16. Joseph wird nach
Ägypten verkauft.
Die fremden Kaufleute brachten den
armen Joseph nach Ägypten und verkauften ihn dem Potiphar, dem Kämmerer
des Königs, zum leibeigenen Knecht. Als aber der Kämmerer den Verstand
und die Frömmigkeit des Josephs erkannte und sah, daß er ihm nützlich
sei - ein frommes und verständiges Herz findet überall Freunde - gewann
er ihn immer mehr lieb und setzte ihn zugleich über sein ganzes
Vermögen. Da war zwar Joseph auf einmal ein glücklicher Mensch; aber Potiphars Frau war ein gar böses Weib und mutete dem Joseph einmal um
das andere eine große Untreue gegen seinen Herrn zu. Joseph aber sprach
zu ihr: »Wie sollt’ ich ein so großes Übel tun und wider meinen Gott
sündigen?« Dies ist abermal ein Sternsprüchlein, mit welchem man auf
guten Wegen bleibt und zu Gott kommt, wenn’s auch durch ein Gefängnis
hindurchgehen sollte.
Als die Frau des Potiphars nicht zu ihrem Willen kommen konnte und
zuletzt fürchten mußte, daß sie verraten werde, sagte sie zu ihrem Mann:
»Der hebräische Knecht, den du in das Haus gebracht hast, hat mir eine
große Untreue gegen dich zugemutet.« Die Nachkommen Abrahams wurden in
Ägypten Hebräer genannt. Darum sagte sie: »der hebräische Knecht«. Als
sein Herr die Rede seines Weibes hörte, ward er sehr zornig und ließ den
Joseph ungehört und ungerechtfertigt in das Gefängnis werfen. So endeten
die guten Tage des Josephs in dem Hause des Potiphars.
Aber Gottes Gnade bleibt nicht zurück, wohin auch ein frommes und
unschuldiges Herz geworfen wird. Sie gibt sich ihm zu erkennen auf eine
oder die andere Art. Gott lenkte das Herz des Amtmanns über die
königlichen Gefängnisse, daß er bald ein gutes Zutrauen zu Joseph gewann
und ihm die Aufsicht und Pflege aller Gefangenen anvertraute. Daher
hatte er wieder leidliche Tage.
In derselbigen Zeit wurden zwei vornehme Hofbeamte des Königs, der
Mundschenk und der Bäcker, wegen eines Vergehens ebenfalls in das
nämliche Gefängnis gebracht, und Joseph erhielt die Aufsicht über sie
wie über die andern und diente ihnen. Eines Morgens aber, als er zu
ihnen kam, waren sie gar traurig und erzählten ihm, daß jedem von ihnen
ein Traum erschienen sei, und daß niemand sei, der ihnen ihre Träume
auslegen könne. Joseph sagte: »Die Auslegung der Träume ist von Gott;
aber erzählt mir die eurigen!«
Der Mundschenk begann: »Ich sah einen Weinstock, der hatte drei Zweige.
Er grünte, er wuchs, er blühte, und seine Trauben wurden reif. Ich
drückte die Beeren aus in den Becher des Königs und gab dem König den
Becher in die Hand.« Joseph sagte: »Ganz recht! Die drei Zweige sind
drei Tage; in drei Tagen wird der König dein Haupt erheben und dich
wieder in dein Amt setzen. Gedenke meiner, wenn es dir wohl geht, und
tue Barmherzigkeit an mir, daß ich aus dem Gefängnis erlöset werde.« -
Der Bäcker erzählte: »Ich trug drei Körbe auf dem Haupt und in dem
obersten Korbe allerlei gebackene Speise für den König, und die Vögel
aßen aus dem Korb auf meinem Haupte.« — Joseph sagte: »Die drei Körbe
sind drei Tage. In drei Tagen wird der König dein Haupt erheben und dich
an den Galgen henken.« Wie gesagt, so geschehen. Nach drei Tagen setzte
der König den Mundschenk wieder in sein Amt und ließ den Bäcker henken.
