55. Daniel.
Die Gefangenschaft ist nicht so zu
verstehen, daß die Juden in Gefängnisse wären eingeschlossen worden,
sondern daß sie in einem fremden Lande unter der Herrschaft ihrer Sieger
leben, auch gezwungene Dienste tun mußten und nicht mehr in ihr
geliebtes Vaterland zurückkehren durften. Davon abgesehen, hatten sie in
ihrer Gefangenschaft gute Tage und böse Tage, wie es jeden traf.
Der König der Chaldäer befahl, daß aus den Gefangenen die geschicktesten
und feinsten Jünglinge von vornehmem Geschlecht ausgesucht und zu seinem
Hofdienst erzogen, auch unterrichtet würden in chaldäischer Sprache und
Schrift. Unter ihnen war Daniel. Diese Knaben wurden gut und vornehm
behandelt, ja sie erhielten ihre Speise und ihr Getränk von der Tafel
des Königs. Aber Daniel und einige seiner Freunde hielten es für Sünde,
Speisen von einer heidnischen Tafel zu essen, weil sie unrein in ihren
Augen waren. Darum wollten sie lieber nur gemeines Gemüse essen und
Wasser trinken, als etwas tun, was gegen ihr Gewissen wäre. Der
freundliche Aufseher über diese Knaben sagte ihnen, das sei schon recht:
aber es würde ihm große Gefahr bei dem König bringen, wenn der König
ihnen ansehe, daß sie nicht die gehörige Nahrung empfingen. Daniel
sprach zu ihm, er möchte eine Probe nur von zehn Tagen mit ihnen
anstellen. Nach zehn Tagen sahen sie zu seiner Verwunderung besser und
vollkommener aus als die andern Knaben alle. Von der Zeit an erhielten
sie, wie sie es wünschten, täglich ihr Gemüse und Wasser und gedeihten
dabei immer besser. Darin ist kein Wunder zu suchen, aber eine gute
Lehre. Nicht köstliche Speise und starke Getränke, auch nicht Vielessen,
sondern Mäßigkeit und Ordnung und Gottesfurcht, daß man nichts Böses
tue, das erhält den jugendlichen Körper gesund und gibt ihm ein schönes
Wachstum und kraftreiche Gliedmaßen.
Als aber die Knaben vor den König gebracht wurden, ward unter allen
niemand erfunden, der dem Daniel und seinen Freunden gleich wäre; auch
waren sie klüger und verständiger als alle Sternseher und Weisen im
ganzen Reich. Daniel gewann durch seine Aufführung die Gunst aller
Leute, die mit ihm umgingen, und gelangte an dem Hof der Könige in Babel
zu großer Ehre und Macht. Er wurde zuletzt Statthalter über den dritten
Teil des Königreichs. Aber in aller seiner Hoheit vergaß er sein armes
Vaterland und feine unglücklichen Landsleute nicht. Nein, er trauerte
mit ihnen, er betete für sie, er tröstete sie mit Rat und mit Tat und
dachte unaufhörlich nach, was noch ihr künftiges Schicksal sein würde.
Denn er konnte den Gedanken nicht fassen, daß Gott das Volk auf immer
verlassen habe, an welchem er so lange Jahrhunderte hindurch seine
besondere Vorsehung bewiesen hatte. Auf gleiche Weise wurden zwei andere
Juden, Esra und Nehemias, nach und nach angesehene und glückliche
Männer. Zwar wie konnte ein Herz glücklich sein, das Tag und Nacht an
Jerusalem und an die vorigen Zeiten dachte?
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