte er denn seinen Stoff her?
Frühwald: Dieser Stoff ist ihm erzählt worden, dieser Stoff ist aus naturkundlichen Büchern entnommen, dieser Stoff ist vielen anekdotischen Kalendern entnommen worden usw. Er hat also eine große Fülle von Literatur für seinen Kalender aufgenommen. Und der größte Teil dieser Erzählungen, dieser kurzen Geschichten, ist ja nicht inhaltlich von ihm erfunden worden. Nein, er war der Redakteur dieser Geschichten! Er hat sie "lediglich" in eine neue und, wie man fast sagen muss, klassische Form gegossen. Als Beispiel dienen hierfür meinetwegen "Kannitverstan" oder auch "Unverhofftes Wiedersehen", was ja wahrscheinlich den Höhepunkt dieser Geschichten darstellt. Das ist ein so bedeutender Text geworden durch Hebels Sprache, dass man sagen muss: Damit ist er wirklich in die Weltliteratur eingegangen.
Flemmer: Das waren z. T. einfach nur Zeitungsnotizen, die er aufgegriffen hat.
Frühwald: Anekdoten und kurze Berichte.
Flemmer: Berichte über einen Unglücksfall, über ein Polizeigeschehen usw. Und er macht dann daraus eine phantastische Geschichte. Seine Geschichten haben ja auch Wirkungen gezeigt. Kafka, Brecht usw. haben von ihm zwar nicht abgekupfert, aber doch immerhin gelernt, wie man solche Geschichten aufbaut. Dies ist wirklich von Hebels Zeitgenossen bis in unsere Gegenwart hinein zu verfolgen.
Frühwald: Er hat das, was die Romantiker wollten, geschafft: das Ohr des Volkes zu erreichen.
Flemmer: Was den Romantikern freilich nie gelungen ist.
Frühwald: Ja, weil sie immer zu artifiziell geblieben sind. Das ist diesem einfachen Johann Peter Hebel mit ganz einfachen Geschichten, die trotzdem tiefgründig sind, gelungen.
Flemmer: Nehmen wir einfach mal zwei solcher Geschichten heraus, vielleicht die Geschichte "Kannitverstan"...
Frühwald: Wir müssten davor vielleicht noch eine bestimmte Stelle im Leben dieses Johann Peter Hebel besprechen. Denn diese Kalendergeschichten wurden dann plötzlich von einem Verleger für die Gebildeten entdeckt.
Flemmer: Ja, der Verleger Cotta hat gesagt: "Daraus machen wir ein Buch!"
Frühwald: Und das hat den Hebel natürlich ungeheuer fasziniert: seine Geschichten, die er im Grunde genommen für die Bauern, für die Menschen vom Land geschrieben hat, nun in einem Buch den Gebildeten vortragen zu können. Diese Sammlung hieß dann eben "Das Schatzkästlein des rheinischen Hausfreunds".
Flemmer: Vorher hieß der Kalender "Der rheinländische Hausfreund".
Frühwald: Dieses spätere Buch ist ja ganz genau komponiert. Es beginnt im Grunde genommen mit der Erzählung und dem Bericht des Weltalls und endet mit dem "Unverhofften Wiedersehen". Angehängt ist dann noch die Geschichte von Andreas Hofer, dem Rebellen.
Flemmer: Eine tolle Geschichte! Wie er diesen Andreas Hofer bewertet, das gibt es sonst nirgendwo.
Frühwald: Ja, nämlich völlig anders als ihn seine Zeitgenossen bewertet haben. Aber dieses "Unverhoffte Wiedersehen" bildet eigentlich den Abschluss dieses Buchs. Es geht also vom Firmament und dem Weltall bis dorthin, wo der Mensch eine Ahnung davon bekommt, dass auch er zu diesem Weltall gehört, nämlich im "Unverhofften Wiedersehen". So ist dieses Buch "Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes" komponiert.
Flemmer: Und als Buch ist es dann wirklich ein Hausbuch geworden, ein Hausbuch über die Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg, wie man heute wohl sagen darf. In diesem Buch sind ein paar Geschichten drin, die wirklich zur Weltliteratur geworden sind. Beginnen wir mal mit der Geschichte "Kannitverstan". Wollen Sie etwas daraus zitieren oder doch zumindest kurz skizzieren, worum es darin geht?
