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Das Glück in unheroischen Zeiten
Ich
beginne mit der Französischen Revolution: Das Jahr 1789 war für Johann
Peter Hebel ein Jahr der vergeblichen Gesuche: Im Februar wurde seinem
Ansuchen um eine Pfarrei nicht entsprochen, am 6. Dezember bewarb er
sich beim Markgrafen von Baden persönlich um die Stelle des Prorektors
am Lörracher Pädagogium, ebenfalls umsonst. Stürmische Bewegung in der
Weltgeschichte läuft mit einer Flaute im persönlichen Leben parallel.
Ganz anders bei Arno Geiger, denn mit der Französischen Revolution hat
sozusagen seine literarische Laufbahn begonnen: In seinem Debütroman von
1997, „Kleine Schule des Karussellfahrens", der im
Revolutionsjubiläumsjahr 1989 spielt, schließt der Autor die
Liebesabenteuer seines Anti-Helden Philipp Worovsky mit den
Wechselfällen der Französischen Revolution kurz. Philipp reflektiert an
einer Stelle:
„Jetzt fühlst du dich wahrhaft trostlos. Denn du weißt nichts und mußt
an die Comtes der Revolution denken, die versucht haben, dem Leben Aug
in Aug mit der Guillotine ein Bonmot abzugewinnen, einen dieser
eindringlichen Sätze, den Schriftsteller als Motto für ihre Bücher
verwenden: BEEILT EUCH, DIE STIEFEL KÖNNT IHR MIR LEICHTER AUSZIEHEN,
WENN ICH TOT BIN / UND ICH, DER ICH NOCH SOVIEL IN MEINEM KOPF HATTE!
„Du denkst an die Comtes, denen nichts eingefallen ist" (S. 24).
Anders als seiner Figur ist Arno Geiger seither sehr viel eingefallen.
Auch wenn dieser erste Roman vor allem durch seine spielerischen
Qualitäten besticht - Franz Haas hat es in der „Neuen Zürcher Zeitung"
so ausgedrückt: „Geigers brillantes Romandebut [...] ist ein großes
Kompendium von sprachlichen Kunststücken, die aber nicht nur künsteln
und sich selbst gefallen, sondern pausenlos eine Erzählung vorantreiben,
eine skurrile Fabel und zugleich eine atemberaubend gewöhnliche
Geschichte." -, auch wenn uns Arno Geiger hier als eine Art Taugenichts
entgegentritt, steckt in diesem Zitat doch auch ein Bild für die
existentielle Situation des Schriftstellers. So wie Scheherazade durch
ihr Erzählen nichts Geringeres als den Tod immer weiter hinausschiebt,
so ist sich auch Arno Geiger bewußt, daß es für einen Schriftsteller
darum geht, ANGESICHTS DER GUILLOTINE zu schreiben, in einer Situation,
in der es auf jedes Wort ankommt, auch wenn der Tod nicht unmittelbar in
Form des Fallbeils droht. Formale Sorgfalt und Präzision der
sprachlichen Formulierung sind von Anfang an Kennzeichen von Geigers
Schreiben, ganz so, als ob er sich die Mahnung des „Rheinischen
Hausfreundes" an das Söhnlein seines Verlegers zu Herzen genommen hätte:
„Du sollst dich bemühen, all deinem Werk und Tun das Siegel des
Vollkommenen zu geben, daß zuletzt kein anderer Mensch das nämliche in
seiner Art so gut machen kann als du."
Mit gerade noch neununddreißig Jahren ist Arno Geiger, geboren am 22.
Juli 1968 in Bregenz, einer der jüngsten Hebel-Preisträger bisher.
Soviel ich sehe, war nur ein anderer Vorarlberger, Michael Köhlmeier,
bei der Preisverleihung 1988 etwas jünger, nämlich achtundreißigeinhalb.
Geiger hat in den vergangenen zehn Jahren bereits fünf Prosabände
publiziert, alle im renommierten Münchner Hanser-Verlag: Nach der
„Kleinen Schule des Karussellfahrens" von 1997 folgten die Romane
„Irrlichterloh" (1999), „Schöne Freunde" (2002) und „Es geht uns gut"
(2005) sowie der Erzählband „Anna nicht vergessen" im Jahr 2007. 2001
hat er gemeinsam mit Heiner Link das Drama „Alles auf Band oder die
Elfenkinder" veröffentlicht. Das Rüstzeug für seine Art zu schreiben hat
er sich unter anderem auch durch ein Studium der Germanistik,
Vergleichenden Literaturwissenschaft und Alten Geschichte in Innsbruck
und Wien angeeignet.
