15. Der Kranke zu
Bethesda.
Als einst Jesus wieder in Jerusalem
auf einem Fest war, besuchte er an einem Sabbattag unter andern auch die
Hallen des heilsamen Bades zu Bethesda. Da saßen und lagen unaufhörlich
viele Kranke von aller Art, Blinde, Lahme, Abgezehrte, und warteten auf
die Bewegung des Wassers. Denn dieses Bad war nicht immer gleich kräftig
und heilsam, sondern nur zu gewissen Zeiten bewegte ein Engel das
Wasser.
Sobald nun das Wasser bewegt wurde und wallete, augenblicklich gingen
die Kranken hinein, oder wer nicht gehen konnte, der hatte einen Sohn
oder einen Bruder oder einen Freund, der ihm hineinhalf, daß er gesund
wurde; denn wer zu rechter Zeit hineinkam, der wurde gesund. Nur ein
armer, kranker Mann hatte niemand. Er lag schon achtunddreissig Jahre an
diesem Ort und nährte sich unterdessen ohne Zweifel von Almosen. Aber zu
dem Köstlichsten, was ein Mensch haben und wünschen kann, zur
Gesundheit, half ihm niemand. Es waren immer andere da, und das Bad
hatte nur fünf Abteilungen oder Hallen. Arme Menschen haben im Unglück
wenig Freunde auf der Erde, aber einen im Himmel. Gott weiß jedem seine
Zeit. Jesus fragte den kranken Menschen: »Willst du gesund werden?« Der
Kranke dachte nicht daran, daß feine Freudenstunde so nahe sei. Er
meinte, dieser freundliche fremde Mann, den er nicht kannte, wolle nur
auch etwas mit ihm reden, wie leutselige Menschen zu tun pflegen.
»Herr,« sagte er, »ich habe keinen Menschen, wenn das Wasser sich
bewegt, der mir hineinhelfe, und bis ich komme, so steigt schon ein
anderer vor mir hinein.« Darauf sprach Jesus zu ihm voll Güte und
Erbarmen: »Stehe auf! Nimm dein Bett mit dir und gehe hin!« Da schwanden
auf einmal ohne das Wasser und ohne den Engel alle Schmerzen aus den
Gliedern des lange geprüften Mannes. Da drang wieder das erquickende
Gefühl des Wohlseins und der Kraft durch sein ganzes Wesen. Er stand
auf, gesund und stark, nahm sein Bett und ging fort.
Gutgesinnte Menschen freuen sich jetzt noch über die unverhoffte
Rettung, die diesem armen Menschen widerfahren ist, und haben Jesum lieb
dafür. Sie sagen, das sei eine schöne, gottgefällige Feier eines
heiligen Tages, daß man unglückliche Menschen besuche und ihnen Trost
und Hilfe bringe. Die Juden aber, als der Genesene mit seinem Bette
durch das Volk ging, sagten zu ihm: »Weißt du nicht, daß heute Sabbat
ist? Es ziemt dir nicht, am Sabbat das Bett zu tragen.« Es war nämlich
durch ein Gesetz des Moses verboten, an einem solchen Tag eine Last zu
tragen. Aber hier ist mehr als Moses! Der Genesene antwortete ihnen:
»Der mich gesund gemacht hat, der sprach zu mir: Nimm dein Bett und gehe
hin!« Er meinte auch, so einer könne ein Wort mehr reden; aber wer es
war, konnte er ihnen nicht sagen. Nachher aber fand ihn Jesus im Tempel
wieder und sprach zu ihm, als wenn er vorher etwas vergessen hätte, oder
weil er es ihm nicht vor den Leuten sagen wollte: »Siehe zu,« sprach er,
»du bist nun gesund worden, sündige hinfort nicht mehr, daß dir nicht
etwas Ärgeres widerfahre.« Denn der Genesene hatte sich seine lange
schmerzhafte Krankheit durch eine Sünde zugezogen. Die Sünde bringt
nichts Gutes. Als nun die Juden erfuhren, daß es Jesus gewesen sei,
verfolgten sie ihn und wollten ihn töten, weil er solches getan hatte an
einem Sabbattag. Unter einem so verkehrten Geschlechte lebte der fromme
Menschensohn. Jesus sprach hierauf zu ihnen: »Mein Vater ist
unaufhörlich wirksam, nämlich auch am Sabbattag, und ich bin es auch.
Was der Vater tut, das tut auch der Sohn.«
Die Juden trachteten nun noch mehr ihn zu töten, weil er Gott seinen
Vater nannte und sich ihm gleichmachte. Aber Jesus fuhr fort, sich zu
rechtfertigen, »daß der Vater den Sohn liebe und ihm alles übergeben
habe, auf daß alle den Sohn ehren, wie sie den Vater ehren, der ihn
gesandt hat. Wundert euch des nicht,« sagte er; »denn es kommt die
Stunde, in welcher alle, die in den Gräbern sind, werden seine Stimme
hören, und werden hervorkommen, die Gutes getan haben, zur Auferstehung
des Lebens, die aber Böses getan haben, zur Auferstehung des Gerichts.
Wahrlich, ich sage euch, wer meinen Worten Gehör gibt und glaubt dem,
der mich gesandt hat, der kommt nicht in das Gericht; sondern er ist vom
Tod zum Leben hindurchgedrungen.« Hierauf ließen die Juden von ihm ab,
obgleich er ihnen noch mit kräftigem Wort ihre Untugend vorhielt. Denn
seine Stunde war noch nicht da.
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