zurück Bemerkungen zu einigen Stellen der Evangelisten.
     

1) Matth. 6, 11.

"unser täglich Brod gieb uns heut."

In der Vorschrift für diese Bitte liegt keine Verpflichtung, für den morgenden Tag unbesorgt zu seyn. Denn

1) scheint der Ausdruck "heute" nicht einmal wörtlich verstanden zu seyn, sondern in Vergleichung mit Luc. 11, 3. so viel zu sagen: Laß es uns nie an unserer täglichen Nothdurft gebrechen.

2) Aber gesetzt, wir sollen nur für heute beten, so ist es zweierlei: Sorgen und Beten. Man benutzt die gegenwärtige Gelegenheit, wenn man wegen der Zukunft, und dem, was in der Zukunft geschehen kann, ungewiß ist.

Wir thun also, was uns zu thun obliegt, das heißt, wir sorgen auf eine christliche Weise, billig auch für die Zukunft, weil wir nicht wissen, ob wir die Gelegenheit morgen wieder finden, die wir heute durch Sorglosigkeit versäumen würden.

Hingegen empfehlen wir das, was wir nicht thun können, Gott, das heißt, wir beten billig nur für heute, weil wir gewiß wissen, daß Gott, wenn wir morgen wieder beten, wieder eben so geneigt ist, als heute, uns zu erhören, und daß er, wenn wir morgen nicht beten können, doch thun wird, was uns heilsam ist. Selbstsorge für die Zukunft ist gerechtes Mißtrauen in unsere eigene Kraft. Gebet für die Zukunft könnte ungerechtes Mißtrauen in Gottes Vorsehung und stets gleiche Güte scheinen.

2) Matth. 11, 2 - 6.

Gewöhnlich wird die Gesandtschaft Johannis so erklärt, daß er auch seine Jünger von der Wahrheit überzeugen wollte, von der er selbst längst überzeugt war.

Kann aber diese Gesandtschaft nicht auch gewissen Zweifeln, die seine einsame, traurige Lage (V. 2.) in ihm erweckte und nährte, zuzuschreiben seyn? Wie oft zagt auch der frömmste, gläubigste Christ in einer düstern, unglücklichen Lage an Wahrheiten, von denen er sich in heitern Stunden vielleicht aus bessern Gründen überzeugt hatte, als die Gründe Johannis für die Messias-Würde jemals seyn konnten. -Er hatte sich der bevorstehendenglücklichen Veränderung, die sein Freund und Schüler Jesus stiften würde, schon im Geiste gefreuet, fühlte sich als dessen Vorbote, arbeitete, wirkte mit, und da saß er nun, wer weiß wie lange schon, im dumpfen Kerker, wahrscheinlich oft genug, wenn auch nicht immer, allein, umgeben von Dunkelheit und Stille, unthätig; seine Säfte schleichen, durch keine Bewegung noch frische Luft gestärkt. Er kann sich seine Lage nicht erklären, - nicht erklären, warum Jesus für ihn und für die Nation so unthätig ist, sieht ihn seinem Ziele um keinen Schritt näher kommen, und hört doch immer Thaten von ihm erzählen, die einen ausserordentlichen, zu großen Absichten bestimmten Mann ankünden. Unter diesen Umständen schwankt er zwischen Glaube und Zweifel, dürstet nach Gewißheit, und wendet sich - am liebsten an jesum selbst: Bist du, der da kommen soll?

Hier half nicht Ja noch Nein. Die beste Antwort war: "Gehet hin und saget Johanni wieder, was ihr sehet und höret. Die Blinden sehen, und die Lahmen gehen, die Aussätzigen werden rein, und die Tauben hören, die Todten stehen auf, und den Armen wird das Evangelium geprediget. - Und selig ist, der sich nicht an mir ärgert."

Dieser Beisatz Jesu scheint fast diese Erklärung zu bestätigen. Jesus scheint selbst die Veranlassung der Gesandtschaft vermuthet zu haben.

Jesus antwortet also mit That, nicht mit Wort. Ein Beweis seines guten Gewissens, des Gefühls seiner Würde, der Wahrheit seiner Sendung. Fragt einen Haushalter: Bist du treu und ehrlich? Jeder, auch der treuloseste, wird sagen: Ja. Aber der wirklich treu und ehrlich ist, wird sagen: Hier sind meine Rechnungen, da meine Kasse, dort meine Geschäfte. gehet hin und sehet.

