Gute Geduld
(1812)
Ein Franzos ritt eines Tages auf eine Brücke zu, die über
ein Wasser ging und fast schmal war, also dass sich zwei Reitende kaum
darauf ausweichen konnten. Ein Engländer von der anderen Seite her ritt
auch auf die Brücke zu, und als sie auf der Mitte derselben
zusammenkamen, wollte keiner dem anderen Platz machen. „Ein Engländer
geht keinem Franzosen aus dem Wege,“ sagte der Engländer, „Par Dieu,“
erwiderte der Franzos, „mein Pferd ist auch ein Engländer. Es ist
schade, das ich hier keine Gelegenheit haben, es umzukehren, und Euch seinen Stumpfschweif zu zeigen. Also lasst doch wenigstens Euern
Engländer, auf dem Ihr reitet, meinem Engländer, wo ich drauf reite, aus
dem Wege gehen. Euerer scheint ohnehin der Jüngere zu sein; meiner hat
noch unter Ludwig dem Vierzehnten gedient, in der Schlacht bei Käferolse Anno 1702.“
Allein der Engländer machte sich
wenig aus diesem Einfall, sondern sagte: „Ich kann warten: Ich habe jetzt
die schönste Gelegenheit, die heutige Zeitung zu lesen, bis es euch gefällt,
Platz zu machen.“ Also zog er kaltblütig, wie die Engländer sind, eine
Zeitung aus der Tasche, wickelte sie auseinander wie eine Handzwehle, und
las darin eine Stunde lang, auf dem Ross und auf der Brücke,
und die Sonne sah
nicht aus, als wenn sie den Toren noch lange zusehen wollte, sondern
neigte sich stark gegen die Berge. Nach einer Stunde aber, als er fertig
war und die Zeitung wieder zusammenlegen wollte, sah er den Franzosen an
und sagte: „Eh bien!“ Aber der Franzos hatte den Kopf auch nicht
verloren, sondern erwiderte: „Engländer, seid so gut, und gebt mir jetzt
Eure Zeitung auch ein wenig, dass ich ebenfalls darin lesen kann, bis es
Euch gefällt auszuweichen.“ Als aber der Engländer diese Geduld
seines Gegners sahe, sagte er: „Wisst Ihr was, Franzos? Kommt, ich
will Euch Platz machen.“ Also machte der Engländer dem Franzosen Platz.
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