Frühwald: Ich würde zu gerne vorher noch erzählen, was der Canetti darüber gesagt hat. Canetti ist ja in Bulgarien geboren worden, in Rustschuk: In seiner Familie wurde Spanisch und Italienisch gesprochen. Nur dann, wenn die Eltern im Gespräch miteinander von den Kindern nicht verstanden werden wollten, haben sie Deutsch gesprochen. Und dieser Elias Canetti sagt: "Mit der Erfahrung 'Kannitverstans', als die Eltern in einer mir unbekannten Sprache zueinander redeten, hatte mein Leben begonnen. Und was sich im Unverständnis einzelner Gelegenheiten erhöhte: das wunderschöne Haus mit den Fenstern voll Tulipanen, Sternblumen und Levkojen, die Reichtümer, die das Meer ans Land schwemmt, der große Leichenzug mit den schwarz vermummten Pferden – das hatte sich bei mir als Erhöhung einer ganzen Sprache ausgewirkt." Deutsch hat er an diesem "Kannitverstan" gelernt.
Flemmer: Aber nun müssen wir doch etwas zu dieser Geschichte selbst sagen. Ein junger Mann kommt darin nach Amsterdam, er deutet auf ein Gebäude, auf ein Schiff usw. und fragt jedes Mal die umstehenden Leute, wem das Gebäude, das Schiff usw. gehöre, und bekommt als Antwort immer nur "Kannitverstan". Er denkt dann, das alles gehöre diesem reichen Herrn Kannitverstan, diese Häuser, Werften, Schiffe usw.
Frühwald: An sich gab es diese Geschichte auch schon vor Hebel. Da ging es immer um die Antwort "Kannitverstan", also "ich kann nicht verstehen". Das ist diese Antwort, die man jenem sehr naiven Reisenden in all diesen Vorlagen gegeben hat. Dieser naive Reisende meint nun aber, das sei ein Eigenname, dieses "Kannitverstan", es handle sich also um einen "Herrn Kannitverstan". Die Geschichte geht also so: Der naive Reisende sieht diese prächtigen Häuser und fragt die Leute, wem diese Häuser gehören. Man antwortet ihm "Kannitverstan". Er sieht die Schiffe, die ausgeladen werden, und fragt, wem diese Schiffe gehören. Er bekommt erneut die Antwort "Kannitverstan". Und ganz am Schluss sieht er eben diesen Leichenzug.
Flemmer: Zitieren Sie doch bitte diese letzten Sätze, in denen Hebel diesen ganz großen Bogen schließt.
Frühwald: "'Armer Kannitverstan,' rief er aus, 'was hast du nun von allem deinem Reichtum? Was ich einst von meiner Armut auch bekomme: ein Totenkleid und ein Leintuch, und von allen deinen schönen Blumen vielleicht einen Rosmarin auf die kalte Brust oder eine Raute.' Mit diesem Gedanken begleitete er die Leiche, als wenn er dazu gehörte, bis ans Grab, sah den vermeinten Herrn Kannitverstan hinabsenken in seine Ruhestätte und ward von der holländischen Leichenpredigt, von der er kein Wort verstand, mehr gerührt als von mancher deutschen, auf die er nicht achtgab. Endlich ging er leichten Herzens mit den andern wieder fort, verzehrte in einer Herberge, wo man Deutsch verstand, mit gutem Appetit ein Stück Limburger Käse, und wenn es ihm wieder einmal schwer fallen wollte, dass so viele Leute in der Welt so reich seien und er so arm, so dachte er nur an den Herrn Kannitverstan in Amsterdam, an sein grosses Haus, an sein reiches Schiff und an sein enges Grab."
Flemmer: Das ist einfach genial! Was da zusammenkommt in ganz einfachen Sätzen!
Frühwald: Das ist deswegen genial, weil es die Zufriedenheitsphilosophie der Zeit zusammenfasst: Du kannst so reich sein, wie du willst, am Schluss liegen wir alle in einem engen Grab.
Flemmer: Aber auch dieser Humor! Er verzehrt seinen Limburger Käse: Dass dann eben auch noch dieser Gedanke drin ist, das ist phantastisch. Man kann also auch darüber lachen, sich darüber freuen.