Jesus befriediget die Wißbegierde der Fragenden zwar vollkommen, aber doch so, daß er ihnen statt deutlicher Antwort Data gibt, sie in den Fall setzt, selber denken zu müssen, aber auch in den Stand, sich die Frage selber zu lösen. Er verschafft ihnen dadurch den Vortheil, zu wissen, nicht nur daß, sondern auch warum sie ihn für den Messias halten müssen.

3) Matth. 11, 7 - 10.

Wenn je in einer Rede Jesu ein Anstrich von Ironie darf angenommen werden, so scheint es, daß sie hier anzunehmen sey.

Fand Jemand in dem Johannes keinen großen Mann, keinen Propheten, so lag die Schuld an dem, der es nicht fand, an der Absicht, die ihn hinaus in die Wüste trieb, an vorgefaßten Meinungen etc. - nicht an dem Johannes.

Wer mag läugnen, daß wohl mancher, der hinausgieng, den Johannes zu hören, der Menge nachlief, ohne zu wissen warum, mit der Menge stehen blieb, anfänglich den Johannes angaffte, ohne zu wissen, was er sah, mit der menge aushielt, und, indessen daß Johannes lehrte, vor langer Weile dem Schilf des Johannes zusah, mit dem der Wind spielte?

V. 7. "Ihr habt nichts Großes an Johannes gefunden (sagt Jesus), wie klug ihr doch syd. Das Rohr, das der Wind bewegte, schien euch wohl größere Aufmerksamkeit zu verdienen, als daß ihr auf ihn hättet horchen mögen. Kein Wunder!"

Eben so mag Mancher, der den Mann im härenen Kleide erblickte, sogleich eine widrige Meinung gefaßt haben. Was soll mir der Sonderling sagen können, dachte er, und gieng seinen Weg.

V. 8. "Wie klug! (sagt Jesus) war es euch um den Anzug des Mannes zu thun? Wolltet ihr einen fein geschmückten Weltmann sehen? Wahrhaftig! so hättet ihr nicht sollen in die Wüste gehen. Da müsset ihr freilich ein andermal nach Hof gehen, - aber auch dort keine Wahrheit erwarten."

V. 9. "Wer mit unbefangenem Geist, mit richtigem Begriff, was zu einem Propheten gehört, hinausgieng, einen Propheten zu sehen, der fand auch einen Propheten, und mehr denn einen Propheten."

4) Matth. 20, 16.

"Viele sind berufen, aber nur wenige sind Auserwählt."

Traurige Worte, wenn sie sagen wollen: es ist der Beruf vieler, gottselig zu leben in dieser Welt, aber nur wenige sind es, die sich durch Erfüllung ihres Berufs Gottes Beifall erwerben. Traurige Worte, wenn sie sagen sollen: Die Menschen sind zu einem ewigen Glück geschaffen, aber nur wenige werden es finden und genießen. Gott sey gedankt, das sagt der sanfte, schonende Jesus nicht, der nicht, der gekommen ist zu den Menschen, daß sie Leben und volle Genüge haben sollen. Was er bei dem traurigen Anblick dessen, das täglich vor seinen Augen geschah, von besonderen Umständen seiner Zeit, von einer einzelnen Menschenklasse in Hinsicht auf eigene Vorurtheile zu einer Nation sagt, die sich allein für berufen, und eben dadurch auch für unfehlbar erwählt hielt, das will er nicht so allgemein ausgedehnt wissen. "Ihr haltet euch allein für berufen," scheint er zu den stolzen engherzigen Israeliten sagen zu wollen, - "o es sind noch viele ausser euch! Ihr haltet euch alle für auserwählt? - Ihr seyds bei weitem nicht alle."

Ganz anders spricht Jesus, wenn er seinen Blick von den Juden weg über die ganze Menschheit erhebt.
 "Es werden viele kommen von Morgen und Abend, und mit Abraham, Isaak und Jakob im Himmelreich sitzen." (Matth. 8, 11.)

5) Matth. 22, 34 - 46.

