zurück Bar Enasch oder des Menschen Sohn
     

Es ist bekannt, daß Christus sich selber fast am liebsten und öftesten des Menschen Sohn nennt, und daß man über diesen Namen wohl ebenso viel widerstreitende und unsichere Meinungen hat als über die Person desselben. Ja, die biblische Enzyklopädie behauptet sogar unter dem Artikel «Gott» in ihrer gewöhnlichen edlen Schreibart: «es haben die Herrn Exegeten nun schon so viele Federn darüber verkaut und am Ende doch nichts Genießbares herausgebracht», und Herr Ammon hat in seiner Biblischen Theologie einen reichlichen Beitrag dazu geliefert, so jedoch, daß es mir scheint, er habe nicht lange Zeit genommen, die Feder zu zerkauen.

Meine Meinung über den Sinn des Ausdrucks Menschen Sohn ist auch nicht neu, vielmehr sehr alt, und ich will wünschen, daß sie die allerälteste sei. Denn ich halte dafür, es sei für etrurische Vasen und exegetische Meinungen schlechtes Lob, wenn sie neu sind.

Zwar erklärt sich des Menschen Sohn selber nirgends darüber, warum er sich so nennt, und die biblischen Schriftsteller, die uns seine Reden aufzeichnen, finden es auch nicht nötig, und es folgt daraus:

entweder, daß der Ausdruck überall keiner Erklärung bedarf, sondern im buchstäblichsten und allgemein verständlichen Sinn genommen werden müsse, so daß alsdann Menschen Sohn so viel sagen wollte als der Sohn eines Menschen, nicht eines andern zeugungsfähigen Wesens von irgendeiner Art;

oder, daß es wenigstens damals ein bekannter und allgemein verstandener Ausdruck gewesen sei, für die Nachwelt aber nicht viel darauf ankomme, daß sie ihn richtig verstehe, sondern jeder Leser der heiligen Urkunden salva, fide et salute dabei denken dürfe, was ihm einleuchtet;

oder, daß er ein Geheimnis enthalte, das wir nicht verstehen sollen und zu verstehen nicht nötig haben.

Und dies ist nach meinem Urteil der Fall bei allen in der Bibel selber nicht erklärten und doch vieldeutigen, dunkeln oder dafür gehaltenen Ausdrücken, z. B. ,Bild Gottes' im Alten Testament. - ,Schlange', Genes. 3. «Nehmet, esset, das ist mein Leib usw.». Und so mich jemand anders als ein Gelehrter fragen sollte, was ein Cherub sei, so möchte ich ihm wohl antworten: «Ein Cherub, das ist ein Cherub; und so du einmal an die Planken des Paradieses kommst, gern hinein möchtest und nicht kannst, oder wenn dir einmal die Bundeslade zu Gesicht kommt, so wirst du ihn dort , an der Pforte und hier auf dem Deckel schon erkennen.» -

Aber des Menschen Sohn ist kein Cherub, sondern tausendmaltausend dienen ihm, und zehntausendmaltausend stehen vor ihm.

Ich will von den Meinungen über diesen Namen nur diejenige anführen, welcher die meinige gerade gegenübersteht. Man sagt:

des Menschen Sohn habe sich aus Bescheidenheit so genennt, um seine Niedrigkeit anzuzeigen, und es sei dem Sohn Gottes entgegengesetzt.

Ist nicht dem also. Denn

1. hatte des Menschen Sohn keine Ursache, das Volk und die Seinen viel an seine menschliche Niedrigkeit, wohl aber an seine göttliche Hoheit zu erinnern;

2. war des Menschen Sohn nicht bescheiden, wenn von der Würde seiner Person die Rede war; er hatte es auch nicht Ursache zu sein;

3. hätte er alsdann ohne Zweifel eher Sohn des Weibes als des Menschen gesagt.