Frühwald: Ja, das ist schon eine Art von schwarzem Humor. Wenn man dieses "Schatzkästlein des rheinischen Hausfreunds" durchliest, dann wird einem ja Angst. Denn das ist keine Idylle, die da beschrieben wird, und es gibt auch keinen erhobenen Zeigefinger zu sehen, sondern es sind eigentlich Grotesken, die er darstellt: die Groteske des normalen Lebens. Er sagt uns: "All so geht es zu in der Welt!" Das ist fast wie bei Grimmelshausen und in dieser Tradition steht Hebel wohl wirklich.
Flemmer: Er beschreibt Lebensumstände, die jedem begegnen können. Da geht es nicht nur um das Leben der hohen Stände oder um ganz komplizierte, komplexe Lebensumstände. Nein, das ist Alltag. Und der Prediger in ihm ist halt der Kalendermacher und der Kalendermacher ist der bessere Prediger, der von Haus zu Haus geht und in die Fenster schaut, wie er an einer Stelle mal geschrieben hat.
Frühwald: Ja, von seinen historischen und bedeutenden Zeitgenossen hat er eigentlich nur ganz, ganz wenige in seinen Geschichten vorkommen lassen: Das ist zum einen Moses Mendelssohn. Die Literaturwissenschaftlerin Hannelore Schlaffer hat das sehr schön dargestellt: Mendelssohn, das ist der Weise. Dann gibt es den russischen Feldmarschall Suwarow, der eigentlich ein Narr ist. Dann gibt es Napoleon, den Hebel sehr schätzt und den er als den gütigen Kaiser bezeichnet und da sind noch einige wenige andere Menschen, die in seiner Zeit hervorragen. Aber im Grunde genommen kommen bei ihm nur ganz wenige historische Personen vor. Und es kommt noch der Rebell mit hinzu: der Andreas Hofer, der dann auch entsprechend seinem Rebellendasein endet.
Flemmer: Das "Unverhoffte Wiedersehen": Das ist eine Geschichte, die in der deutschen Literatur immer wiedergekehrt ist. Denn sie ist ja nicht nur von Hebel behandelt worden. Aber von ihm wohl in der eindrucksvollsten Form. Worum geht es in dieser Geschichte?
Frühwald: Er hat sie in der eindrucksvollsten Form gestaltet, weil sie von ihm in der kürzesten Form gestaltet worden ist. E.T.A Hoffmann hat diese Geschichte ebenfalls bearbeitet, Hugo von Hofmannsthal und viele andere. Es geht in dieser Geschichte eigentlich nur um Folgendes: Ein junges Hochzeitspaar hat den Hochzeitstermin bereits festgesetzt und der Mann, ein Bergmann, muss einige Tage vorher wieder einfahren in den Berg. Dort wird er jedoch verschüttet und kehrt nicht wieder zurück. Als gut 50 Jahre später ein neuer Stollen gegraben wird, findet man seine völlig unversehrte Leiche: Sie ist in Vitriol getränkt, sodass sie sich über die Jahrzehnte hinweg erhalten hat. Und als man diese Leiche ans Tageslicht befördert, kommt ein steinaltes Mütterlein vorbei, sinkt vor dieser Leiche auf die Knie und küsst sie und sagt: "Das ist mein Bräutigam, der gestern erst eingefahren ist!" Und dann bekommt dieser Mann ein neues Grab und dabei finden sich am Ende dieser Geschichte die wunderschönsten Worte überhaupt.
Flemmer: Sie sagt, sie würde ihm ohnehin bald folgen, sodass sie dann endlich beisammen seien. Aber alleine schon der Anfang dieser Geschichte: "In Falun in Schweden küßte vor guten fünfzig Jahren und mehr ein junger Bergmann seine junge, hübsche Braut und sagte zu ihr: 'Auf Sankt Luciä wird unsere Liebe von des Priesters Hand gesegnet.'"
Frühwald: "'Dann sind wir Mann und Weib und bauen uns ein eigenes Nestlein.' – 'Und Friede und Liebe soll darin wohnen', sagte die schöne Braut mit holdem Lächeln, 'denn du bist mein einziges und alles, und ohne dich möchte ich lieber im Grab sein als an einem andern Ort.'"
Flemmer: Dieses Zusammendrängen: "In Falun in Schweden küßte..." Das ist Hebel!
