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Reise nach Frankfurt    (1819)
 
Zu ehemaligen Reichszeiten bestand auch, ein großes Reichs-Kammergericht zu Wetzlar, welches noch manchem geneigtem Leser in teuerem und wertem Andenken sein kann, wenigstens in teuerem. Viel weltberühmte Rechtsgelehrte, Advokaten und Schreiber, saßen dort, von Rechts wegen beisammen. Wer daheim einen großen Prozeß verloren hatte, an dem nichts mehr zu sieden und zu braten war, konnte ihn in Wetzlar noch einmal anbrühen lassen, und noch einmal verlieren. Mancher hessische, württembergische u. badische Batzen ist dort hingewandelt, und hat den Heimweg nimmer gefunden.

Als aber im Jahr 1806 der große Schlag auf das deutsche Reich geschah, stürzte auch das Reichs-Kammergericht zusammen, und alle Prozesse die darin lagen, wurden totgeschlagen, maustot, und keiner gab mehr ein Zeichen von sich, ausgenommen im Jahr 1817 in Gera in Sachsenland hat einer wieder gezuckt.
Ein Leinwandweber daselbst liest in der Dresdner Zeitung, daß der Bundestag in Frankfurt sich mit dem Unterhalt der Angehörigen des Reichs-Kammergerichts lebhaft beschäftige. Nämlich, daß der Bundestag für den Unterhalt und die Schadloshaltung der Räte, Advokaten, u. Schreiber sorgen wollte, welche seit 1806 keinen Sold mehr zogen und nichts mehr zu verdienen hatten, ob sie gleich täglich, wie die andern, Mittag läuten hörten und schöne Schilde sahen an den Wirtshäusern.
Auf dem Speicher des Leinewebers aber fing es auf einmal an in den Akten zu rauschen, fast wie in den Totenbeinen von welchen der Prophet Ezechiel schreibt. Der Leineweber glaubte nämlich nichts anders, als das Reichs-Kammergericht habe nur einen neuen Rock angezogen und heiße nun Bundestag, und der Bundestag habe nichts Wichtigeres zu tun, als die alten Prozesse, wenigstens seinen, wieder anzuzetteln.

