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 ...vor dem St.-Johanns-Tor zu Basel.
Zeichnung von unbekannter Hand (1797)
 
Jeweils im Sommer waren Johann Jakob (sofern er nicht mit seinem Dienstherrn unterwegs war) und insbesondere Ursula Hebel auf dem Landgut der Iselin-Ryhiners beschäftigt, das außerhalb des St.-Johanns-Tor an der Strasse in den Sundgau gelegen war. Dies behielten die Eltern Hebels auch nach der Hochzeit und der Geburt der Kinder bei. Aber bereits im Sommer 1761 erkrankte die Familie - wohl an Typhus - und der Vater starb, erst 41-jährig. Bald darauf folgte ihm die 5 Wochen alte Susanne nach. Ursula Hebel verbrachte weiterhin den Winter in Hausen und die Sommermonate im iselinschen Dienst in Basel, bis auch sie im Herbst 1773 schwer erkrankte und auf dem Heimweg nach Hausen unter den Augen ihres Sohnes starb.


* Vater und Schwester waren bereits gestorben, als der Junge etwa ein Jahr alt war. Die funktionierende, eine Männlichkeit und Weiblichkeit gleichermaßen einschließende Ehe, erlebt der Junge Johann Peter also nicht. Seine Mannwerdung geschieht nicht im gesunden Spannungsfeld weiblich-mütterlicher und männlich-väterlicher Kräfte. In konstruktionspsychologischer Hinsicht erfährt er das Leben seines ersten Lebensjahrzehnts einseitig durch die Wirklichkeitsbrille seiner mütterlichen Fürsorgerin. Dabei ist davon auszugehen, dass er als „Ein und Alles" der Mutter auch die verstorbenen Familienmitglieder ersetzen muss. Auf ihn werden auch Last und Verantwortung des von der Mutter projizierten Vaters ruhen. In dieser Hinsicht darf sein Werk auch als Verlängerung des väterlichen Schreibens betrachtet werden. Dessen „seit dem Jahr 1749 geführtes Taschenbuch... bedeutete... dem Sohne teures Vermächtnis." Er verliert die Mutter an der Schwelle zur Pubertät. Dadurch bleibt dem Jungen die Chance einer natürlichen Loslösung von der dominierenden Mutterfigur versagt. Aus den Traumaufzeichnungen des Mitvierzigers, obwohl sie meines Erachtens teilweise sprachgestaltet sind und im ursprünglichen Sinne nicht ganz ungefilterte Selbstzeugnisse sind, tritt dem Betrachter ein gespaltenes Mutterbild entgegen.
Hebel hält fest: „Sehr oft gibt mir der Traum meine Mutter wieder, und ich bekomme sie immer nur unter einer von zwei Gestalten. Entweder sie ist erzürnt und will nichts von mir wissen, oder sie erscheint in der Verklärung der höchsten mütterlichen Milde und hat Vergnügen an meinen Liebkosungen. Immer habe ich das Bewußtsein dabei, daß ich sie lange entbehrt habe, und das Gefühl, daß ich sie nicht lange haben werde, aber nie frage ich mich, wo sie bisher war, oder wie sie mir geworden ist. Es ist mir dunkel zu Sinne, als ob ich bisher nicht gewußt hätte, daß sie noch lebe." Sieben Jahre später notiert er: „Auf dem Heimweg gesellte sich zu mir meine Mutter aus dem Grabe. Wir kamen nach Hausen an unser eigenes Haus. Mir war so wohl, sie jetzt wieder zu haben, und ich erzählte ihr, wie oft ich um sie weinte, wenn ich an dem Haus vorbeiging, worin sie nicht mehr war. Sie blieb kalt und unteilnehmend ..."
Im Jahre 1812 - Hebel ist also zweiundfünfzigjährig - erhält seine Freundin Gustave Fecht einen Brief, darin steht: „Anfänglich war sie [die Mutter] mir noch so lieb, daß es leicht gewesen wäre, mich katholisch zu machen, nur damit ich noch für sie hätte beten, oder gar sie anbeten können. Nachher vergaß ich sie während der leichtsinnigen und flüchtigen Jugend auf viele Jahre. Nachher kam sie wieder zu mir, und brachte mir für lange Zeit viel Schmerz und Freude mit."
Die Ambivalenz des Mutterbildes könnte kaum schärfer sein: die anbetungswürdige Mutter- und sublimierte Marienfigur auf der einen Seite, die erzürnte und tödlich kalt abweisende Frau auf der anderen Seite. Diese Ambivalenz gegenüber seiner bergenden und verstoßenden Mutter nimmt Hebel in einer Doublebindsituation gefangen. Dies ist um so folgenschwerer, als das Trennungstrauma und der Tod der Mutter eine natürliche Auflösung dieses psychischen Dilemmas verhindern und eine existentielle Ablösung - so sie überhaupt möglich ist - erschweren. *
 
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* Originaltext: Mass und Mitte; Johann Peter Hebel - ein pragmatischer Psychologe.
Autor: Dieter Andreas Walz. - Gutach: Drey-Verlag, 2000  /  Seiten 128 & 129