Jesus wurde erst von Pharisäern, V. 15 - 22., dann von den Sadducäern, V. 23 - 33., dann wieder von den Pharisäern, V. 34 - 40., durch verfängliche Fragen auf die Probe gesetzt und angefochten. Vermuthlich waren die Meinungen über das größte Gebot getheilt, und es schien, daß Jesus, welchem Gebot er auch den Vorzug gäbe, es mit einer oder mehreren Partheien verderben müsse. So schützt demnach auch den Rechtschaffensten und Ehrlichsten seine rechtschaffenheit und Ehrlichkeit nicht vor heimtückischen und gefährlichen Nachstellungen. Aber dies ist sein entscheidender Vorzug: er siegt in den Nachstellungen durch seine Rechtschaffenheit und Ehrlichkeit. Jesus erwiedert auf die verdächtige Frage: Du sollst lieben Gott deinen Herrn von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüthe; dies ist das vornehmste und größte Gebot. - Das andere ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst; und seine Feinde schämten sich und verstummten. Jeder Pharisäer hätte auf die Frage: welches ist das größte Gebot? nothgedrungen von denjenigen Geboten schweigen müssen, gegen welche er sich vor den Augen des Volkes schon grober Vergehungen schuldig gemacht hatte. Aus Klugheit würde er dasjenige für das wichtigste ausgegeben haben, welches er noch am meisten gehalten zu haben sich einbilden konnte. Nur Jesus, der seinem Vater gehorsam war bis zum Tode, und der das Leben wagte für seine Freunde, nur er konnte alls, alle Gebote in eins zusammenfassen, und seine hämischen Nachsteller mit der Erklärung schlagen: Du sollst lieb haben Gott deinen Herrn von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüthe; dies ist das vornehmste und größte Gebot. - Das andere ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst.

6) Matth. 24, 29.

Sonne und Mond werden ihren Schein verlieren, und die Sterne vom Himmel fallen, und der Himmel Kräfte sich bewegen.

Viele Exegeten, unter diesen einst Leß, deuten diese Bilder aus den Propheten also: Himmel, jüdischer Staat, Sonne, Mond, Sterne, die Ersten im Staat, Gewalthalter, König, Priester etc. Sinn: die Ersten im Staate werden ihres Glanzes, ihrer Macht und Würden beraubt, er selbst (der Staat) erschüttert und aufgelöst werden.

Man darf nur mehrere prophetische Stellen zusammen nehmen, um das präkare akkommodirte in dieser Deutung zu finden.

1) Gewöhnlich brauchen die Propheten diese und ähnliche Bilder, wenn sie von dem Tag des Herrn reden, oder ihn im Sinne haben.

2) Tag des Herrn ist kein bestimmter Tag, auch nicht Bezeichnung der Zeit für irgend eine bestimmte Begebenheit, worin etwa alle Propheten übereinstimmten. Dem Joel z. B. ist's eine nahe Begebenheit, die schon durch die Heere Gottes, die Heuschrecken, eingeleitet ist. Indem er im ersten Kapitel jene Landplage geschildert hat, fährt er in Kapitel 2 fort: Blaset die Posaunen zu Zion: denn der Tag des Herrn kommt und ist nahe. - Was er sich darunter denket, klärt Kap. 4. auf, siehe V. 19. Mächtige Befreiung der Israeliten von dem Druck und der Herrschaft ihrer Nachbarn durch glänzende Siege. Dem Jesaias Kap. 13 ist's Zerstörung von Babylon durch die Meder, Befreiung und Rückkehr der Israeliten. Jeremias spricht in ähnlichen Ausdrücken von der Zerstörung Jerusalems durch die Chaldäer.

3) Der Tag des Herrn ist also Ausdruck für jede große Begebenheit, die

a) durch politische Veränderungen in der Welt merkwürdig,

b) von Jehova beschlossen und ausgeführt,

c) in Beziehung auf Israel strafend oder rettend gedacht wird.

4) Dem Joel ist's ein finsterer, dunkler, nebliger Tag; die Erde zittert und der Himmel bebt; Sonne und Mond werden finster, und die Sterne verhalten ihren Schein.

Dem Jesaias erscheint der Tag des Herrn grausam, zornglühend, die Sterne des Himmels und seine Orionen scheinen nicht mehr. Verfinstert geht die Sonne auf, und der Mond gibt kein Licht mehr; der Himmel wird erschüttert und die Erde bebt.

Jeremias sieht den Himmel an, er ist finster; die Berge, sie beben.

5) Diese ganze Schilderung ist nichts anders, als poetische Dekoration des Tages Jehovens. Alle Propheten brauchen sie, wenn sie von noch so verschiedenen Dingen reden. (Beispiele ähnlicher Dekorationen finden sich Jes. 11, 6 - 8. zur neuen Regierung des großen Königs). Die ersten Keime, aus denen sich diese Nationalvorstellung entwickelte, finden sich schon historisch in den Büchern Mosis, die ersten poetischen Entwicklungen in den Psalmen.

6) Alle diese Bilder kehren im neuen Testament wieder - auch dort nichts anders, als Dekoration zum Tage des Menschensohns.
 