Frühwald: Das sind die typischen Anfänge von Hebel. Es ist immer der ferne Ort. Hebel ist ja einer, der in Gedanken mit den Menschen durch die ganze Welt reist. Und er reist sogar bis zur Sonne hinaus. Er sagt in dieser Beschreibung dieses Firmamentes: "Nun stell dir mal vor, wie weit das entfernt ist!"
Flemmer: Und er rechnet es den Menschen sogar vor.
Frühwald: Ja, genau. Er sagt nämlich ungefähr so: "Wenn dort droben ein Kanonier steht und seine Kanone auf dich richtet und diese Kanone auch abschießt, dann kannst du in allem Frieden ein Haus bauen, heiraten, Kinder kriegen, deine Kinder ein Handwerk lernen lassen, deine Enkel aufwachsen sehen und die Kanonenkugel ist immer noch nicht da!"
Flemmer: Das ist das Besondere an ihm, wie er Zeit in Sprache umsetzt.
Frühwald: Ja, das ist seine Kunst, wie er diese Entfernungen dem beschränkten Bewusstsein des Menschen seiner Zeit näher bringt. Und dieses "Unverhoffte Wiedersehen" reicht sogar noch über diese Sphären hinaus.
Flemmer: Man muss ja nur einmal daran denken, wie er in dieser kurzen Geschichte Zeitgeschichte ablaufen lässt: Da geht es vom Untergang der Stadt Lissabon bis in die damalige Gegenwart. Das ist wirklich eine geniale Passage.
Frühwald: "Unterdessen wurde die Stadt Lissabon in Portugal durch ein Erdbeben zerstört, und der Siebenjährige Krieg ging vorüber, und Kaiser Franz der Erste starb, und der Jesuitenorden wurde aufgehoben und Polen geteilt, und die Kaiserin Maria Theresia starb, Amerika wurde frei, und die vereinigte französische und spanische Macht konnte Gibraltar nicht erobern. Die Türken schlossen den General Stein in der Veteraner Höhle in Ungarn ein, und der Kaiser Joseph starb auch. Der König Gustav von Schweden eroberte Russisch-Finnland, und die Französische Revolution und der lange Krieg fing an, und der Kaiser Leopold der Zweite ging auch ins Grab. Napoleon eroberte Preußen, und die Engländer bombardierten Kopenhagen, und die Ackerleute säeten und schnitten. Der Müller mahlte, und die Schmieden hämmerten, und die Bergleute gruben nach den Metalladern in ihrer unterirdischen Werkstatt." Das ist der Verlauf der Zeit: So geht die Zeit.
Flemmer: Man ist dabei und in wenigen Sätzen ist man informiert, wie man vielleicht sogar sagen darf. Ich finde kaum einen Vergleich in der Weltliteratur der damaligen Zeit, auch dann nicht, wenn man sich sehr weit umblickt. Finden Sie da Vergleiche?
Frühwald: Nein, das ist ein halbes Jahrhundert, das uns da Hebel in wenigen Zeilen vorsetzt. Das ist eine klassische Kurzgeschichte: mit diesem Beginn, wie wir ihn vorgelesen haben, und auch mit diesem Ende. Aber 50 Jahre Zeit dann innerhalb dieser Geschichte auf zwei Seiten zusammendrängen zu können, sodass jeder, der diese Geschichte liest, diese 50 Jahre auch miterlebt, das ist große Kunst. Denn Hebels zeitgenössische Leser haben diese 50 Jahre ja in der Tat selbst miterlebt. Und dann schafft er es, dass wir den Bräutigam vor uns sehen wie am ersten Tag. Das ist wirklich ungeheuerlich: "...aber er öffnete den Mund nimmer zum Lächeln oder die Augen zum Wiedererkennen, und wie sie ihn endlich von den Bergleuten in ihr Stübchen tragen ließ, als die einzige, die ihm angehöre und ein Recht an ihn habe, bis sein Grab gerüstet sei auf dem Kirchhof. Den andern Tag, als das Grab gerüstet war auf dem Kirchhof und ihn die Bergleute holten, schloß sie ein Kästlein auf, legte ihm das schwarzseidene Halstuch mit roten Streifen um und begleitete ihn in ihrem Sonntagsgewand, als wenn es ihr Hochzeitstag und nicht der Tag seiner Beerdigung wäre. Denn als man ihn auf dem Kirchhof ins Grab legte, sagte sie: 'Schlafe nun wohl, noch einen Tag oder zehn im kühlen Hochzeitbett, und laß dir die Zeit nicht lang werden. Ich habe nur noch wenig zu tun und komme bald, und bald wirds wieder Tag. Was die Erde einmal wiedergegeben hat, wird sie zum zweiten Male auch nicht behalten', sagte sie, als sie fortging und noch einmal umschaute."
