Herr Charles
(1818)
Eine wahre Geschichte
Ein Kaufmann in Petersburg, von Geburt ein Franzose, wiegte eben sein
wunderschönes Büblein auf dem Knie, und machte ein Gesicht dazu, daß er
ein wohlhabender und glücklicher Mann sei, und sein Glück für einen
Segen Gottes halte. Indem trat ein fremder Mann, ein Pole, mit vier
kranken halberfrorenen Kindern in die Stube. „Da bring ich Euch die
Kinder." Der Kaufmann sah den Polen kurios an. „Was soll ich mit diesen
Kindern tun? Wem gehören sie? Wer schickt Euch zu mir?" - „Niemand
gehören sie", sagte der Pole, „einer toten Frau im Schnee, 70 Stunden
herwärts Wilna. Tun könnt Ihr mit ihnen was Ihr wollt." Der Kaufmann
sagte: „Ihr werdet nicht am rechten Orte sein", und der Hausfreund
glaubt's auch nicht. Allein der Pole erwiderte, ohne sich irremachen zu
lassen: „Wenn Ihr der Herr Charles seid, so bin ich am rechten Ort", und
der Hausfreund glaubt's auch. Er war der Herr Charles.
Nämlich es hatte eine Französin, eine Witwe, schon lange im Wohlstande
und ohne Tadel in Moskau gelebt. Als aber vor 5 Jahren die Franzosen in
Moskau waren, benahm sie sich landsmannschaftlicher gegen sie, als den
Einwohnern wohlgefiel. Denn das Blut verleugnet sich nicht, und nachdem
sie in dem großen Brand ebenfalls ihr Häuslein und ihren Wohlstand
verloren, und nur ihre fünf Kinder gerettet hatte, mußte sie, weil sie
verdächtig sei, nicht nur aus der Stadt, sondern auch aus dem Land
reisen. Sonst hätte sie sich nach Petersburg gewendet, wo sie einen
reichen Vetter zu finden hoffte. Der geneigte Leser will bereits etwas
merken. Als sie aber in einer schrecklichen Kälte und Flucht, und unter
unsäglichen Leiden schon bis nach Wilna gekommen war, krank und aller
Bedürfnisse und Bequemlichkeiten für eine so lange Reise entblößt, traf
sie in Wilna einen edlen russischen Fürsten an, und klagte ihm ihre Not.
Der edle Fürst schenkte ihr dreihundert Rubel, und als er erfuhr, daß
sie in Petersburg einen Vetter habe, stellte er ihr frei, ob sie ihre
Reise nach Frankreich fortsetzen, oder ob sie mit einem Paß nach
Petersburg umkehren wolle. Da schaute sie zweifelhaft ihr ältestes
Büblein an, weil es das verständigste und das kränkste war. „Wo willst
du hin, mein Sohn?" „Wo du hingehst, Mutter", sagte der Knabe, und hatte
recht. Denn er ging noch vor der Abreise ins Grab.
Also versah sie sich mit dem Notwendigen, und akkordierte mit einem
Polen, daß er sie für fünfhundert Rubel nach Petersburg brächte zum
Vetter; denn sie dachte, er wird das Fehlende schon darauflegen. Aber
alle Tage kränker auf der langen beschwerlichen Reise starb sie am
sechsten oder siebenten. - „Wo du hingehst", hatte der Knabe gesagt, und
der arme Pole erbte von ihr die Kinder, und konnten miteinander soviel
reden, als ein Pole verstehen mag, wenn ein französisches Kind russisch
spricht, oder ein Französlein, wenn man mit ihm reden will auf polnisch.
Nicht jeder geneigte Leser hätte an seiner Stelle sein mögen. Er war es
selber nicht gern. „Was anfangen jetzt?" sagte er zu sich selbst.
„Umkehren - wo die Kinder lassen? Weiterfahren - wem bringen?" Tue, was
du sollst, sagte endlich etwas in seinem Inwendigen zu ihm. Willst du
die armen Kinder um das Letzte und Einzige bringen, was sie von ihrer
Mutter zu erben haben, um dein Wort, das du ihr gegeben hast? Also
kniete er mit den unglücklichen Waisen um den Leichnam herum, und betete
mit ihnen ein polnisches Vaterunser. „Und führe uns nicht in
Versuchung." Hernach ließ jedes ein Händlein voll Schnee zum Abschied
und eine Träne auf die kalte Brust der Mutter fallen, nämlich, daß sie
ihr gerne die letzte Pflicht der Beerdigung antun wollten, wenn sie
könnten, und daß sie jetzt verlassene unglückliche Kinder seien.
Hernach fuhr er getrost mit ihnen weiter auf der Straße nach Petersburg,
denn es wollte ihm nicht eingehen, daß der ihm die Kindlein anvertraut
hatte, könne ihn stecken lassen, und als die große Stadt vor seinen
Augen sich ausdehnte, wie ein Hauderer tut, der auch erst vor dem Tor
fragt, wo er stillhalten soll, erkundigt er sich endlich bei den
Kindern, so gut er sich verständlich machen konnte, wo denn der Vetter
wohne, und erfuhr von ihnen, so gut er sie verstehen konnte: „Wir
wissen's nicht." - Wie er denn heiße? „Wir wissen's auch nicht." - Wie
denn ihr eigener Geschlechtsname sei? „Charles." Der geneigte Leser will
schon wieder etwas merken, und wenn's der Hausfreund für sich zu tun
hätte, so wäre der Herr Charles der Vetter. Die Kinder wären versorgt,
und die Erzählung hätte ein Ende. Allein die Wahrheit ist oft sinniger
als die Erdichtung. Nein der Herr Charles ist der Vetter nicht, sondern
dieses Namens ein anderer, und bis auf diese Stunde weiß noch niemand,
wie der wahre Vetter eigentlich heißt, nicht ob und wo in Petersburg er
wohnt.