    Altes Testament.

Tag Jehoves


Finster, der Himmel bebt, die Erde zittert.



Jehova kommt.

Neues Testament.

Tag des Menschensohns.
Tag des Herrn. Petr. und Offenbarung. Joh.

Sonne und Mond verlieren den Schein.
Die Sterne fallen vom Himmel.
Seine Kräfte bewegen sich. -

Die Himmel vergehen mit großem Krachen etc.
Des Menschen Sohn kommt.
 

   
7) Marc. 6, 16.

"Da es aber Herodes hörte, sprach er, es ist Johannes, den ich enthauptet habe."

Der machte dieses, jener etwas anders aus Jesu. Einer hielt ihn für den Elias, ein Anderer für einen alten, und wieder ein Anderer für einen neuen Propheten. Nur Herodes kam auf den besonderen Gedanken: wenn ich den enthauptet habe, Johannes, der ist's, der ist von den Todten auferstanden. Aber sehr natürlich kam er auf den Gedanken. Denn er hatte ja - enthauptet. Dies sind die Wirkungen des bösen Gewissens.

Jeder freute sich der Thaten Jesu, und ahnete in der Wiederkunft eines alten Propheten oder in der Erscheinung eines neuen glückliche Aussichten, sah es als einen Beweis der Gnade Gottes über sein Volk an: "Gott hat sein Volk heimgesucht." Nur Herodes - sah ein Gespenst, und ahnete nicht Gutes. Wieder ein Beleg zu einem alten und wahren Spruch: Der Gottlose fleucht und niemand jagt ihn.

8) Marc. 14, 27. 28.

In dem 28ten Vers liegt meines Bedünkens eine schöne und nicht allgemein bemerkte Fortsetzung des im 27ten aufgestellten Bildes.

"Der Hirt wird geschlagen werden, und die Schafe werden sich zerstreuen."

Jesus scheint mir nämlich hier in dem Ausdrucke des Vorangehens in der Person eines Hirten fortzusprechen; der Hirt zeigt sich, die zerstreuten Schafe sammeln sich um ihn, er geht voran, sie folgen ihm. Joh. 10, 4. 27.

"Ihr werdet euch zerstreuen, wenn ich von euch genommen bin. Aber nach meiner Auferstehung werdet ihr euch wieder bei mir versammeln. Galiläa ist der Ort, wohin ihr mir nachkommen werdet."

9) Luc. 5, 18 - 26.

Macht, Sünden zu vergeben, ist so viel als Macht, die Folgen der Sünden zu heben.

Die Folgen aber der Sünde sind zweierlei, natürliche, die aus der Sünde selbst herfließen, nicht anders als herfließen müssen, und positive, die Gott gleichsam noch extra, den Uebertretern in der Ewigkeit anzuthun gedroht hat.

Gewöhnlich, wenn man von Vergebung der Sünden spricht, denkt man nur an diese letztere Art von Folgen der Sünden. Vergebung der Sünden heißt alsdann Nachlaß der ewigen Strafen.

Da die natürlichen Folgen nur der Herr der Natur, die positiven nur der Gesetzgeber aufheben kann, so ist beides gegen den Ausspruch des 23. V. gleich schwer, oder gleich leicht, wie man will. Hingegen ist kein Zweifel, daß der welcher das eine thut, sich dadurch legitimirt, auch das andere zhun zu können . Denn Beides kann nur einer.

Rühmt sich hingegen ein Mensch, der für einen Betrüger gehalten wird, als Bevollmächtigter Gottes, eines oder das andere thun zu können, so ist es freilich leichter zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, d. h. du bist losgesprochen von der ewigen Verdammniß, - als zu sagen: stehe auf und wandele d. h. sey frei von den natürlichen, jetzt dich drückenden Folgen deiner Sünden. Denn da jenes sich wohl sagen, der Erfolg aber keineswegs sich wahrnehmen läßt, so kann auch der, welcher es gesagt hat, aus dem Nichterfolg nicht als Betrüger überwiesen werden. Wer ihm glauben mag, kann glauben. Es ist aber nichts entschieden.

Schwerer ist es in dem fall zu sagen: sey frei von den natürlichen Folgen deiner Sünden. denn hier muß der Erfolg des Machtanspruchs augenblicklich entscheiden; der Kranke z. B. muß gesund werden, oder der betrüger ist widerlegt. Jesus scheint also zu sagen: Ihr glaubt nicht daß ich Sünden vergeben kann? Wohlan, Sünden vergeben und kranke heilen gehört zusammen; wer das eine kann, muß auch das andere können. Aber es ist schwerer das eine als das andere zu sagen. Ich sage also das Schwerere, um euch zu zeigen, daß ich das Leichtere auch könne.