Junge Männer wie er selbst sind auch die Hauptfiguren seiner ersten
beiden Romane, der schon erwähnte Verehrer der französischen Revolution
Philipp Worovsky ebenso wie Jonas Kreuzer, ebenfalls eine Art Schelm
oder Taugenichts, Tagträumer und Frauenverehrer in „Irrlichterloh". Er
hat nur solange studiert, wie das Stipendium reichte, arbeitet seither
tagsüber für eine Schilderfabrik, für die er Hausnummern und
Verbotstafeln entwirft und lebt in der Nacht seinen Anarchismus aus,
indem er Graffiti auf Verkehrsschilder sprüht und sich dadurch
Herzklopfen und den Thrill, ein verfolgter Künstler zu sein, verschafft:
„Deshalb investiert Jonas seine tagsüber unnützen Talente in die
Verbrechensspezialität, Verkehrsschilder, diese Insignien der
Unzweideutigkeit, zu erweitern, zu vereinfachen, sie mit Zeichen zu
versehen, die niemand je zuvor gesehen hat oder jeder schon einmal in
einem gänzlich anderen Zusammenhang.
Vergangene Nacht hat er östlich des Tiergartens besenberittene Hexen in
Stop- und Fahrverbotsschilder eingepaßt und anschließend, bis zwei
Streifenpolizisten auf ihn aufmerksam wurden,
Geschwindigkeitsbegrenzungen reduziert, auf 17, 32 und 32 1/2" (S. 12).
Ein „perfektes Sprach- und Zeichenspiel" ist auch dieser Roman,
konstruiert aus Elementen von Road-Movies, Relativitätstheorie,
Slapstick-Komik a la Woody Allen und literarischen Anspielungen. Geigers
frühe Romanfiguren sind Einsame, die Leichtigkeit vortäuschen und durch
die Massenwelt einer fiktiven Großstadt taumeln, die hinter der Liebe
herjagen und sich mit Ironie und großen Sprüchen über Wasser halten, wie
zum Beispiel: „Die toten Punkte des Lebens erweisen sich manchmal als
Kanaldeckel, die ein Entkommen ermöglichen" (S. 38).
Mit seinem dritten Roman „Schöne Freunde" von 2002 hat Arno Geiger eine
neue Ebene seines Schaffens erreicht. Stand bei ihm bisher das „Wie" des
Schreibens im Vordergrund, so ergibt sich hier eine kunstvolle Balance
zwischen einer Parabel über den Abschied von der Kindheit und das
Erkennen größerer Lebenszusammenhänge und einer präzis-poetischen,
spröden Sprache. „Schöne Freunde" ist ein „Textkonzentrat, das zu
genauer Lektüre zwingt": Ein Ich-Erzähler, dessen Name Carlo Kovacs nur
an zwei Stellen erwähnt wird, sonst heißt er immer „der Junge" oder „der
Kleine" oder „kleiner Idiot", weil ihn seine „schönen Freunde" für
beschränkt halten, dieser Carlo Kovacs, der in einem Dorf wohnt, das vom
Bergbau lebt, erzählt vom Ende her nach einer Katastrophe vom Leben in
diesem namenlosen Dorf, wo er vor dem Bergwerkstor zusammen mit einem
Ziehharmonikaspieler Almosen sammelte. Durch ein Grubenunglück mit
vielen Toten wird diese Idylle zerstört, der Direktor verläßt das Dorf
mit der Liste der Toten auf einem Schiff, gefolgt von Carlo und dem
Akkordeonspieler. Als Glanzpunkte eingesprengt in den düsteren
Erzählfluß sind kleine Novellen von jeweils ein paar Seiten, die
meisterlich von Glück und Unglück erzählen, etwa das Porträt des
„Sprengmeisters Binder", in dem dieser von sich und seinem Sieg bei
einem gigantischen Wettessen berichtet, durch den er aber die Liebe
seiner Frau verliert oder die Geschichte der „Aufräumerin Huthanen", die
ein einziges Mal zu spät zur Arbeit kommt, nämlich als sie entdeckt, daß
sie betrogen wird, weil ein Hotel die Bergschuhe ihres Mannes, den sie
auf einer Kur glaubt, mit der Post zurückschickt. Wer bei diesen knappen
und vielschichtigen Menschenportraits, meist von Angestellten und
Arbeitern im Bergwerksbetrieb, die mit großer Empathie, aber auch mit
Sinn für abgründige Komik geschrieben sind, an Johann Peter Hebel denkt,
geht sicher nicht fehl. Geigers formale Disziplin besticht auch hier
durch die souveräne Anordnung des Geschehens und die Klarheit der Prosa,
die dennoch eine faszinierend befremdliche, parabelhafte Atmosphäre
schafft. Als Beispiel seien nur die immer wieder fast rituell zitierten
Namen der bei dem Unglück Getöteten erwähnt, deren vollständige, vom
Direktor geführte Liste den Roman beendet. Der Klang dieser Namen - Karl
Abs, Hailil Adali, Bela Barothy, Isaak Binder, Georg Blemenschitz,
Stanislaus Cyganiewicz, Nino Equatore, Wenzel Goldbach, Otto Huhtanen,
Jan Martinson, Kurt Zehe, um nur einige zu nennen - in einem Roman, der
an keinem bestimmten Ort und in keiner bestimmten Zeit spielt, eröffnet
von ferne einen altösterreichischen Echoraum, der allerdings durch ein
paar skandinavische Elemente verfremdet wird.
