zurück Die Vorlagen zum lateinischen Stilunterricht: Das Stilbuch des J. P. Hebel
   

 

   

 

Warum ein "Stilbuch"?

Zu den Aufgaben des Lehrers, der den "Lateinischen Stil" zu unterrichten hatte, gehörte es, das geeignete Textmaterial bereitzustellen. Natürlich konnte ein entsprechendes Buch angeschafft werden, doch wenn es an einer Schule mehrere Jahre lang benutzt wurde, wuchs die Gefahr, dass Musterübersetzungen unter den Schülern kursierten. Zudem eignete sich nicht jeder deutsche Text in gleicher Weise zum Übersetzen ins Lateinische - die Schüler waren schnell überfordert, wenn sie "deutsch Gedachtes" in gutes Latein bringen sollten. Ein Mittel, diesen Schwierigkeiten zu entgehen und "ein richtiges Gefühl für wahre Latinität zu erwecken", war die Retroversion: man ließ die deutsche Version eines antiken Textes wieder zurückübersetzen und hatte dabei zugleich eine gute Kontrollmöglichkeit für die Qualität der Übersetzung. Ein weiteres Mittel war, geeignete, insbesondere altersgerechte (Hebels Schüler bspw. waren zwischen 14 und 16 Jahre alt) deutsche Texte zu finden, zu sammeln und für den Unterricht aufzubereiten.

Was aber stand zu Hebels Zeit am Karlsruher Gymnasium zur Verfügung? Hebel hatte als Schüler der Prima - nach dem Schematismus zum Herbstexamen 1774, seiner ersten Prüfung in Karlsruhe - sechs Stunden Stil. Benützt wurde ein damals weit verbreitetes Werk, die "Syntaxis Epistolica Grammaticae" von Johann Friedrich Licht, dem Rektor der Schleswigschen Domschule aus dem Jahr 1766.

Seit dem Herbstexamen 1791 wurde das Werk "Lehrreiche und angenehme Hebungen des lateinischen Styls" von Johann Gottfried Röchling, Konrektor am 'Gymnasio Illustri' zu Worms benutzt. Da Hebel Röchlings Werk zu Beginn seiner Lehrertätigkeit benutzt haben wird (muss?), lohnt es sich, einen kurzen Blick darauf zu werfen. Im Band für untere und mittlere Klassen folgen auf Grammatikkapitel und Germanismen-Listen unter der Überschrift "Ausübung der Regeln des lateinischen Styls" 276 Texte, anfangs aus Einzelsätzen bestehend, später zusammenhängende Stücke, die mit vielfältigen Übersetzungshilfen in Vokabular und Konstruktion versehen sind. Röchlings Buch ist eine reichhaltige Sammlung aus fast allen Gebieten der literarischen Unterhaltung und des populären Wissens - das Zeitalter der Aufklärung hat hier seinen Niederschlag gefunden: Anekdoten (vorwiegend von berühmten Männern der griechischen und römischen Geschichte); Schwanke, Fabeln, Rätsel; Abhandlungen aus den verschiedenen Bereichen der Naturkunde, z.B. "Über Jahreszeiten", "Über Hitze und Kälte"; über Tiere, z. B. „"as Nasehorn", "Die Lebensart der Affen", "Die Nachtigall", "Die Insekten"; Kosmologisches, z.B. "Von den Sternen, besonders der Sonne, der Erde und dem Monde"; Anthropologisches, z.B. "Von Menschen, die bei Tieren aufgewachsen", "Die Sinneswahrnehmungen"; Moralisches, z.B. "Von der Liebe gegen Eltern und Lehrer", "Lehren der Tugend und Sitten"; Lebensweisheiten, z.B. "Von der rechten Anwendung der Zeit", "Regeln für die Erhaltung der Gesundheit"; Religiöses, z.B. "Einzelne Züge der Weisheit und Güte Gottes aus der Natur der Tiere".