10) Luc. 11, 14 - 16.

Vergebens glaubt der Zweifler, der Unchrist, der Lasterhafte, wenn Gott noch Zeichen und Wunder thun würde, daß es ihm alsdann möglich oder leichter seyn würde, zu glauben und fromm zu seyn. Er bleibt ungebessert und unüberzeuget, nicht weil es den natürlichen Mitteln, die uns Gott anbietet, an Ueberzeugung und Verbesserungskraft fehlte, sondern weil er sich nicht mag überzeugen und bessern lassen.

V. 14. Jesus lehrt einen Stummen sprechen, und alles Volk verwundert sich. - Aber wer aufmerksam auf die Natur seyn wollte, wäre es dem weniger wunderbar, daß wir von Jugend auf sprechen können? oder waren wir nicht alle auch einmal stumm?

v. 15. Jesus lehrt einen Stummen sprechen, und siehe es wird ihm für Zauberey ausgelegt. Würde der, der die Wahrheit nicht annimmt und ausübt, weil er sie nicht leiden mag. würde der nicht auch eine Einwendung, einen Zweifel gegen das Wunder haben, das ihm die unangenehme Wahrheit zu bestätigen schiene?

V. 16. Jesus thut ein Zeichen an einem Stummen und nun verlangt man ein Zeichen vom Himmel. Also selbst Wunder sättigen den Wundersüchtigen nicht. Sieht er eins, so will er mehrere; sieht er ein großes, so will er noch ein größeres sehen.

So wahr ist es, was der Heiland Kap. 16, 31. sagt: Hören die Mosen und die Propheten nicht, so werden sie auch nicht glauben, ob Jemand von den Todten auferstünde.

11) Luc. 23, 42. 43.

1. Es ist schwer zu glauben, daß der Schächer, der nur Aufruhrs willen gekreuziget ward, so aufgeklärt sollte gewesen seyn, um an ein regnum Christi non hujus mundi zu glauben, woran selbst seiner Jünger keiner glaubte, worüber Christus selber zu ihnen nie deutlich sprach. Wahrscheinlicher ist es, daß er eine Wiederkunft Christi zur Herstellung seines Reiches erwartete:

a) es war so ein dunkler Glaube unter den Juden, durch Propheten geweckt, daß der Messias durch große Leiden zu seiner Königswürde müsse geweihet werden.

b) Christus selber sprach oft von seinem Tod und einer herrlichen Wiederkunft in des Himmels Wolken.

c) Erfasse eine lebendige Hoffnung mit ganzer Seele. Der Glaube an sie werde deinem Herzen Bedürfniß, so tödtet der Tod ihn nicht. Du erwartest eher seine Erfüllung nach dem Tode. Laß den Neger in Amerika sterben. Er hält in der Todesminute den Trost noch fest, er werde seine vaterländischen Paliäen wieder sehen. Dein Messias sterbe, ehe du ihn, und die süßen Hoffnungen aufgibst, die an ihm sich festhielten, wird dir eine neue Hoffnung Bedürfniß werden. er kommt wieder.

2. Eben diese Tendenz des menschlichen Gemüthes weckte unter den Juden den Auferstehungsglauben. Wer sein Schicksal in eine jammervolle Periode des Lebens warf, wer seine Hoffnung vor sich sah, das Bessere, das dem Schlimmern folgt, noch zu erleben, und den Tag des Messias zu sehen, der erwartete von ihm Erweckung vom Tod, und neues Leben in seinem Reich. Glaube an Auferstehung, nicht zum ewigen Himmelsleben, sondern zum Reiche des Messias, war unter den Juden zur Zeit Christi Volksglaube. Was sagt nun der Schächer, der mit zu diesem Volke gehört?
"Rufe auch mich wieder ins Leben zurück," oder
"Erkenne mich wieder, wenn du in deiner Königskraft und Würde, wenn du als Messias
() wieder kommst!"
"Laß mich wieder mit dir aus dem Schattenreich zurückkehren, und ein Genosse deines Reichs seyn, der ich dich jetzt in das Reich der Schatten begleite!"