Aber der Mundschenk gedachte nicht mehr an Joseph, daß er ihn erlöst
hätte.
Gar oft vergessen die Menschen den treuen Dienst, der ihnen geleistet
worden ist, und den Dank dafür. Aber Gott vergißt die Unschuld nicht. Er
kennt die rechten Freudenstunden und weiß wohl, was uns nützlich sei.
Wenn er uns nur hat treu erfunden, aufrichtig, ohne Heuchelei, so kommt
er, eh’ wir’s uns versehn, und lässet uns viel Guts geschehn.
Nach zwei Jahren hatte Pharao auch einen Traum. Pharao, das ist der
König. Er sah aus dem Wasser aussteigen sieben schöne, fette Kühe und
hernach sieben magere Kühe. Die magern Kühe verschlangen die fetten und
wurden doch nicht fetter. Wiederum sah er sieben Ähren wachsen auf einem
Halm; die waren voll und dick, und wiederum sieben dünne, verdorrte
Ähren; diese verschlangen die vollen und wurden doch nicht dicker. Dies
hatte zu bedeuten, daß böse unfruchtbare Zeiten kommen würden für die
Viehzucht und für den Getreidebau. Als Pharao wegen dieses Traumes
bekümmert war, fiel dem Mundschenk seine Sünde ein, daß er des Josephs
vergessen habe, und sagte dem König, daß ein hebräischer Mensch in dem
Gefängnis sei, der habe einst ihm und dem gehenkten Bäcker ihre Träume
wahr gedeutet.
Alsogleich ward Joseph vor den König gebracht; der König erzählt ihm
seinen Traum. Joseph sagte: »Die Deutung der Träume ist von Gott. - Es
werden noch sieben reiche, fruchtbare Jahre über Ägypten kommen; hernach
werden sieben unfruchtbare und magere Jahre über Ägypten kommen. Es wird
eine große Not sein und das Land verzehren« Hierauf riet Joseph dem
König, Kornkammern anlegen zu lassen und sieben Jahre lang den fünften
Teil alles Getreides einzusammeln und aufzubewahren für die Jahre der
Not. Diese Rede gefiel dem König so wohl, und Joseph zeigte so viel
Verstand, daß der König sagte: »Wo können wir einen verständigeren Mann
finden, als Joseph ist, in welchem der Geist Gottes sei.« Also setzte er
den Joseph über sein ganzes Haus und über sein ganzes Land und erhob ihn
zu großen Ehren. Er nahm seinen Ring von der Hand und gab ihn dem Joseph
an seine Hand; er kleidete ihn mit weißer Seide und schmückte ihn mit
einer goldenen Kette; er ließ ihn auf einem königlichen Wagen fahren und
vor ihm ausrufen, daß er ihm eine väterliche Sorge für das Land
übertragen habe. So wurde er der Erste in Ägypten nach dem König und
erfüllte alles getreulich und klug, was er dem König selber geraten
hatte.
Das ist nun des Josephs wunderbarer Weg, den er wandeln mußte: aus des
Vaters Haus in eine tiefe Grube; aus der Grube als ein verkaufter Knecht
nach Ägypten in das Haus des Potiphars; aus dem Haus des Potiphars in
das Gefängnis; aus dem Gefängnis in des Königs Palast. Joseph war
dreißig Jahre alt, als er vor dem König stand.
Merke noch bei dieser Geschichte, was die Träume betrifft: Joseph legte
drei Träume aus. Das will ihm nun mancher betrügliche oder einfältige
Mensch nachtun. So nun jemand zu dir kommt und will dir einen Traum
deuten, zu dem sprich: »Die Auslegung ist von Gott; beweise mir aber
zuerst solche Proben von Gottesfurcht und Rechtschaffenheit, als Joseph
in dem Hause des Potiphars und in dem Gefängnis bewiesen hat, alsdann
will ich deiner Auslegung glauben, daß sie von Gott sei« |