Nach meiner Ansicht ist im Sprachgebrauch des Zeitalters Jesu Menschen-Sohn so wie Gottes-Sohn erhabene Titulatur des Messias und wird daher mit diesem als synonym gebraucht, und es ist so wenig daran, daß durch jene beiden Benennungen seine beiden Naturen angedeutet worden, als wenig daran ist, daß sie durch das im Brief an die Hebräer zu erweisen sind, obgleich ein heiliger Kirchenvater behauptet, Christus sei insofern dem König und Priester Gottes zu Salem ähnlich, weil er göttlicherseits keine Mutter und menschlicherseits keinen Vater hatte und also wie der Zehntherr Abraham ohne Vater und ohne Mutter war.

Uns klingt nun freilich die messianische Titulatur Menschen-Sohn nicht erhaben. Aber laßt uns nur sogleich den gemeinen chaldäischen Ausdruck Bar Enasch dafür substituieren und das Diplom vorlegen, in welchem der Messias mit diesem Titel belehnt wird.

Danielis 7, 13. 14.

«Ich sah im nächtlichen Gesicht, und siehe, mit des Himmels Wolken kam's wie eines Menschen Sohn (Bar Enasch) bis zu dem Alten. Und es ward ihm gegeben Sultanschaft (Scholtan, Gewalt) und Ehre und Königtum. Alle Völker und Stämme werden ihm dienen. Seine Sultanschaft ist eine Sultanschaft des Äons (Scholtaneh, scboltan alam, Ewigkeit), sie endet nicht, und sein Königtum wird nicht zerstört.»

Nun scheint es zwar mir freilich nicht, daß unter dem Menschensohn hier der Messias oder irgend ein Individuum, sondern eine ganze Nation zu verstehen sei, nämlich das heilige Volk Gottes. Denn

1. Daniel sah zuerst vier Ungeheuer nacheinander aus dem Meer aufsteigen, und diese Bilder bezeichnen auch nicht einzelne Personen, sondern nach V. 17 vier Reiche, Regierungen, machthabende und -übende Völker.

2. Des Menschen Sohn ist das fünfte zu diesen Bildern und bedeutet ebenfalls ein Volk, nämlich das heilige Volk Gottes und seine allgemeine und nimmer endende Herrschaft auf Erden (nach V. 17, 18 und 27), die auf jene vier erfolgen wird. Diese Ansicht ist wichtig, weil sich daraus erklärt, wie der Seher auf den Ausdruck und das Bild eines Menschensohns verfällt.

Vier Raubtiere gehn voraus; unter ihrem Bilde rücken ihm die Regierungen unter die Augen, deren Charakter Grausamkeit und Zerstörungswut ist. Aber die Regierung des heiligen Volks ist eine Regierung des Friedens und der Seligkeit. Sie erscheint unter dem Bilde der sanften und edlen Menschengestalt.

Allein es kommt gar nicht darauf an, wie unsereinem der Widerschein jener Vision im dunkeln Worte vorkommt, sondern vielmehr wie er den Zeitgenossen Jesu vorkam, und diese trugen das, was von dem heiligen Volk gesagt wird, auf den Repräsentanten desselben, den Messias, über. Er ist der Bar Enasch, niemand weiß von etwas anderm, und man muß glauben, daß Jesus das Wort in dem nämlichen Sinn gebrauche, da er es als bekannt voraussetzt und nirgends sagt, daß er's in einem andern Sinne nehme.

Daß aber die Zeitgenossen und er das Wort so nahmen, ist wenigstens aus dem Neuen Testament glaublich zu machen. Denn

1. wir haben eine Stelle, Joh. Kap. 12, 32. 34., wo das Volk beide Ausdrücke, Messias und Bar Enasch, geradezu als synonym vertauscht. Christus sagt: «Ich werde erhöhet werden von der Erde.» Das Volk erwidert: «Wir haben gehört im Gesetz, daß der Messias ewig bleibe; wie sagst denn du: Der Bar Enasch muß erhöhet werden? Was sollen wir uns unter einem solchen Bar Enasch vorstellen?» Diese Verwechslung ist desto merkwürdiger, indem Christus keinen Anlaß dazu gab und nicht sagte: des Menschen Sohn, sondern: Ich werde erhöhet werden, und sie beweist, daß sie einen idealischen Bar Enasch kennen und das, was Jesus von sich sagt, mit ihm unvereinbar finden, weil sie (nach meinem Gefühl) spöttisch oder verachtend fragen: Was ist das für ein Bar Enasch?