Also ließ er sich einen guten Paß nach Frankfurt schreiben, und mit Akten schwer beladen trat er die lange Reise an. Als er aber in Frankfurt angekommen war, war sein erstes, er fragte die Schildwache am Tor, wo der Bundestag sich angesetzt habe in Frankfurt. Die Schildwache erwiderte, sie stehe da so nebendraus und erfahre nicht viel was im Innern der Stadt geschehe. Ihres Wissens aber, seit sie dastehe, sei kein Bundestag einpassiert. Da fing der Leineweber im Fortgehen an sich zu betrüben, und zu ergrimmen: „O Deutsche", sagte er in seinem Innern, „wie tief seid ihr gesunken! Ein Deutscher zu sein, noch dazu eine Frankfurter Schildwache, und nichts vom Bundestag wissen!" „Guter Freund", sagte er zu einem Vorbeigehenden, „könnt Ihr mir auch nicht sagen, wo der Bundestag sein Wesen hat?" Der Vorübergehende konnte es auch nicht sagen. „O Patriotismus", fuhr er mit sich selber fort, „wohin bist du verschwunden?" Fast müsse man sich schämen, ein Deutscher zu heißen, wenn man nicht unter seinesgleichen wäre.
„Guter Freund", redete er einen Dritten an: „Wißt auch Ihr nicht, wo hier der Bundestag einquartiert ist?" - „Lieber guter Mann", entgegnete der Dritte, „hier ist kein Bundestag einquartiert. Hier ist Frankfurt an der Oder. Der Bundestag ist in Frankfurt am Main." - Der wohlerfahrene Leser weiß nämlich zum voraus schon, daß es zwei Frankfurt gibt, die nicht weniger als 66 Meilen voneinander entfernt sind, und der Leineweber war im unrechten. „Ihr habt übrigens nur noch 66 Meilen nach Frankfurt", fuhr der Dritte fort, „und wenn Ihr daher seid, wo Ihr sagt, so seid Ihr über hier nur 63 Meilen weit umgegangen." „Das ist jetzt ein Tun", sagte der Leineweber. „Hab ich A gesagt, so will ich auch B sagen. Zwanzigtausend Taler sind Geld, ohnehin bin ich es meinem seligen Großvater schuldig. Hat er den Prozeß angefangen und ist ein armer Mann daran geworden, so ist es meine Schuldigkeit, daß ich ihn fortsetze, und wieder reich werde." „Ha ha", sagt der Dritte, „was gilt's das sind Akten, die Ihr da aufgepackt habt, und fast drunter zusammenbrecht?" -„Es sind auch noch ein wenig Lebensmittel dabei", versetzte der Weber in kleinmütiger Stimme, „aber nimmer viel." Der geneigte Leser fängt an, einigen Spaß an der Sache zu finden. Von hier an aber bis nach Frankfurt am Main geht die Reise etwas langsam vonstatten. Derselbe darf herzhaft einsweilen noch ein gutes Pfeiflein stopfen, wiewohl er kann zum voraus sehen, wie alles gehen und enden wird. Denn die Chronik will wissen, daß, als einst die Phönizier erforschen wollten, ob der große Weltteil Afrika zu Wasser könne umfahren werden, rechneten sie die erforderliche Zeit der Reise auf ungefähr 2 Jahre, gleichwohl als sie hinter Ägypten in dem Roten Meer sich einschifften, der bibelfeste Leser kennt's von Moses' Zeiten her, nahmen sie nicht sonderlich viel Lebensvorrat mit, aber etwas Ackergeräte. Sahen sie nun, daß die Lebensmittel bald zu Ende gehen wollten, stiegen sie an das Land, säten von Getreide und Gemüsgattungen, was die Jahreszeit mit sich brachte, wiewohl in Afrika ist fast immer Sommer und ein schneller kräftiger Trieb in allem Wachstum. Alsdann warteten sie die Reifung ab, und brachten jedesmal nach wenigen Wochen einen neuen Vorrat in das Schiff, und zogen wieder weiter, kamen auch richtig nach zwei Jahren wieder zum Vorschein durch die Meerenge von Gibraltar hinein, die der zeitungskundige Leser ebenfalls noch kennt von General Elliots Zeiten her, dessen Andenken noch bis auf diese Stunde auf Tabakspapieren gefeiert wird. Also auch der Weber auf seiner langen Reise wußte sich zu helfen, wenn Geld und Vorrat zu Ende war; „Kunst bettelt nicht", sagte er zu sich selbst im stolzen Gefühl, „Kunst geht nach Brot." Demnach wenn er mittags oder abends in einem Städtlein oder Flecken eintraf, erkundigte er sich nach einem Zunftgenossen, und „habt Ihr nichts für mich zu weben", redet er den Meister an, „um Atzung und um einiges Zehrgeld?" Stellte ihn nun der Meister ein, so blieb er einige Tage bei ihm, bis er sich ausgefüttert, und wieder einige Batzen verdient hatte, und webte sich solchergestalt glücklich an dem Main hinauf und nach Frankfurt. In Frankfurt pochte ihm das Herz hoch vor Freuden, daß er nun an dem Ziele seiner Reise sei, und so nahe an seiner Geldquelle, die er jetzt nur anbohren dürfe, und als er in die Bundeskanzlei kam, gleich in der vordersten Stube, wo die Herrn sitzen, die am schönsten schreiben können, grüßte er sie freundlich und vertraut. „Findet man euch endlich einmal", sagte er, „und seid ihr jetzt hier?" Einer von den Herrn der Vornehmsten von ihnen, nimmt die Feder aus dem Mund und legt sie auf den Tisch. „Wir sind noch niemand aus dem Weg gegangen", sagte er, „und was habt Ihr hier zu schaffen? Was bringt Ihr Neues Viereckigtes in Eurem Hängkorb? Eine Bundeslade? Es fehlt uns noch eine." „Spaß", erwiderte der Weber, „meinen Prozeß von Anno eintausendsiebenhundertsiebenundsechszig." -
Es ist nunmehr nichts weiter an der Sache zu erzählen. Natürlich nahm sich niemand seines Prozesses an, weil der Bundestag sich mit Prozessen nicht gemein macht, und die lange beschwerliche Reise war umsonst getan. Die Erzählung nimmt daher ein kahles Ende, der Hausfreund fühlt es. Fast sollte er noch was anschiften. Statt dessen aber will er hieneben eine Abbildung des Leinewebers stiften, wie er auf der Heimreise einmal ausruht und eine Standrede hält. „Es ist mir in diesen sechs Wochen vieles klargeworden", sagt er. „Man muß einem deutschen Mann nicht sogleich Vorwürfe machen, wenn er in Vaterlandssachen ein wenig unwissend und kaltsinnig ist. Denn man ist selber einer. Was siebest du aber den Splitter in deines Bruders Auge? Lerne zuerst selber, und werde warm. Den guten Leuten in Frankfurt an der Oder ist von mir Tort geschehen. In Frankfurt am Main aber mir." „Wenn ihr in der Zeitung etwas leset, oder im Plakat, oder im Kräuterbuch, und versteht es nicht, laßt euch raten, achtbare Zuhörer, und geht um verständige Belehrung aus, ehe ihr etwas unternehmet, besonders wenn es ein Prozeß ist." „Der beste Prozeß ist ein schlechter, und auf dem Lager bessert er sich nicht. Der Habich ist besser als der Hättich. Friede ernährt, Unfrieden zerstört." „Und nun geliebte Akten, die ich jetzt hier ablege, gehabt euch wohl, und seid dem Mann empfohlen, der euch finden und vielleicht glücklicher mit euch sein wird, als ich."
Indem er aber die Akten absetzen wollte, klopft ihm von hinten her ein Mann auf die Achsel, der auch desselben Wegs ging. (Man sieht ihn aber kaum auf der Abbildung, nichtsdestoweniger ist's der Gewürzkrämer aus dem nächsten Städtlein -) „Guter Freund", sagte er, „mit wem redet Ihr da so allein?" „Mit niemand", erwiderte der Weber, „wenn Ihr mir aber meinen Prozeß abkaufen wollt, mit Euch. Lupft ihn einmal! Was gebt Ihr mir dafür?" Der Mann sagte: „Anderthalb Kreuzer, für das Pfund wenn das Papier daran gut ist. Kommt mit mir." Also verkaufte er dem Gewürzhändler die Akten für einen Gulden, vierundzwanzig Kreuzer die vollends zum Rest der Reise hinreichten, und kam mit leerem Korb und Beutel wieder in der Heimat an. „An meine Frankfurter Reise", sagte er, „will ich denken.
Diesmal in Frankfurt gewesen."

 
 
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Bild 1: "Audienz am Reichskammergericht"; Wikipedia / Public domain

Bild 2: Original-Illustration aus dem "Rheinländischen Hausfreund"




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