 In den 186 Texte des zweiten, für die oberen Klassen gedachten Teils findet man dagegen Charakterbilder berühmter Männer; 25 über das ganze Buch verstreute "Freundschaftliche Briefe"; von der Aufklärung geprägte theologische Abhandlungen wie "Die Welt ist die beste, und wird von Gottes Vorsehung erhalten und regieret"; viele Texte, die man unter der Überschrift "Moralisches, Sittenlehre" einordnen könnte, z.B. "Vom Glück und Unglück", "Über den Ruhm", "Weg zur Tugend und Glückseligkeit". Der Anteil der Retroversionen ist hoch: Reden großer Römer, Darstellungen von Ländern und Völkern aus Tacitus Germania und Caesars Gallischem Krieg. Hierher gehören auch Zusammenstellungen von Lebensweisheiten, jeweils unter dem Titel "Maximen", von denen Hebel eine in sein Stilbuch übernommen hat mit der Quellenangabe: "aus Röchling S. 106", was neben einigen anderen Berührungspunkten ein Beweis dafür ist, dass er mit diesem Werk vertraut war. Röchling gestaltete sein Buch "so unterhaltend als lehrreich", um damit "alle Arten Schüler" anzusprechen - dies erklärt die Fülle so verschiedenartiger Texte.

Durch Röchling, so scheint es, sah Hebel seine eigenen pädagogischen Intentionen bestätigt. Es erinnert uns damit nicht nur an Hebels Lörracher Gutachten, sondern auch an seine Kalenderarbeit, deren Prinzipien er ebenfalls theoretisch untermauert hat: „Die Absicht zu belehren und zu nützen sollte nicht voranstehen, sondern hinter dem Studio placendi masquirt, und desto sicherer erreicht werden" und so soll ein guter Kalender „Mancherley zur Einladung und Befriedigung verschiedenen Humors..." enthalten.

Für Hebel ergab sich, sobald er auch "Stilunterricht" - ab 1798 - zu unterrichten hatte, somit die Notwendigkeit, selbst geeignetes Material zu sammeln. Daß er einen Teil davon - statt auf lose Blätter - in ein kleines Buch schrieb, hat dazu geführt, dass uns die Texte erhalten geblieben sind.

Das Stilbuch Johann Peter Hebels

Das „Stilbuch" - der Titel stammt nicht von Hebel selbst - gehört zum handschriftlichen Nachlass Hebels. Im Jahre 1882 wurde es von Georg Längin im Kabinettsarchiv des Großherzogs entdeckt - es liegt heute unter der aktuellen Archivnummer 'K 3383' in der Handschriftensammlung der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe.

Es ist ein mit dunkelblauem Pappeinband versehenes Büchlein im Format 18 X 12 cm, das 87 Blätter enthält. Hebels Texteintragungen sind in gleichmäßiger, schnörkelloser, im allgemeinen gut lesbarer deutscher Schrift - alle lateinischen Einträge, wie auch in allen anderen erhaltenen Handschriften, jedoch in lateinischer Schrift - sehr dicht, oft bis an den Rand beschrieben.

         

Es enthält 129 von Hebel durchnummerierte Texte; da er die Nummer 8 zweimal vergeben hat
 (die deshalb 8a und 8b bezeichnet werden), reicht seine Zählung nur bis 128.

Hebel hat für die Datierung nur wenige Hinweise gegeben, da er den Stilunterricht im Sommersemester 1798 erstmals erteilte und nach Auskunft der Prüfungsschematismen zunächst bis zur Frühjahrsprüfung 1806 beibehielt, so ist die Entstehung des Stilbuchs für die Zeit vom Schuljahr 1798/99 bis zum Schuljahr 1805/06 anzunehmen.

Seit 1802 gehörte Hebel der Kalenderkommission an und lieferte erstmals für den Kalender 1803 Beiträge. Von diesen frühesten Beiträgen findet man das vierte Stück der "Denkwürdigkeiten aus dem Morgenlande" - es handelt von dem Weisen, der unter Toren leben muss -inhaltlich wie sprachlich weitgehend identisch als Nr. 21 des Stilbuchs.

Das Stilbuch Hebels ist als Ganzes bisher nicht veröffentlicht worden. Teile davon sind seit 1882 bekannt, denn Längin veröffentlichte nach seinem Fund aus den 129 Texten eine Auswahl von 23. Im Jahre 1943 übernahm Altwegg in seine Werkausgabe 30 Nummern (von denen 17 identisch sind mit den von Längin ausgewählten), so dass bis heute im ganzen 36 Texte zugänglich waren.

