zurück Entwurf der Antrittspredigt vor einer Landgemeinde
     
(Geschrieben um 1820, aber nicht vollendet und nie gehalten)

Im Namen Jesu Christi stehe ich zum erstenmal an dieser geheiligten Stätte, von welcher schon so manche Worte des Friedens, der Ermahnung, des Trostes an die Gemüter dieser achtbaren Gemeinde ergangen sind. In deinem Namen stehe ich hier, du Anfänger und Vollender unseres Glaubens. Weihe du mich ein zum würdigen Beruf deines Evangeliums. Was ich rede, soll nicht meine Weisheit, es soll deine Weisheit, es soll das Wort von deiner seligmachenden Gnade sein. Was ich Gutes wirke, soll nicht mein Werk und mein Verdienst sein. Ich will mich meiner Schwachheit und meine Schwachheit soll sich deiner Gnade rühmen, die an den Schwachen mächtig ist. Laß sie unter uns mächtig werden, deine Gnade im Lehren und Hören, im Ermahnen und im Folgen, in der Verheißung und im Trost, in der Vollendung an jenem Tag! Amen.

Text: Psalm 73, 28

28 Aber das ist meine Freude, dass ich mich zu Gott halte / und meine Zuversicht setze auf Gott, den HERRN, dass ich verkündige all dein Tun.

Wundert euch nicht, meine Freunde, wenn ich zum erstenmal, da ich vor euch auftrete, von mir selbst mit euch rede. Wiewohl, ich rede nicht von mir, ich predige nicht mich, sondern den beim Vater im Himmel, der uns offenbar wird in unsern Schicksalen, der uns überall entgegenkommt auf unsern Wegen, der uns überall zuruft: «Siehe, hier bin ich! Ich will dich nicht verlassen noch versäumen.» Das ist ja meine Freude, daß ich mich zu Gott halte und auf ihn meine Hoffnung setze und verkündige all sein Tun. - Ich predige nicht mich; aber ich möchte euch gerne sagen, wer ich bin, auf welchen Wegen mich Gott zu euch führt. Ich wünsche euer Vertrauen zu gewinnen, damit ich den Weg zu euern Herzen finde.

Ich bin von armen, aber frommen Eltern geboren, habe die Hälfte der Zeit in meiner Kindheit bald in einem einsamen Dorf, bald in den vornehmen Häusern einer berühmten Stadt zugebracht. Da habe ich frühe gelernt arm sein und reich sein. Wiewohl, ich bin nie reich gewesen; ich habe gelernt nichts haben und alles haben, mit den Fröhlichen froh sein und mit den Weinenden traurig. Diese Vorbedeutung von dem Schicksal meiner künftigen Tage hat mir mein Gott in meiner Kindheit gegeben. Schauet zurück in euere vergangenen Tage: ist's nicht also, daß Gott manchem schon in seiner Kindheit ein Wahrzeichen seines Lebens gibt? Ist nicht die Kindheit der verborgene Keim, aus welchem nach und nach der reiche Baum des Lebens mit allen seinen Leiden und Freuden sich auseinanderschlägt?

Ich habe schon in dem zweiten Jahre meines Lebens meinen Vater, in dem dreizehnten meine Mutter verloren. Aber der Segen ihrer Frömmigkeit hat mich nie verlassen. Sie hat mich beten gelehrt; sie hat mich gelehrt an Gott glauben, auf Gott vertrauen, an seine Allgegenwart denken. Die Liebe vieler Menschen, die an ihrem Grabe weinten und in der Ferne sie ehrten, ist mein bestes Erbteil geworden, und ich bin wohl dabei gefahren. -

O, meine Freunde, Väter und Mütter! gerne laß ich dies meine erste Ermahnung sein, die ich an dieser Stätte an euch tue: Laßt das irdische Wohl eurer Kinder eure große Sorge sein; aber macht ihre Erziehung zur Gottseligkeit zu eurer größten Sorge! Das ist das Erbteil, das nimmer trügt, nimmer verzehret wird, das in unsern Herzen wächst und unser Herz täglich reicher macht und am Ende noch am reichsten.

Gott hat mir an Elternstatt wohltätige Berater meiner Jugend und treue Lehrer der weltlichen Weisheit und des geistlichen Berufes gegeben. Sie schlafen im Frieden; aber ich erfülle eine Pflicht der Dankbarkeit, indem ich ihrer gedenke.

Ich erhielt die Weihe des geistlichen Berufs. An einem friedlichen Landorte, unter redlichen Menschen als Pfarrer zu leben und zu sterben, war alles, was ich wünschte, was ich bis auf diese Stunde in den heitersten und in den trübsten Augenblicken meines Lebens immer gewünscht habe. Aber, o Gott, auf welchem langen Umweg hast du mich an das Ziel meiner Wünsche geführt! Eilf Jahre lang, bis in das einunddreißigste meines Lebens, wartete ich vergeblich auf Amt und Versorgung. Alle meine Jugendgenossen waren versorgt, nur ich nicht. Ich stand noch da, wie der Prophet Jesaias sagt, «gleich einem Baume oben auf einem Berge und einem Panier oben auf einem Hügel». Da war es wohl an mir getan, daß mich Gott gelehrt hatte, arm sein und nichts haben. -

Doch ich wurde unversehens in die Residenz berufen, aber zu keinem Pfarramt. Ich bin von Stufe
gestiegen zu Stufe, aber nie zu einem Pfarramt. Ich habe vielleicht zweitausend Jünglinge in Sprachen
und Wissenschaften unterrichtet. Viele von ihnen erfreuen mein Antlitz, wenn ich sie nun als fromme,
 als glückliche, als geachtete Männer und Freunde wiedersehe. Manche von ihnen stehen schon lange in geistlichen Ämtern, und manches fromme Wort, das ich hie und da in ein gutes Herz gelegt habe, o Gott, es trägt vielleicht jetzt reichliche Früchte, ohne daß ich's weiß. O Freunde, was wir Gutes tun, was ihr Gutes tut in Wort und Tat, es ist nicht verloren. Wir sehen nicht, wohin der Wind das Samenkörnlein wehet; aber Gottes Auge folgt ihm nach und begleitet es mit seinem Segen. -

Ich habe die Liebe und Achtung vieler guten Menschen, ich habe das Vertrauen und die Gnade unserer Fürsten genossen. Ich bin Mitglied der obersten Kirchenbehörde geworden. Ich bin zuletzt mit einer in unserer vaterländischen Kirche noch nie erhörten Würde geehrt worden und mit Fürsten im Rat gesessen. So bin ich an einer unsichtbaren Hand immer höher hinan, immer weiter von dem Ziel meiner bescheidenen Wünsche hinweggeführt worden; und als ich am weitesten glaubte entfernt zu sein, war ich am nächsten. Was ich im zwanzigsten Jahre meines Lebens bald zu erlangen hoffte, gab mir Gott im sechzigsten. Mach's mit mir, o Herr, mach es mit uns allen, wiewohl wunderlich, durch Christum den Herrn nur seliglich.

Ja, meine Freunde, die Wege, die uns Gott führt, sind oft wunderbar und unerforschlich seine Absichten; aber sie sind gegründet in der Tiefe des Reichtums, beides, seiner Weisheit und seiner Erkenntnis.

Meine Freunde, ich habe euch mit wenigen Linien den Weg gezeigt, auf welchem mein Gott mich zu euch geführt hat. Ich bin ein Mensch, nicht ohne Schwachheit und Fehler; sonst wäre ich Adams Kind nicht. Aber ich bemühe mich, täglich völliger zu werden; sonst wäre ich Christi Jünger nicht...

 

 

 

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