Die lachenden Jungfrauen
(1819)
Wer weiß, wo
Saratow liegt? Der Hausfreund hat viel Bücher. Er weiß alles. Saratow liegt weit
gegen Sonnenaufgang in das wilde Asien hinein, und ist ebenfalls der Sitz einer
russischen Statthalterschaft, nämlich wie Pensa, und war im Jahr 1812 ebenfalls
der Sammelplatz wo viel tausend unglückliche Kriegsgefangene abgegeben, und dann
tiefer hineingeführt wurden, in das Elend.
Ein Transport von gefangenen Deutschen wird eines Tages eingebracht. Eine Menge
von Einwohnern, wie zu geschehen pflegt, stehen auf den Gassen, die Neugierigen
schauten, der Obermut trotzte und spottete, die Rachsucht fluchte und schimpfte.
Keine Hand bot sich zur Pflege der kranken, der verwundeten, der
verschmachtenden Fremdlinge an, eher zu etwas anderm. Niemand wehrte ihnen. Denn
die Kriegsgefangenschaft spinnt keine Seide, und man kann nicht glauben wie
erbittert damals die Russen über ihre Feinde waren, und keiner wurde vorher
gefragt, ob er zu den Schlimmen gehöre, sondern man nahm ihn dafür. Aber einem
wohlbetagten Hauptmann und seinem Lieutenant begegnete etwas Merkwürdiges. Denn
eben als der Hauptmann den Lieutenant an der Hand ergriff, und ihn trösten
wollte: „Fasse dich, junges Blut, auch das wird vorübergehen, und ein Ende
nehmen, mit dem Frieden oder mit dem Tode", - in dem Augenblicke hören sie
zunächst vor sich ein mutwilliges Lachen, und indem sie unwillkürlich
aufschauen, - sie hätten's bereits können gewohnt sein, - was erblicken ihre
Augen?
In einem vornehmen russischen Gefährt zwei Jungfrauen, schön wie zwei
Sonnen, lieblich wie der Frühlingstag, wenn die Rosen blühen. Beide Teile
schauten einander an, aber ob auch die Jungfrauen sich wollten Gewalt antun, sie
konnten sich nicht erwehren, und trat auch eine die andere auf den Fuß, so ward's nur ärger. Das griff schmerzhaft den sonst vielgeprüften Mut des
bejahrten Hauptmanns an. „Noch so jung", - dachte er, - „und schon so entartet",
- und der Lieutenant dachte: „So schön und doch so grausam", - und der Schmerz
des einen brach in eine Träne, der Unmut des andern aber in Worte aus: „Töchter
dieses unwirtlichen Landes", - fing der Hauptmann an, - „ihr versteht zwar meine
Rede nicht", - die Jungfrauen lachten aufs neue, - „aber wollte Gott ihr
verstündet sie", — da lachten auf einmal die Jungfrauen nicht mehr. „Gar
unfein", - fuhr der Hauptmann fort, - „steht das euerem Geschlechte, euerer
Jugend, und euren schönen Kleidern an, an dem Jammer schuldloser Menschen eure
Augen zu weiden, und mit solchem Hohngelächter unsere Herzen zu durchschneiden."