Flemmer: Tja, da bleibt einem die Sprache weg, wenn man das liest.
Frühwald: Das ist der wirkliche Glaube an die Auferstehung und damit schließt sich dieser berühmte Kreis, der mit der Beschreibung von Sonne, Mond und Sternen begonnen hat und mit dem Tod eines Menschen endet, dessen geliebte Frau als uraltes Mütterlein zu ihm sagt: "Was die Erde einmal wiedergegeben hat, wird sie zum zweiten Mal auch nicht behalten!"
Flemmer: Das Erstaunliche ist ja, dass mit dem Kalendermachen, mit dem "Schatzkästlein" diese Prosaarbeit von Hebel einfach zu Ende gegangen ist: Es kommt nichts nach. Es kommen nur noch die biblischen Geschichten nach.
Frühwald: Er mag eigentlich nicht mehr. Er mag vor allem deswegen nicht mehr, weil ihm eben auch religiöses Ungemach geschehen ist. Da gab es von ihm diese Geschichte vom "frommen Rat". Eigentlich war das nur eine ganz harmlose Geschichte: Es kommen auf einen jungen Mann von zwei Seiten Prozessionen mit Monstranzen entgegen und er fragt: "Vor welcher Monstranz soll ich jetzt niederknien?" Der Geistliche sagt ihm: "Du sollst vor deinem Herren dort oben niederknien!" Dagegen haben engstirnige Katholiken dieser Zeit protestiert, sodass diese Geschichte aus dem Kalender herausgenommen werden musste. Das hat ihm das ganze Kalendermachen regelrecht verleidet. Man muss aber auf der anderen Seite schon auch sehen, wie seine späteren Geschichten von 1813, 1814, 1815 und 1819 sind.
Flemmer: Er ist müde geworden.
Frühwald: Ja, er ist müde geworden: Sie haben nicht mehr die Kraft dieser frühen Geschichten der ersten Auflage des "Schatzkästleins" von 1811.
Flemmer: Er hat sich dann später bemüht, die biblischen Geschichten für Kinder nachzuerzählen. Er hat dabei auch bestimmte Deutungen an der Bibel vorgenommen: Er hat bestimmte Dinge wie z. B. die Opferung Isaaks weggelassen oder auch die Geschichte von David in der Löwengrube.
Frühwald: Ja, es kommt da ein rationalistischer Zug hinein.
Flemmer: Es geht ihm auch hier wieder um Aufklärung.
Frühwald: Ja, es ist wirkliche Aufklärung. Das ist im Grunde genommen Aufklärung mit rationalistischer Bibelauslegung. Aber das gehörte ja nun einmal zu seinem Beruf als Pfarrer. Er hat dabei auch mit dem katholischen Generalvikar Ignaz Heinrich von Wessenberg zusammengearbeitet, der in jenen Tagen ein bedeutender Reformer gewesen ist. Er hat also im Grunde den Frieden der Konfessionen bewahrt und war wohl auch besonders erbost, weil der päpstliche Nuntius gegen diese harmlose Geschichte vom "frommen Rat" Einspruch erhoben hat. Denn Hebel hat in der Tat Frieden gestiftet.
Flemmer: Er hatte ja auch wesentlichen Anteil an der Vereinigung der lutherischen und der reformierten Kirche.
Frühwald: Er hat Konfessionsfrieden, aber auch Frieden unter den Ständen, Frieden unter den Klassen gestiftet. Und dass man diese Geschichten bis zum heutigen Tag in allen Ständen lesen kann und liest und dass sie auch übersetzbar sind, macht seine Größe aus. Denn das sind ja Geschichten, die wirklich in jede Sprache der Welt übersetzbar sind.
Flemmer: Vielen Dank, Herr Professor Frühwald, für dieses Gespräch. Ihnen, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, danke ich für Ihr Interesse.
 
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