Unerwartet und erstaunlich in seiner konkreten sozialen und historischen
Verankerung und in der Vielzahl der Figuren und Erzählperspektiven
erscheint der Entwicklungsschritt zu Geigers nächstem Roman „Es geht
uns gut", für den er 2005 den ersten Deutschen Buchpreis erhalten hat.
Es ist dies ein Familien- und Geschichtsroman aus Österreich, der
zeitlich vom Jahr 1938 bis ins Jahr 2001 reicht. Geiger erzählt aber
nicht einfach chronologisch drauflos, vorwärts oder zurück. Von der
eingangs erwähnten Guillotine hat er die Technik der scharfen Schnitte
gelernt: ausgehend vom Jahr 2001, in dem der junge Philipp Erlach, ein
erfolgloser Schriftsteller, zur Strafe die alte Familienvilla in einem
Wiener Nobelbezirk erbt und zu dem die Erzählung immer wieder
zurückkehrt, ist das Buch in 21 Kapitel gegliedert, die jeweils einen
Tag in den Jahren 1982, 1938, 1945, 1955, 1962, 1970, 1978 und 1989
schildern. Souverän springt der Erzähler vom Fluchtpunkt des Jahres 2001
immer wieder in die Vergangenheit dieser österreichischen Familie
zurück, die in dem Haus ihre Spuren hinterlassen hat.
Wie Arno Geiger das bewältigt, mit welcher Einfühlungsgabe und
Sprachkraft er die Mentalitäten von drei Generationen vorführt, hat die
staunende Bewunderung der Kritik erregt: „Wie kann ein Mittdreißiger
soviel Verständnis aufbringen für die mentale Gemengelage seiner so
grundverschiedenen Protagonisten aus drei Generationen? Wie schafft er
es, die unterschiedlichen sprachlichen Register zu finden, mit denen er
das Weltbild des autoritären Großvaterpatriarchen und seiner kultiviert
resignierten Frau ebenso angemessen zur Sprache bringt wie die Ansichten
der rebellischen Mutter und deren liebenswert unebenbürtigem
Schlamperdatsch von Mann samt beider Kinder, die im Bewußtseinshorizont
der siebziger Jahre aufgehen? Es ist ein Rätsel und grenzt an ein Wunder
- zumal bei einem Österreicher, dessen schreibende Kollegen uns oft
durch einen in die Ewigkeit verlängerten postpubertären Haß auf ihr Land
irritieren. Doch Arno Geiger versagt sich die griffigen Polemiken und
fügt dem nicht endenwollenden Lied vom ach so faschistischen Österreich
nicht noch eine weitere scheppernde Strophe hinzu. Man könnte sagen, mit
diesem Roman ist die österreichische Literatur nach 1945 endlich
erwachsen geworden.", meint etwa Tilman Krause in der „Literarischen
Welt".
Nicht in einem literarischen Kraftakt, sondern unspektakulär und
geradezu geruhsam geht Geiger auf die Vergangenheit zu, indem er private
und öffentliche Geschichte miteinander verzahnt, etwa in der Figur des
Großvaters Richard, Jahrgang 1900, eines Christlichsozialen, der in
gutbürgerlichen Verhältnissen lebt und seine Gattin mit dem
Kindermädchen betrügt, dem es 1938 gelingt, in die Unauffälligkeit
unterzutauchen und dessen Stunde nach dem Krieg gekommen ist, als er
Minister wird, die Unterzeichnung des Staatsvertrages allerdings wegen
eines akuten Eiterzahnes versäumt und der von seinen Parteifreunden in
den sechziger Jahren dann einfach aufs Abstellgleis geschoben wird. Zu
den berührendsten Szenen des Buches zählen die Schilderungen des Lebens
dieses im Alter zunehmend hinfälligen und vergeßlichen Großvaters mit
seiner Frau Alma, einer Bienenzüchterin.
