10. Das Weib von Samaria.
Jesus kehrte hieraus von Jerusalem
wieder nach Galiläa in seine Heimat zurück. Nach Jerusalem kam er nur zu
den hohen Festen und zu seinem Tod.
Auf der Reise, als er durch das Land Samaria zog, nahe bei der Stadt
Sichar, setzte er sich an einen Brunnen, der noch von Jakobs Zeiten her
berühmt war, und war allein. Seine Jünger kauften Speise in der Stadt.
Indem kommt aus der Stadt ein verständiges und merksames Weib, Wasser zu
schöpfen aus dem Brunnen. Jesus wollte ihr Gelegenheit geben, ihr Herz
zu einer Rede gegen ihn zu öffnen. Er sprach: »Gib mir zu trinken.« Denn
weil der Brunnen tief war, mußte man ein Gefäß zum Schöpfen haben, und
das Weib hatte ein solches mitgebracht. Das Weib wunderte sich, daß sie
Jesus um eine Gefälligkeit ansprach, weil zwischen den Juden und
Samaritern von alten Zeiten her keine Gemeinschaft war. Aber Jesus war
nicht so. Er sprach zu ihr: »Wenn du wüßtest, wer der ist, der mit dir
redet, du würdest ihn bitten, daß er dir lebendiges Wasser gebe.« Wie
das Wasser zur Stärkung und Erquickung des leiblichen Lebens getrunken
wird, also bot ihr Jesus Stärkung und Erquickung für die Seele an. Die
Frau sprach mit redseliger Antwort: »Bist du mehr als unser Vater Jakob,
der uns diesen Brunnen gegeben hat; und er hat daraus getrunken und
seine Kinder und sein Vieh?« So hatte sie von ihren Eltern gehört. Es
ist schön, daß man das Andenken der Vorfahren ehrt und die Eltern den
Kindern sagen, wo sie gelebt und was sie gestiftet haben. Der
heimatliche Boden wird so- zusagen heilig dadurch.
Jesus redete weiter mit der Frau: »Wer des Wassers trinkt, das ich ihm
gebe, den wird ewig nicht dürsten; sondern es wird ihm ein Brunnen
werden, der in das ewige Leben quillt.« Das Weib wollte ihn noch nicht
recht verstehen. Jesus sagte zu ihr: »Rufe deinen Mann her!« Das Weib
sprach: »Ich habe keinen Mann.« Er erwiderte ihr: »Du hast recht gesagt.
Fünf Männer hast du gehabt, und der, welchen du nun hast, der ist nicht
dein Mann.« Das kann nämlich heißen, daß er nicht sei, wie ein Mann
gegen seine Frau sein soll, und daß es so gut sei, als wenn er nicht ihr
Mann wäre. An dieser Rede erkannte sie, daß Jesus kein gewöhnlicher
Mensch sei. Sie sagte: »Herr, ich sehe, daß du ein Prophet bist.« Eine
andere hätte jetzt ein paar eigennützige und vorwitzige Fragen an ihn
getan. Aber sie hatte etwas Wichtigeres auf dem Herzen; sie sprach:
»Unsere Väter haben auf diesem Berge gebetet, und ihr saget, Jerusalem
sei der Ort, wo man Gott anbeten soll.« Jesus sprach: »Es kommt die
Zeit, wo ihr nicht auf diesem Berg und nicht in Jerusalem Gott anbeten
werdet; sondern die wahrhaftigen Anbeter werden den Vater im Geist und
in der Wahrheit anbeten. Denn Gott ist ein Geist, und die ihn anbeten,
müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.« Das ist schon ein
Tröpflein des Wassers, das die Seele erquickt und in das ewige Leben
fließt: »Gott ist der Vater aller Menschen. Er ist überall. Man kann ihn
überall ehren. Jedes Gebet ist ihm angenehm, wenn es aus dem Herzen geht
und aufrichtig gemeint ist.« Das Weib sprach: »Wenn der Messias kommt,
der wird uns alles lehren.« Sie wußte nicht, daß der nämliche, der mit
ihr redete, es sei. Man wartet oft noch auf Gottes Gnade, wenn sie schon
da ist. Jesus sprach: »Ich bin es, der mit dir redet.«
Unterdessen kamen die Jünger und brachten Speise. Aber das Herz Jesu war
so erfreut über diese Gelegenheit, an einer Seele etwas Gutes zu tun,
daß er nicht essen wollte. »Meine Speise«, sprach er, »ist die, daß ich
den Willen tue dessen, der mich gesandt hat.« Unterdessen war das Weib
in die Stadt geeilt und kam wieder zurück mit vielen Einwohnern. Als
diese Jesum sahen und hörten, glaubten viele an ihn, daß er sei der Welt
Heiland. Ja, sie baten ihn, daß er bei ihnen bleiben möchte.
Wer die Wahrheit redlich sucht, der findet sie. Wo die Wahrheit redlich
gesucht wird, da verschwindet der Religionshaß. Denn die wahrhaftigen
Anbeter beten den Vater im Geist und in der Wahrheit an. Jesus blieb
zwei Tage lang bei ihnen.
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