3. Die Gegensätze sind nun fühlbar in der Antwort Jesu:
"Heute wirst du mit mir im Paradiese seyn."

12) Joh 8, 2 - 11.

v. 2. Mit den edelsten Absichten beschäftigt, mit ganzer gesammelter Seele, vom heiligsten Eifer belebt, sizt Jesus im Tempel unter dem Volke und lehret

v. 3-6. Und eine boshafte verkehrte Menschenart, Schriftgelehrte und Pharisäer dringen an ihn, und unterbrechen ihn, mit einer boshaften, nichts würdigen Frage:
Ankläger einer Ehebrecherin, aber zehnmal strafwürdiger als die Beklagte selbst, Fragen sie: Meister diese hat den Tod der Steinigung nach unserm Gesetz verdient, was sagst aber du dazu?

v. 6. Jesus bükte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Schwerlich wollte er mit dieser Geberdung etwas anders sagen, als: Ich will nichts mit euch zu thun haben; ihr verdient nicht daß ich ein Wort an euch verliere.

v. 7. Sie aber sezten ihm zu und drangen in ihn, bis er, ihrer müde, sie endlich mit der Erklärung abwies: Steiniget sie. Der Rein ist unter euch, mache den Anfang.

v. 8. Und bükte sich wider und schrieb, d.h. Weiter hab ich euch nichts zu sagen. Ihr könnet gehen.
Oder bükte er sich um ihnen eine Verlegenheit, eine Beschämung zu ersparen? Denn

v. 9. Sie fühlten sich in ihrem Gewissen. Theils sagte es einem ieden, daß er mit der Steinigung den Anfang nicht machen dürfe, theils fühlten sie, daß sie keine Bessere Behandlung als diese verdient hatten. Und giengen hinaus einer nach dem andern. Die ältesten machten den Anfang u. die iüngern folgten nach.

v. 10. 11. Nun hatte Jesus nichts mehr zu schreiben. Mit menschenfreundlichem Herzen widmete er der Unglüklichen einige Augenblike - sie zu trösten und zu bessern.

13) Joh. 18, 6.

V. 6. "Sie wichen zurück und fielen zu Boden."

Die Wirkung von dem edlen Muth Jesu Christi auf die rohen Kriegsknechte und Häscher war ein wenig stark und unerwartet, wenn sie natürlich war. Und ein Wunder hier zu suchen geht nicht an, da es nichts genutzt hätte, auch wirklich nichts genutzt hat. Jesus wollte den Händen der Wache nicht entgehen, sondern sich gefangen nehmen lassen freiwillig.

V. 8. "Suchet ihr mich, so lasset diese gehen." Wie schicket sich diese Rede Jesu zu dem Vorhergehenden. Man denkt sich die Wache betäubt oder betroffen, auf der Erde liegend oder wieder aufgerafft. Kein Wort, daß die Jünger in Anfechtung waren.

Versuch einer andern Übersetzung.
, nicht rückwärts, sondern auf die Hinterseite (wo die Jünger waren). Dieser schien ihnen schon der Mann nicht zu seyn, den sie festnehmen sollten. Es war ihnen ohne Zweifel sehr wichtig gemacht, wie sie des Menschen sich mit Vorsicht und List bemächtigen müssten. Auf alle Fälle wollten sie sehen, wer noch dahinten im Dunkeln sey.

, die Jünger nämlich als die Wache kam, entweder aus Furcht und Schrecken oder aus Klugheit,
sich zu verbergen.

Jetzt fragt Jesus noch einmal, wen suchet ihr? und erklärt ihnen: suchet ihr mich, so lasset diese gehen.

Einwendungen.

1. Es ist allerdings eine harte Auslassung des Nominativs in , wenn die Jünger sollen gemeint seyn. Allein die Dunkelheit läge nicht in dieser Stelle, sondern in der Zweideutigkeit des vorher. Hat sich Johannes die Hinterseite in Anlehnung Jesu dabei gedacht, und denkt man sichs so mit ihm, so ist es natürlich, daß das nur auf die Jünger gehen könne, daß es nicht nöthig war, sie zu nennen. Ueberdieß ist es den biblischen Schriftstellern gewöhnlich, sich auf längst vorhergegangene Nomina zu beziehen. ohne sie wieder neuerdings zu nennen.

