Von den Prozessionsraupen (1803)
Oft fürchten wir, wo nichts zu fürchten ist, ein
andermal sind wir leichtsinnig nahe bei der Gefahr. In unsern
Eichwäldern hält sich eine Art von graufarbigen haarigen Raupen auf, die
sich in sehr großer Anzahl zusammenhalten, und in ganzen großen Zügen
dicht aneinander und aufeinander von einem Baum auf den andern wandern,
deswegen nennt man sie Prozessionsraupen. Oft sieht man sie langsam auf
der Erde fortkriechen, oder an den Eichenstämmen hinaufziehen; sie
teilen sich bisweilen wie ein Strom in zwei und mehrere Arme, ziehn eine
Strecke weit so fort, vereinigen sich dann wieder und schließen einen
leeren Raum in der Mitte, wie eine Insel zwischen sich ein: Oft sieht
man an der Länge eines ganzen Stammes hin eine unzählige Menge leere
Bälge, welche sie bei der Häutung hängen ließen. Wer im Sommer oft in
Eichwälder kommt, wird sich erinnern, dieses schon gesehen zu haben. Daß
solche ganze Züge von gefräßigen Raupen an den Blättern der Bäume, wo
sie hinkommen, große Verwüstungen anrichten, und das Gedeihen und die
Gesundheit der Bäume hindern können, ist leicht zu erachten; doch ist
das nicht das schlimmste, sondern sie können sogar dem menschlichen
Körper gefährlich werden, wenn man ihnen zu nahe kommt, sie mutwillig
beunruhigt, oder gar aus Unvorsichtigkeit mit einem entblößten Teil des
Körpers berührt und drückt. Sie dulden es nicht ungestraft, wenn sie
sich rächen können. Man hat schon einige traurige Beispiele an Leuten
erlebt, denen solches widerfahren ist. Sie bekamen bald starke
Geschwulst, heftige und schmerzhafte Entzündungen an der Stelle des
Körpers, wo sie diese Raupen mit bloßer Haut berührten, und nach dem
Zeugnis erfahrner Ärzte könnte daraus noch größeres Unheil entstehen,
wenn man nicht mit zweckmäßigen Heilmitteln zuvorkäme. Aber wie das
zugehen mag. Die Raupen lassen augenblicklich ihre kurzen, steifen
stechenden Haare gehen, und drücken und schießen sie gleichsam wie
Pfeile ihrem Feind in die zarte Haut des Körpers. Dies ist das Mittel,
welches die Natur auch diesen verachteten Tieren zu ihrer Verteidigung
gegeben hat. Mehrere andere Arten von Haarraupen tun es auch. Aber bei
den Prozessionsraupen ist die Menge gefährlich. Der Körper bekommt
unzählig viele kleine unsichtbare Wunden; in jeder bleibt der feine
reizende Pfeil stecken, und viel kleine Ursachen zusammen tun eine große
Wirkung, was man auch sonst im menschlichen Leben so oft erfährt, und
doch so wenig bedenkt. Man soll also mit diesen Tieren keinen unnötigen
Mutwillen treiben; wenn man Ursache hat, an einem Baum hinaufzuklettern,
soll man aufschauen, was daran ist; man soll in der Nähe von Eichbäumen
halbnackte Kinder nicht auf den Boden setzen, ohne ihn zuerst zu
besichtigen, und sie warnen, daß sie es nicht selber tun. Es ist
leichter, Schaden zu verhüten, als wieder gutzumachen.
|