Also fuhr der arme Mann in großer Verlegenheit zwei Tage lang in der
Stadt herum und hatte Französlein feil. Aber niemand wollte ihn fragen:
„Wie teuer das Pärlein?" und der Herr Charles begehrte sie nicht einmal
geschenkt, und war noch nicht willens, eines zu behalten. Als aber ein
Wort das andere gab, und ihm der Pole schlicht und menschlich ihr
Schicksal und seine Not erzählte, „eins", dachte er, „will ich ihm
abnehmen", und es füllte sich immer wärmer in seinem Busen: „Ich will
ihm zwei abnehmen", dachte er, und als sich endlich die Kinder um ihn
anschmiegten, meinend, er sei der Herr Vetter, und anfingen auf
französisch zu weinen, denn der geneigte Leser wird auch schon bemerkt
haben, daß die französischen Kinder anders weinen, und als der Herr
Charles die Landesart erkannte, da rührte Gott sein Herz an, daß ihm
ward, wie einem Vater, wenn er die eigenen Kinder weinen und klagen
sieht, und „in Gottes Namen", sagte er, „wenn's so ist, so will ich mich
nicht entziehen", und nahm die Kinder an. „Setzt Euch ein wenig nieder",
sagte er zu dem Polen, „ich will Euch ein Süpplein kochen lassen."
Der Pole, mit gutem Appetit und leichtem Herzen, aß die Suppe und legte
den Löffel weg, - er legte den Löffel weg, und blieb sitzen - er stand
auf und blieb stehen. „Seid so gut", sagte er endlich, „und fertigt mich
jetzt ab, der Weg nach Wilna ist weit. Auf fünfhundert Rubel hat die
Frau mit mir akkordiert"; da fuhr es doch dem milden Menschen, dem Herrn
Charles, über das Gesicht, wie der Schatten einer fliegenden
Frühlingswolke über die sonnenreiche Flur. „Guter Freund", sagte er,
„Ihr kommt mir ein wenig kurios vor. Ist's nicht genug, daß ich Euch die
Kinder abgenommen habe, soll ich Euch auch noch den Fuhrlohn bezahlen?"
Denn das kann dem redlichsten und besten Gemüt begegnen, wenn's ein
Kaufmann ist, jedem andern aber auch, daß es wider Wissen und Willen
zuerst ein wenig handeln und markten muß, sei es auch nur mit sich
selbst. Der Pole erwiderte: „Guter Herr, ich will Euch nicht ins Gesicht
sagen, wie Ihr mir vorkommt. Ist's nicht genug, daß ich Euch die Kinder
bringe? Sollt ich sie auch noch umsonst geführt haben. Die Zeiten sind
bös und der Verdienst ist gering." - „Eben deswegen", sagte Herr
Charles, „darüber laßt mich klagen. Oder meint Ihr, ich sei so reich,
daß ich fremde Kinder aufkaufe, oder so gottlos, daß ich mit ihnen
handle? Wollt Ihr sie wieder?"
Als aber noch einmal ein Wort das andere gab, und der Pole jetzt erst
mit Staunen erfuhr, daß der Herr Charles gar nicht der Vetter sei,
sondern nur aus Mitleiden die armen Waisen angenommen habe, „wenn's so
ist", sagte er, „ich bin kein reicher Mann, und Eure Landsleute, die
Franzosen, haben mich auch nicht dazu gemacht, aber wenn's so ist, so
kann ich Euch nichts zumuten. Tut den armen Würmlein Gutes dafür", sagte
der edle Mensch, und es trat ihm eine Träne ins Auge, die wie aus einem
überwältigten Herzen kam, wenigstens überwältigte sie dem Herrn Charles
das seinige. „Monsieur Charles", dachte er, „und ein armer polnischer
Fuhrmann" -und als der Pole schon anfing, eines der Kinder nach dem
andern zum Abschied zu küssen, und sie auf polnisch zur Folgsamkeit und
Frömmigkeit ermahnte, „guter Freund", sagte der Herr Charles, „bleibt
noch ein wenig da. Ich bin doch so arm nicht, daß ich Euch nicht Euern
wohlverdienten Fuhrlohn bezahlen könnte, so ich doch die Fracht Euch
abgenommen habe", und gab ihm die fünfhundert Rubel. Also sind jetzt die
Kindlein versorgt, der Fuhrlohn ist bezahlt, und so ein, oder der andere
geneigte Leser vor den Toren der großen Stadt hätte zweifeln mögen, ob
der Vetter auch zu finden seie, und ob er's tun werde, so hat doch die
heilige Vorsehung ihn nicht einmal dazu vonnöten gehabt.
[Aus dem Kalender „Rheinblüten", Jahrgang 1818]
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