Da fiel ihm errötend die ältere der Jungfrauen in das Wort, sie war ungefähr 18
Jahre alt, und die jüngere 17, und redete die Unglücklichen zu ihrem Erstaunen
ebenfalls deutsch an, mitten in Saratow und mitten in Rußland, mehr als 1000
Stunden weit von der Heimat deutsch. „Edle Fremdlinge", - sagte sie, - sanft wie
ein Engel und mit tiefbewegter Stimme, - „sprecht nicht also, - daß wir gekommen
seien, unsere Augen an euerem Elende zu weiden, und euere Herzen durch
Verhöhnung zu martern, die wir die Absicht haben, euch zu bitten, daß ihr mit
uns gehen wollet, in die Wohnung unserer Eltern, und Pflege und Liebe
anzunehmen, bis die Engel des Friedens euch zurückführen mögen zu euren Fahnen,
oder in die Umarmungen eurer Angehörigen, daß ihr bei ihnen glücklich sein
möget, alle Tage eures Lebens." Ihr entgegnete hinwiederum erstaunt über diese
Worte der Hauptmann: „Edle Jungfrauen, wes herrlichen Geschlechts Töchter ihr
sein möget, wenn dem also ist, wie ihr saget, so vertrauen wir uns eurer
Einladung an, die ihr aus deutschem Blute entsprossen scheint, so ihr das
Unrecht verzeihen könnt, womit mein Schmerz euch beleidigt hat." Als sie aber in
den Wagen einstiegen, und der Hauptmann wollte, wie es sich traf, neben die
ältere der Jungfrauen sitzen, widerfuhr ihnen noch etwas Apartes, denn es zog
ihn die jüngere sanft auf ihre Seite: „Verzeiht mir", - sagte sie, - „edler
Fremdling, meine Ansprüche auf Euch sind mir zu wert. Meine Freundin hat kein
Recht an Euch." Und zu dem Lieutenant sprach die ältere ebenfalls: „Meine
Freundin hat kein Recht an Euch", - und zog ihn sanft und sittsam an ihre Seite.
Den zwei Kriegsgefangenen aber war alles recht, denn auch jedem andern hätte die
Wahl zwischen beiden schönen Jungfrauen schwerer sein müssen, als jeder andern
Jungfrau die Wahl zwischen einem 50jährigen Mann und einem 20jährigen Jüngling.
Fragt sich nun, wer waren die Jungfrauen und wo führten sie ihre Gefangenen hin?
Antwort: Es leben in Saratow zwei reiche und angesehene deutsche Familienväter;
der Deutsche kommt, wie das Quecksilber überall durch, wenn er schon keins ist.
Beide Familien waren des Abends vorher, wie gewöhnlich, beisammen, und sprachen
von allerlei. „Ist's wahr", - sagte der eine, - „daß morgen deutsche
Kriegsgefangene ankommen?" - „Sie sind schon angesagt", — erwiderte man ihm.
„Die armen Menschen haben einen schweren Gang", - sprach wehmütig eine der
Mütter. Da trat die ältere Jungfrau ihren Vater an: „Werden wir auch einen
bekommen, - mein Vater? - Wie sorglich wollte ich gleich einer Tochter oder
Schwester sein pflegen, und ihn trösten." Der Vater erwiderte: „Den Gefangenen
bettet man nicht auf Rosen. Sie werden in den Vorstädten in den dürftigsten
Hütten untergebracht." - „Oder wolltet Ihr denn nicht selbst einen einladen,
oder Euch einen ausbitten, von dem Hauptmann ihrer Bewachung?" - „Das könnte mir
wohl übel gedeutet werden", - erwiderte der Vater, - „sie sind Feinde des
Vaterlandes, in welches wir, selbst als Fremdlinge aus ihrer Heimat sind
aufgenommen worden. Wir dürfen die Feinde nicht als unsere Landsleute erkennen.
Doch wenn einen von ihnen mir das Schicksal ohne mein Zutun entgegenführt, will
ich mich seiner nicht entschlagen", und ebenso sprach auch der Vater der andern
Jungfrau. Da redeten die beiden Töchter miteinander, und leichtsinnig und
gutmütig, wie die Jugend ist, beschlossen sie, wenn die Gefangenen kämen, zu
tun, was sie taten.
