Ein gutes Rezept
(1810)
In Wien der Kaiser
Joseph war ein weiser und wohltätiger Monarch, wie jedermann weiß, aber
nicht alle Leute wissen, wie er einmal der Doktor gewesen ist, und eine
arme Frau kuriert hat. Eine arme kranke Frau sagte zu ihrem Büblein:
„Kind hol mir einen Doktor, sonst kann ich's nimmer aushalten vor
Schmerzen." Das Büblein lief zum ersten Doktor und zum zweiten, aber
keiner wollte kommen, denn in Wien kostet ein Gang zu einem Patienten
einen Gulden, und der arme Knabe hatte nichts als Tränen, die wohl im
Himmel für gute Münze gelten, aber nicht bei allen Leuten auf der Erde.
Als er aber zum dritten Doktor auf dem Weg war, oder heim, fuhr langsam
der Kaiser in einer offenen Kutsche an ihm vorbei. Der Knabe hielt ihn
wohl für einen reichen Herrn, ob er gleich nicht wußte, daß es der
Kaiser ist, und dachte: Ich will's versuchen. „Gnädiger Herr", sagte er,
„wolltet Ihr mir nicht einen Gulden schenken, seid so barmherzig!" Der
Kaiser dachte: „Der faßt's kurz, und denkt, wenn ich den Gulden auf
einmal bekomme, so brauch ich nicht sechzigmal um den Kreuzer zu
betteln." „Tut's ein Käsperlein oder zwei Zwanziger nicht auch?" fragt
ihn der Kaiser. Das Büblein sagte: „Nein", und offenbarte ihm, wozu er
das Geld benötigt sei. Also gab ihm der Kaiser den Gulden, und ließ sich
genau von ihm beschreiben wie seine Mutter heißt, und wo sie wohnt, und
während das Büblein zum dritten Doktor springt, und die kranke Frau
betet daheim, der liebe Gott wolle sie doch nicht verlassen, fährt der
Kaiser zu ihrer Wohnung und verhüllt sich ein wenig in seinen Mantel,
also daß man ihn nicht recht erkennen konnte, wer ihn nicht darum ansah.
Als er aber zu der kranken Frau in ihr Stüblein kam, und sah recht leer
und betrübt darin aus, meint sie, es ist der Doktor, und erzählt ihm
ihren Umstand, und wie sie noch so arm dabei sei, und sich nicht pflegen
könne. Der Kaiser sagte: „Ich will Euch dann jetzt ein Rezept
verschreiben" und sie sagte ihm, wo des Bübleins Schreibzeug ist. Also
schrieb er das Rezept, und belehrte die Frau, in welche Apotheke sie es
schicken müsse, wenn das Kind heimkommt, und legte es auf
den Tisch. Als er aber kaum eine Minute fort
war, kam der rechte Doktor auch. Die Frau verwunderte sich nicht wenig, als sie hörte, er sei auch der Doktor, und
entschuldigte sich, es sei schon so einer da gewesen und hab ihr etwas verordnet, und sie habe nur auf ihr Büblein gewartet, Als aber der Doktor das Rezept in die Hand nahm und sehen wollte, wer bei ihr gewesen sei und was für einen Trank oder Pillelein er ihr verordnet hat, erstaunte er auch nicht wenig, und sagte zu ihr: „Frau", sagte er, „Ihr seid einem
guten Arzt in die Hände gefallen, denn er hat Euch fünfundzwanzig Dublonen verordnet, beim Zahlamt zu erheben, und unten dran steht: Joseph, wenn Ihr ihn kennt. Ein solches Magenpflaster und Herzsalbe und Augentrost hätt ich Euch nicht verschreiben können." Da tat die Frau einen Blick gegeden Himmel und konnte nichts sagen vor Dankbarkeit und
Rührung, und das Geld wurde hernach richtig und ohne
Anstand von dem Zahlamt ausbezahlt, und der Doktor verordnete ihr eine Mixtur und durch die gute Arznei und
durch die gute Pflege, die sie sich jetzt verschaffen konnte,
stand sie in wenig Tagen wieder auf gesunden Beinen. Also
hat der Doktor die kranke Frau kuriert, und der Kaiser die
arme, und sie lebt noch und hat sich nachgehends wieder verheiratet.
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