2. Es ist nicht wahrscheinlich, daß Petrus in dem nämlichen Augenblick sich aufgerafft und der Wache mit dem Schwerdt sich widersetzt haben sollte, wie in V. 10. erzählt wird; allein

a) geschah es auch nicht im nämlichen Nu. Nach der Scene, die Joh. erzählt, muß der Auftritt mit Judas erst geschehen seyn. Matth. 26, 48 - 50. Unterdessen hatte Petrus einige Zeit sich zu erholen.

b) That er den Angriff in dem nämlichen Augenblick, da an Jesum Hand gelegt wurde, und es ist begreiflich, und dem Charakter Petri gemäß, daß er, der zur Vertheidigung in der ersten Ueberraschung keinen Muth hatte, und von der Zaghaftigkeit der übrigen mit ergriffen wurde, jetzt in dem Augenblick, wo er Jesum in den Händen seiner Feinde sah, aus Liebe zu ihm, und in der Erinnerung seines Versprechens, alle eigene Gefahr vergaß und von raschen Muth belebt, das Schwerdt zur Vertheidigung Jesu zog. - Mag endlich nicht auch dieser Umstand einen Unterschied machen, daß er vieeleicht den feinden, die das erstemal auf ihn losgiengen, jetzt auf dem Rücken war? Wenigstens ist diese Situation die natürlichste und die Wunde von der Art, daß sie eben sowohl oder noch eher durch einen Hieb von hinten her, als von vornen zu erklären ist.

14) Joh. 20, V. 2 - 17.

Johannes der schuldlose Schoosjünger Jesu erzählt, wie die Leidensgeschichte, so auch das Benehmen der Jünger bei seiner Auferstehung, mit so kunstloser Einfalt, mit so ausführlicher Umständlichkeit in Dingen, die uns unbedeutend scheinen, bei denen aber er, weil er dabei war, gern verweilte, mit soviel Natur, daß auch der entschlossenste Zweifler in Versuchung gerathen muß - wenigstens einige Augenblicke lang zu glauben.

V. 2 - 8. Der andere Jünger (Johannes selbst) der Jesum am meisten liebte, ist auch bei der Nachricht, daß das Grab offen und leer sey, der ungeduldigste, der sich am meisten interessirt - lauft Petro zuvor, kommt an Grab, blickt hinein, sieht die Linnen, und steigt - nicht hinab. Wer sollte es von dem sanften zärtlichen Mann erwarten, daß er sich allein und zuerst in ein Gewölbe wagte, wo ein Todter (immerhin sein bester Freund) gelegen hatte, wo er vielleicht noch in einer Ecke lag, wo vielleicht Trug und List der feinde im Spiel war.

Petrus kommt nach und sieht - der rasche, kühne Petrus, überall der vörderste, ist auch hier Petrus. Er steigt ohne Bedenken hinab, will sehen, wie er sich in den Gerichtshof drang, um zu sehen; wie er sich in die Wellen des Meeres warf, um zu fühlen.

Und nun erst, als Johannes sieht, daß alles sicher sey, geht auch er hinein.

So wagt es ein Schüchterner, ein Bedenklicher, ein Zärtlicher nicht etwas Todtes zu berühren, oder an einen, ihm verdächtigen Ort zu gehen, oder eine , ihm unbekannte Speise auf bloses Zureden zu kosten. Es muß zuerst ein Kühnerer ihm mit seinem Beispiel vorangehen, ihm die Furcht benehmen, Muth und Entschlossenheit bei ihm wecken.

Gleicherweise scheint mir in dem Betragen der Maria ungekünstelte Natur hervor zu blicken.

V. 11. Wie ein Kind, das einen geliebten Gegenstand an dem Ort, wo es ihn sonst anzutreffen gewohnt war, nicht mehr findet - es bricht in Thränen aus, schaut nach dem leeren Platz, oder was sonst die Ursache seiner Thränen ist, einmal um das andere zurück, als ob es das Vermißte sehen müsste, als ob es den geliebten Gegenstand mit dem wehmüthigen Blicke zurückzaubern wollte: - so steht die weiche weibliche Seele am Grabe und weint - bückt sich wieder und sieht hinein.

V. 14. 15. So sieht sie sich um, als ob ihr jemand helfen müßte, so drängt sich, in dem sie dem vermeinten Gärtner sieht, ihr Anliegen aus der brust: "Herr hast du ihn weggenommen?" ehe sie ihm sagen konnte, warum sie weine, oder wen sie suche, als ob alle Welt sich interessiren und die Ursache ihrer Thränen wissen müßte.