2. Manche Aussprüche Jesu erhalten Licht und Nachdruck, wenn man das Wort in diesem eminenten Sinne und mit Rücksicht auf die Vision des Daniels nimmt, z. B.:

Matth. 25, 31. «Wenn aber der Bar Enasch kommen wird in seiner Herrlichkeit usw.»

Mark. 13, 26. «Dann werden sie sehen den Bar Enasch kommen in den Wolken.»

Joh. 5, 27. «Gott hat ihm Vollmacht gegeben, das Gericht zu halten, weil er der Bar Enasch ist.»

Matth. 19, 28. In der Palingenesie: «Wenn der Bar Enasch den Thron seiner Herrlichkeit bestiegen hat usw.»

Für meinen exegetischen Sinn ist der Danielische Bar Enasch in diesen Stellen unverkennbar. Und nach dieser Grundlage können wir nun auch zu andern Stellen überschauen, wo er eigentlich für uns in den Wolken, das heißt, nicht so kennbar erscheint.

Einige derselben widerstreiten zwar der hier vorgetragenen Idee nicht, begünstigen sie aber auch nicht; andre scheinen ihr geradezu entgegengesetzt zu sein. Aber es hat nichts zu sagen.

Denn man kann auf die Frage: warum wohl Jesus unter mehrern gleichgeltenden Benennungen des Messias gerade die des Bar Enasch zu seinem Lieblingsnamen gemacht habe, entweder dergleichen tun, man habe sie nicht gehört, weil man sie nicht zu beantworten weiß, oder man kann ohne Gefahr also antworten:

Weil den sanften Sohn Maria dieser Name am schönsten und lieblichsten ansprach; weil er von uns wußte, daß der Bar Enasch in der Danielischen Vision den Raubtieren gegenüber das Bild der Sanftheit und Güte sei, und er den Charakter dieses Bildes ausgeprägt in seinem Herzen fand und erkannte.

Und so konnte er denn wohl auch sagen z. B.:

«Des Menschen Sohn ist gekommen zu suchen und selig zu machen, das verloren ist.» Luk. 19, 10.

Item: «Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, daß er sich dienen lasse, sondern daß er diene und gebe sein Leben zur Erlösung für viele.» Matth. 20, 28.

Fehlt in solchen Fällen dem Bar Enasch das Danielsche Attribut der Himmelswolken - er steht desto schöner da im reinen Tagesschimmer seiner Humanität und in der Morgenröte des Reiches Gottes.

Wenn er aber selber sich oft und immer als den Bar Enasch dachte und fühlte und am liebsten so nannte, wen m ag es endlich befremden, wenn er zuletzt geradezu und ohne alle Anspielung oder Beziehung diesen Namen dem Ich substituierte und oft weiter nichts damit sagen wollte als ich?

Dies war der Fall in Stellen wie folgende:

«Wer sagen die Leute, daß der Bar Enasch sei?» - «Ihr aber, wer sagt ihr, daß Ich sei?» Matth. 16, 13 - 15.

Und so konnte er denn auch sagen:

«Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester, aber der Bar Enasch, d. i. Ich, habe nichts, wohin ich mein Haupt hinlege.» Matth. 8, 20;

«Der Bar Enasch, d. i. Ich, gehe dahin, wie von mir geschrieben steht.» Matth. 26, 24;

«Der Bar Enasch, d. i. Ich, muß viel leiden.» Mark. 8, 31; wiewohl in beiden letzten Stellen Bar Enasch auch noch als gleichbedeutendes Synonym von Messias gelten kann.

Um aber neben diese, wie ich hoffe, älteste Bedeutung noch eine, wie ich ebenfalls hoffe, nagelneue zu stellen, weil doch auch neben alten Vasen neues Steingut von Rothenfels Töpferware ist, so scheint es mir, wenn Sohn Gottes, wie einige wollen, nur soviel als ,Liebling Gottes' sagen wolle , man könnte mit dieser Erklärung auch eine glückliche Anwendung auf ,des Menschen Sohn' machen: Der Liebling des menschlichen Geschlechts, deliciae generis humani,

 

 

nach oben

 

zurück