Die Geschichte, die große, offizielle und die familiäre, ist bei Arno
Geiger in zwei Bilder gebannt: einmal in das Brettspiel „Kennst du
Österreich?", das der Sohn Peter in der Nachkriegszeit erfindet und ohne
Erfolg vertreibt und dann in das von Taubendreck verschmutzte,
verstaubte, mit Andenken erfüllte Haus der Großeltern, das Philipp erbt.
Er, der Enkel, der beschädigte Familienverweigerer, tritt in keine große
Tradition ein: Er verläßt am Schluß die Villa mit den zwei Leiharbeitern
aus der Ukraine, die er zum Ausmisten angestellt hat und fährt mit ihnen
zu einer Hochzeit in deren Heimat - ein weiterer Geiger'scher
Taugenichts, Spätentwickler, Tagträumer in der langen Reihe seit Philipp
Worovsky. Man kann hier, in diesem unheroischen, spielerischen und
dennoch präzisen Herangehen an die Geschichte, eine Verwandtschaft zu
Hebel entdecken, über den Robert Minder folgendes geschrieben hat:
„Hebel ist alles andere gewesen als ein Oskar Matzerath. Er war kein
Trommler und kein Tambour, der Reveille schlägt; in seiner behutsam
vorgehenden, freundlich zurückhaltenden, stets scharf beobachtenden Art
ist er eher ein Vorläufer von Hans Castorp, und in seiner Vorliebe für
die Zukurzgekommenen, ja die Gesetzesübertreter, die den Herren ein
Schnippchen schlagen, ein geheimer Bruder des Felix Krull, Hermes und
nicht Mars zugehörig."
In Arno Geigers letztem Buch, dem Erzählband „Anna nicht vergessen" von
2007, gibt es eine kleine, rätselhafte Erzählung „Neuigkeiten aus
Hokkaido", in der eine Person, ob Mann oder Frau wird nicht klar, an
einen Partner Briefe schreibt und darin seltsame, scheinbar
unzusammenhängende Begebenheiten aus Japan berichtet: über einen Mann,
der einen Hund, der ihn immer anbellte, stranguliert und grillt, über
ein Baby, das einen Brand in einem Haus überlebt, weil es ins Badezimmer
gekrochen ist und dort vor den herabstürzenden Teilen sicher war und das
später auf die Feuerwehrakademie gehen und lehren soll, wie man sich im
Brandfall verhält, über ein Paar, das zu den Flitterwochen in die USA
flog, aber mangels Sprachkenntnissen die ganze Woche im Hotel verbracht
hat und noch einige mehr. Diese Erzählung endet mit den Worten: „Ich
weiß, es gibt im Leben steile Berge und freundlicher geneigte
Landschaften. Aber ich klettere gerade auf einen der steilen Berge.
Vielleicht kannst du meine Situation verstehen. - Ja. - Wenn ich erst
einmal oben auf dem Berg bin, werde ich auch auf ebenen Feldern gehen
können. Daran glaube ich." (S. 148).
In diesem Bild steckt versteckt auch ein poetologisches Programm: Erst
wenn man sein Handwerk versteht, wenn man als Autor wie Arno Geiger die
steilen Berge der Romane erklommen hat, kann man sich der kleinen Form
widmen. Denn die kleine Form ist schwer, obwohl sie oft unterschätzt
wird, wie auch Hebel mit seinen Kalendergeschichten oft unterschätzt
wurde. In den zwölf Erzählungen dieses Bandes nun zeigen sich zwei
Eigenschaften des Autors Arno Geiger, die ihn zu einem würdigen Kollegen
von Johann Peter Hebel machen: Einfachheit und Sprachartistik. Und dazu
noch die Fähigkeit zum Unernst, zur komischen Übertreibung, zum Humor.