V. 16. Wie wir in einem starken Affect, besonders in großer Betrübniß und Angst, auf Gegenstände um uns her keine Aufmerksamkeit verwenden, oder nur schwache Eindrücke fast ohne Bewußtseyn von ihnen empfinden, oft selbst in der Größe des Kummers und der Angst die gegenwärtige Rettung nicht einmal bemerken, so sieht Maria Jesum an, kennt ihn nicht, redet mit ihm, und kennt ihn nicht. Es war ihm nicht darum zu thun, zu wissen, wen sie vor sich habe, sie will nur wissen, ob er den Geliebten aus dem Grab, wohin sie augenblicklich zurückschaut, weggenommen habe.

Und Jesus ruft ihr: Maria! und sie wird aufmerksam, kehrt sich wieder um, faßt ihn ins Gesicht, es ist Jesus; ein Wort, ein Schrei: Rabbuni! ist alles, was sie aus der gedrängten Brust hervorbringen kann.

Ist es anders, als wenn wir an einem Freund ohngefähr vorbeigehen, an den wir nicht gedachten, dessen Gegenwart so nahe, uns nicht wahrscheinlich, nicht möglich schien, dessen Gestalt sich, seit wir ihn das letztemal sahen, verändert hat. Wir sehen ihn flüchtig an, und gehen an ihm vorbei. Erst wenn er uns mit Namen nachruft, schauen wir zurück und betrachten ihn aufmerksamer. Die Seele macht in unbegreiflicher Geschwindigkeit den Schluß: Dieser Mensch kennt mich, folglich muß ich ihn auch kennen, wenn ich ihn genauer betrachte. Der Ton seiner Stimme weckt vielleicht schon das Bild in der Seele. Kurz wir kennen ihn und nennen seinen Namen.

So erkennt Maria den Herrn, ruft Rabbuni, und will ihm im ersten Gefühl der Herzenserleichterung und Freude um den Hals fallen, oder zu Füßen stürzen, und seine Knie umarmen. (V. 17.)

Johannes sagt zwar das nicht. Aber Jesus sagt es in Worten: "Rühre mich nicht an, denn ich bin noch nicht aufgefahren etc." Jesus will nur nicht angerührt seyn. Und wie gegründete Ursachen konnte er nicht haben? Konnte nicht der Affect der Maria zu ausschweifend werden? Konnte sie nicht durch ihr Benehmen Aufsehen erregen und Leute herbei ziehen, denen er sich nicht wollte offenbaren? Noch schien sie im ersten Ausbruch des Affects nicht an das Ausserordentliche zu gedenken; aber hätte sie nicht im Augenblick der Umarmungg der Gedanke mit Schrecken und Entsetzen befallen müssen: Wen umarme ich da? Er ist ja gestorben, er ist todt; wie steht er denn vor mir? Wie gefährlich konnte ihr erst der Uebergang aus Betrübniß und Angst zur Freude, und aus dem höchsten Gefühl der Freude und des Entzückens, zum höchsten Grad des Schreckens werden! Und wie natürlich die Erklärung Jesu: "Ich bin noch nicht aufgefahren etc." Unmöglich können die Worte heißen: Umarme mich nicht eher, als bis ich aufgefahren bin etc. Entweder haben sie keinen Sinn, oder den ganz natürlichen: "Mässige deinen Affect. Es ist ja noch Zeit, ich bin noch nicht aufgefahren und ich fahre noch nicht auf."

15) Joh. 21, 18 - 24.

Ein Grund für die Johanneität des Kapitels scheint der 18te und 19te V. zu seyn.

Johannes liebt das besonders, dunkle, räthselhafte Aussprüche Jesu, die man eine Zeit lang gar nicht verstand, und zu denen man in einer nachfolgenden Begebenheit den Schlüssel zu finden glaubte, sammt ihrer spätern Erklärung in sein Evangelium einzuflechten. Z. B. Kapitel 2, 19 - 22.; Kap. 6, 70. 71. So auch hier.

V. 22. kommt eine ähnlich dunkle Rede vor, aber die Erklärung dazu hatte der Jünger noch nicht, und beugt blos einer kühnen Ausdeutung derselben vor, ohne eine andere geben zu können.

 

 

     

Der o. a. Titel geht auf den Erstdruck "Sämmtliche Werke" 1832 - 34 bei Müller in Karlsruhe zurück.
Im Konvolut "BLB Karlsruhe, K 3423 (alt H 123) - Predigtentwürfe und Betrachtungen" sind die
'Bemerkungen' (von Hebel selbst?) unter dem Titel "Passionsgeschichte" zusammengefasst worden.
Es soll sich dabei um insgesamt 40 Abschnitte handeln, dies wird verifiziert werden,
sobald eine Digitalisierung des Konvoluts vorliegt.

 

 

 

 

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