Kindesdank und -undank
(1804)
Man findet gar oft, wenn man ein wenig aufmerksam
ist, daß Menschen im Alter von ihren Kindern wieder ebenso behandelt
werden, wie sie einst ihre alten und kraftlosen Eltern behandelt haben.
Es geht auch begreiflich zu. Die Kinder lernen's von den Eltern; sie
sehen's und hören's nicht anders, und folgen dem Beispiel. So wird es
auf die natürlichsten und sichersten Wege wahr, was gesagt wird und
geschrieben ist, daß der Eltern Segen und Fluch auf den Kindern ruhe und
sie nicht verfehle.
Man hat darüber unter andern zwei Erzählungen, von denen die erste
Nachahmung und die zweite große Beherzigung verdient.
Ein Fürst traf auf einem Spazierritt einen fleißigen und frohen Landmann
an dem Ackergeschäft an, und ließ sich mit ihm in ein Gespräch ein. Nach
einigen Fragen erfuhr er, daß der Acker nicht sein Eigentum sei, sondern
daß er als Tagelöhner täglich um 15 kr. arbeite. Der Fürst, der für sein
schweres Regierungsgeschäft freilich mehr Geld brauchte und zu verzehren
hatte, konnte es in der Geschwindigkeit nicht ausrechnen, wie es möglich
sei, täglich mit 15 kr. auszureichen, und noch so frohen Mutes dabei zu
sein, und verwunderte sich darüber. Aber der brave Mann im Zwilchrock
erwiderte ihm: „Es wäre mir übel gefehlt, wenn ich so viel brauchte. Mir
muß ein Dritteil davon genügen; mit einem Dritteile zahle ich meine
Schulden ab, und den übrigen Dritteil lege ich auf Kapitalien an." Das
war dem guten Fürsten ein neues Rätsel. Aber der fröhliche Landmann fuhr
fort, und sagte: „Ich teile meinen Verdienst mit meinen alten Eltern,
die nicht mehr arbeiten können, und mit meinen Kindern, die es erst
lernen müssen; jenen vergelte ich die Liebe, die sie mir in meiner
Kindheit erwiesen haben, und von diesen hoffe ich, daß sie mich einst in
meinem müden Alter auch nicht verlassen werden." War das nicht artig
gesagt, und noch schöner und edler gedacht und gehandelt? Der Fürst
belohnte die Rechtschaffenheit des wackern Mannes, sorgte für seine
Söhne, und der Segen, den ihm seine sterbende Eltern gaben, wurde ihm im
Alter von seinen dankbaren Kindern durch Liebe und Unterstützung redlich
entrichtet.
Aber ein anderer ging mit seinem Vater, welcher durch Alter und
Kränklichkeit freilich wunderlich geworden war,, so übel um, daß dieser
wünschte, in ein Armenspital gebracht zu werden, das im nämlichen Orte
war. Dort hoffte er wenigstens bei dürftiger Pflege von den Vorwürfen
frei zu werden, die ihm daheim die letzten Tage seines Lebens
verbitterten. Das war dem undankbaren Sohn ein willkommenes Wort. Ehe
die Sonne hinter den Bergen hinabging, war dem armen alten Greis sein
Wunsch erfüllt. Aber er fand im Spital auch nicht alles, wie er es
wünschte. Wenigstens ließ er seinen Sohn nach einiger Zeit bitten, ihm
die letzte Wohltat zu erweisen, und ihm ein paar Leintücher zu schicken,
damit er nicht alle Nacht auf bloßem Stroh schlafen müßte. Der Sohn
suchte die 2 schlechtesten, die er hatte, heraus, und befahl seinem
zehnjährigen Kind, sie dem alten Murrkopf ins Spital zu bringen. Aber
mit Verwunderung bemerkte er, daß der kleine Knabe vor der Tür eines
dieser Tücher in einen Winkel verbarg, und folglich dem Großvater nur
eines davon brachte. „Warum hast du das getan?" fragte er den Jungen bei
seiner Zurückkunft. - „Zur Aushülfe für die Zukunft", erwiderte dieser
kalt und bösherzig, „wenn ich Euch, o Vater! auch einmal in das Spital
schicken werde."
Was lernen wir daraus? - Ehre Vater und Mutter, auf dass es dir wohlgehe!
|