39. Die Salbung in
Bethania.
Sechs Tage vor Ostern kehrte Jesus
nach Bethania zurück, daß er von da nach Jerusalem ginge zu dem
Osterfest. Unterwegs bereitete er seine Jünger noch einmal auf sein
Schicksal vor. Sein Herz war mit Todesgedanken erfüllt; denn er wußte
alles, was ihm diesmal in Jerusalem widerfahren würde. »Siehe,« sprach
er, »wir ziehen hinauf gen Jerusalem, und des Menschen Sohn wird den
Hohenpriestern und Schriftgelehrten überliefert werden, und sie werden
ihn zum Tode verurteilen. Sie werden ihn den Heiden überantworten, daß
er verspottet, gegeißelt und gekreuzigt werde. Aber am dritten Tag wird
er auferstehen.« Solches wiederholte er seinen Freunden zur Vorbereitung
und zum Trost. Aber sie verstanden es nicht. Ihr Herz konnte den
traurigen und erfreulichen Sinn dieser Worte nicht fassen.
Aber welch ein lieber, willkommener Gast war er, als er wieder nach
Bethania zu seinen getrösteten Freunden kam! Sie wußten auch nicht, daß
er nur auf dem Weg zu seinem Tod bei ihnen einkehrte. Ein Freund, namens
Simon, bat ihn zur Mahlzeit. Lazarus, den er von dem Tod erweckt hatte,
sass mit zu Tische. Die geschäftige Martha wartete auf. Die stille Maria
aber trat während der Mahlzeit zu Jesu mit einem Gefäß voll köstlichen
Nardenöls. Denn im Morgenland gehörte das zu den guten Gebräuchen, wenn
man einem werten Gast eine besondere Ehre erzeigen wollte, daß man sein
Haupt mit kostbaren, wohlriechenden Salben oder Ölen befeuchtete. Tiefe
Ehre wollte das fromme, zarte Gemüt der Maria dem Herrn antun. Weil sich
Jesus diesmal nicht in ihrem eigenen Hause bewirten ließ, so wollte sie
ihm ihre unaussprechliche Liebe und Dankbarkeit in dem Hause des Simon
an den Tag legen. Sie öffnete das Gefäß und benetzte mit dem köstlichen,
duftenden Balsam, der darin war, das Haupt, ja auch die Füße Jesu und
trocknete sie demutsvoll wieder mit ihren Haaren. Diese Ehrenbezeigung
nahm Jesus mit freundlichem Wohlgefallen auf. Sie kam aus einem frommen
Herzen, das ganz von Dank und Liebe und Demut erfüllt und bewegt war.
Aber wie ungleich sind die Gemüter der Menschen! Wie kann auch das
edelste Gemüt mißkannt und getadelt werden! Einer von den Jüngern, Judas
Ischariot, ein finsterer Geselle, sprach: »Hätte man diese Salbe nicht
für dreihundert Groschen verkaufen und das Geld unter die Armen
verteilen können?« Es war ihm nicht um die Armen zu tun, sondern um
sich; denn er empfing das Geld für die gemeinschaftlichen Ausgaben und
für die Almosen in seine Verwaltung und war daran ein Dieb. Aber auch
einige andere Jünger, die doch so gutmütig waren, ließen sich durch
seine Reden irreleiten und sagten das nämliche, was er.
Wie mögen der armen Maria diese Reden so wehe getan haben! Doch Jesus
nahm sich ihrer an und tröstete sie mit seinem Beifall. Den Redlichen,
wenn die Menschen seine guten Absichten nicht verstehen, tröstet der
Himmlische mit seinem Beifall. »Laßt sie zusrieden,« sprach Jesus; »was
bekümmert ihr sie? Sie hat ein gutes Werk an mir getan. Arme habt ihr
allezeit um euch, und so ihr wollt, könnt ihr ihnen Gutes tun. Mich aber
habt ihr nicht allezeit.« Ja, er gab ihrer Handlung noch eine schöne,
rührende Bedeutung, daß Maria ihn durch diese Salbung bereits zu seiner
Begräbnis eingeweiht habe, weil man in jener Zeit auch die Gestorbenen
vor ihrer Begräbnis zu salben pflegte. »Wahrlich,« sprach er, »ich sage
euch: Wo das Evangelium gepredigt wird in aller Welt, da wird man auch
das sagen zu ihrem Gedächtnis, das sie getan hat.«
Also steht es jetzt auch hier geschrieben, daß es gelesen werde zu ihrem
Gedächtnis. Viele fromme Worte, Werke und Tränen der Dankbarkeit und
Liebe sind schon aus manchem bewegten Herzen hervorgegangen, von denen
niemand mehr etwas weiß, wiewohl im Himmel sind sie nicht vergessen.
Aber was die fromme Schwester des Lazarus in dem Hause des Simon tat,
bleibt unvergessen, auch auf der Erde, wie Jesus gesagt hat. Wo das
Evangelium verkündet wird in aller Welt, da sagt man auch zu ihrem
Gedächtnis, was sie getan hat, und erfreut sich ihres frommen, zarten
Sinnes bis auf diese Stunde.
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