Arno Geiger erzählt auch hier von Menschen, die sich auf dem
absteigenden Ast befinden, die die Kurve nicht gekratzt haben, die sich
nicht in der Liebe, sondern in dem Zustand nach der Liebe befinden, wo
Ehen zerstört und Beziehungen aufgelöst werden: sei es Ella, die
alleinerziehende Mutter der Titelgeschichte, die mit ihrer Tochter Anna
nicht klarkommt und ihr Brot als von den Ehefrauen bezahlter Lockvogel
für potentiell untreue Ehemänner verdient, sei es der Kontrollfreak, der
seiner Freundin, die ihn verlassen will, hinterhertelefoniert, sei es
der Ehemann, der die gemeinsame Wohnung in der gleichnamigen Erzählung
als „Feindesland" empfindet. „Alle ihre Klientinnen sind so, so wie sie
selbst, auf der stimmungsmäßigen Talfahrt" (S. 8), heißt es in der
Titelgeschichte. Geigers Thema in diesem Buch ist, wie er es in einigen
Interviews klargestellt hat, nicht der große historische Bogen, wie in
seinem Roman „Es geht uns gut", sondern der Alltag, der Mikrokosmos, die
Flüchtigkeit des Daseins.
Diesen Alltag, der immer historisch verortet ist, bringt er mit
sorgfältig recherchierten Details ins Spiel. Für einen Marsmenschen,
der lesen könnte und der nach dem Weltuntergang dieses Buch in die Hand
bekäme, würde sich aus den zwölf Texten auch ein Bild des Zustands
mitteleuropäischer Seelen zu Beginn des 21. Jahrhunderts und ihrer
Beziehungsstrukturen ergeben: Keiner und keine glaubt mehr an die Liebe,
alle arbeiten nur an ihren Beziehungen, die Begabteren treiben es in
Nebenzimmern, während die Katze auf dem Küchentisch operiert wird oder
zwischen Buchpaletten, während wildgewordene sozialistische Genossen
Schießübungen veranstalten, wie in der satirischen
Udo-Proksch-Geschichte „Sonntagshunde".
Als Erzähler schlüpft Arno Geiger in die verschiedensten Rollen:
Manchmal gibt er sich traditionell, wie in „Koffer mit Inhalt" oder in
„Abschied von Berlin", dann aber läßt er auch einzelne Figuren in
Monologen räsonieren, wie die Wienerin, die sich über ihren Untermieter,
einen Schriftsteller, beschwert, oder die Frau, die ihrem treulosen
Geliebten nach Australien Tonbänder schickt (die Geschichte spielt 1973,
damals war Telefonieren noch unerschwinglich teuer). Ein besonderes
Glanzstück erzählerischer Raffinesse ist „Das Gedächtnisprotokoll", wo
aus einer Inventarliste einer durcheinen rachsüchtigen Gärtnergehilfen
durch Brandstiftung zerstörten Döblinger Villa gleichzeitig das Psycho-
und Soziogramm der Villenbesitzerin ersteht.
Ich kehre zur Französischen Revolution zurück. In der „Kleinen Schule
des Karussellfahrens" läßt Arno Geiger sein alter ego Philipp Worovsky
einmal, in Anlehnung an die Cahiers de doleances, in denen der Dritte
Stand zur Revolutionszeit seine Beschwerden vorbrachte, über seine, also
unsere Zeit sagen: „Art. 2 Daß dieselbe Zeit reichlich, aber beschränkt
ist, ihr Boden undankbar, wodurch ich fortwährend und chronisch
unterfordert bin, was umso bedauerlicher ist, als mich die Natur mit der
rauhen Physiognomie der Freiheit ausgestattet und mit Talenten begabt
hat, die es mir jederzeit ermöglichen würden, mich über die flüchtigen
UnGelegenheiten zu erheben, die sich in Revolutionszeiten einstellen"
(S. 55).
In der Erzählung „Natürliche Schwankungserscheinung" in „Anna nicht
vergessen" stellt sich eine offenbar gebildete Wiener Magistratsbeamtin,
die für die Verwaltung der Streumittel im Winter zuständig ist, die
Frage: „Glauben wir an das Glück? Das Glück, von dem Freud sagt (eine
Stimme, keine unbedeutende), daß es im Schöpfungsplan für den Menschen
nicht vorgesehen sei" (S. 213).
Wir, die
Leserinnen und Leser von Arno Geiger, die (gottseidank) in solch
unheroischen und unrevolutionären Zeiten leben, wissen, daß das Glück
auch darin liegen kann, Geschichten erzählt zu bekommen, in denen die
Condition humaine im Alltag aufblitzt.
ULRIKE LÄNGLE, geb. 1953 in Bregenz, studierte Germanistik und
Romanistik in Innsbruck und Poitiers. Die Literaturwissenschaftlerin,
Schriftstellerin, Kritikerin und Übersetzerin ist seit 1984 Leiterin des
Franz-Michael-Felder-Archivs (Vorarlberger Literaturarchiv) in Bregenz.
Sie hat zahlreiche Werke zur österreichischen Gegenwartsliteratur
publiziert.
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