Anfänglich fuhren sie ein wenig um den Transport herum, wie wenn man auf den
Jahrmarkt geht, um einzukaufen. Man sieht zuerst die Waren an, was da ist, ehe
man auf Geratewohl kauft, das Nächste das Beste. Als aber die Jungfrauen den
Hauptmann erblickten, wie er dastand, wenig gebeugt von seinen Leiden, und
angeschmiegt an ihn den Jüngling, den Lieutenant, den das Schicksal zum
erstenmal in die Schule der Prüfung genommen hatte, und zwar gleich in die
oberste Klasse, sagten sie zueinander: „Diese zwei, wollen wir nehmen." -
„Willst du den Alten", - sagte scherzhaft die jüngere. „ Oder willst du ihn", -
sagte zu ihr ihre Freundin. Da nahm die jüngere zwei Stecknadeln aus ihrem
Busengewand, eine längere und eine kürzere, und zogen miteinander das Hälmlein
mit Stecknadeln. Als aber die ältere den Lieutenant zog, und die jüngere den
Hauptmann behielt, in dem Augenblick, als dieser sagte, - „auch das wird ein
Ende nehmen", lachten die Jungfrauen. Denn diesen Erbschatz teilt noch die
Kindheit mit der Jugend, daß Schmerz und Freude leichter an ihr vorübergehen,
und in schnellern Ablösungen miteinander wechseln. Hernach aber als der
Hauptmann so ernsthaft sie anredete, - „euer Ohr versteht zwar meine Rede
nicht", - lachten sie von neuem. Denn wenn man einmal darin ist, man muß; und
das Gefühl daß es unschicklich sei hilft nur dazu, die Unschicklichkeit zu
begehen. Aber als sie den Schmerz erkannten, mit dem er nach einem süßen
deutschen Wort in dieser fremden Welt wie nach einem Almosen seufzte, und sie
hatten's in ihrem milden Herzen und konnten's ihm geben, und waren deswegen da,
da lachten sie nicht mehr, und boten ihnen in deutscher Sprache und Rede die
Pflege und Liebe ihrer Eltern an, und führten sie zu ihnen. Die Väter hoben zwar
die Finger gegen ihre Töchter auf: „Was habt ihr getan!" - aber im Herzen waren
sie es froh. Sie zeigten sogleich der Obrigkeit an, was geschehen war, und der
menschenfreundliche Statthalter gab ihnen gerne die Erlaubnis, auf ihre
Bürgschaft zwar, ihre gefangenen Landsleute bei sich zu behalten, bis auf ein
weiteres.
Da gebrach ihnen auf einmal nichts mehr, da waren sie auf einmal aller
ihrer Leiden quitt, da verzogen sich alle ihre Bekümmernisse. Der Hauptmann in
dem Hause, das ihn aufgenommen hatte, wurde angesehen und geliebt, als ein
Bruder, der Lieutenant in dem seinigen als ein Sohn, von seiner schönen Retterin
auch noch ein wenig anderst, nämlich ebenso, wie sie von ihm, bis die Engel des
Friedens kamen. Als aber die Engel des Friedens kamen, schangschierte der
Lieutenant seinen Glauben, nämlich, daß er in der Uniform sterben werde. Er
verschaffte sich den Abschied von seinem Regiment, und freut sich jetzt als
Gatte der Liebe und der Jugend seiner schönen Retterin. Der Hauptmann aber
trennte sich von diesen edeln Menschen und von seinem jungen Freund mit einer
Rührung und mit einem Schmerz, der mehr Tränen als Worte hat, und kam
wohlbehalten wieder in Deutschland und bei den Seinigen an, und wer ihn sah, und
vorher gekannt hatte, wunderte sich sein. „Ei, wie seid Ihr so jung geworden,
Herr Hauptmann, in Eurer Gefangenschaft, Euch muß es nicht übel gegangen sein."
Der geneigte Leser darf an der Wahrheit dieser Erzählung nicht zweifeln, denn
der Hausfreund hat sie aus dem zweiten Mund. Nämlich der Hauptmann hat sie
selbst einem rheinländischen Herrn Kriegsobristen also mitgeteilt, der auch
weiß, wie man über die Berezina geht, und von dem Kriegsobristen aber hat sie
der Hausfreund, und hat seitdem schon manches Täublein mit ihm verzehrt, und
schon manches Schöpplein mit ihm herausgemacht, Fuchs oder Has.
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