Da nie für eine Veröffentlichung vorgesehen, besitzt es einen privaten Charakter, der sich in dem zeigt, was fehlt: ein Titel, ein Vorwort, in dem die pädagogischen Ziele dargelegt würden und weitgehend die für die Orientierung hilfreichen Überschriften. Wenn sie vorhanden sind, geben sie meist den einzuübenden Grammatikstoff an. Hebel hat seine Aufgaben nur ab und zu mit einigen Übersetzungshinweisen versehen. Drei Texte, darunter der 'Kannitverstan', sind nur lateinisch formuliert.

Die Reihenfolge der Texte lässt kein übergeordnetes Prinzip erkennen, sie scheint relativ willkürlich erfolgt zu sein - vermutlich so, wie sich Hebel die Texte erarbeitete. Aufgaben jedoch, die vorrangig der Einübung eines bestimmten Grammatikstoffes dienten und bei denen es weniger auf den Inhalt ankam, stehen fast alle unter den ersten 50 Nummern. Die Texte werden im Laufe der Sammlung allmählich anspruchsvoller, möglicherweise ist es mit einer Klasse gewachsen ist und spiegelt deren zunehmenden Kenntnisstand wieder.

Natürlich stellt sich die Frage, in wie weit es sich bei den Texten um originäre Hebeltexte handelt und welche nicht von ihm selbst verfasst wurden? Laut G. Staffhorst gehören dazu sicher alle Retroversionen, deren deutschen Wortlaut Hebel möglicherweise gängigen Übersetzungen entnommen hat, aber er hat die Texte meist durch Kürzungen dem Unterrichtsgebrauch angepasst und sie häufig mit eigener Einleitung und eigenen Schlussgedanken versehen. In den meisten Fällen hat er seine Quellen beim Text notiert. Es lassen sich 23 Retroversionen bestimmen, sie stammen aus den Werken von vier römischen Autoren: Plinius d. Ä. (11), Seneca (6), Cicero (5) und  Justin (1) - alle diese Werke standen in Hebels eigener Bibliothek.
Zu den nicht selbst verfassten Texten sind außerdem die 3 mit Versen zu rechnen (Stb. 75, 76 und 86) und 15 aus der Zeitschrift "Zachs Monatliche Correspondenz" (Hebel hat daraus landeskundliche Beschreibungen mit einem Bezug zur Antike entnommen - über Land und Leben der Mainoten, der Nachkommen der Lakedämonier (Stb. 78 - 82) und der ihrem Küstengebiet benachbarten Insel Zanthe (Stb. 83 - 85); das Interesse an der fernen Insel Cuba (Stb. 117 - 121) dagegen entsprach einem Zug der Zeit zum Exotischen).
Im Ganzen ergibt das rund ein Drittel des Stilbuchs.

Die Vorstellung vom Stilbuch als einem 'Prototyp' des Rheinländischen Hausfreunds beruht vor allem darauf, dass es bekannte Kalendergeschichten in einer Vorform beinhaltet. Sie ist jedoch nicht wirklich zutreffend - betrachtet man die man die Parallelen zwischen dem Stilbuch und den Kalendern genauer, so zeigt sich, dass von den 305 Beiträgen (lt. dem Faksimiledruck von 1981)
 lediglich 7 Geschichten den Weg in den Bad. Landkalender und den Hausfreund fanden:

 Denkwürdigkeiten aus dem Morgenland 4     Kalender 1803     Stilbuch 21                                                
  Der verachtete  Rat     Kalender 1805     Stilbuch 19                    
 Der Mensch in Kälte und Hitze     Kalender 1805     Stilbuch 27                                 
Das Mittagessen im Hof     Kalender 1805     Stilbuch 109                      
Klein und Groß (1. Teil)     Kalender 1809     Stilbuch 24                       
Hohes Alter     Kalender 1809     Stilbuch 111/112
 Kannitverstan     Kalender 1809     Stilbuch 74 + 124   

Bemerkenswert: Die Geschichte vom Kannitverstan beginnt mit Nr. 74, das Ende findet sich mit Nr. 124.

In keinem Fall übrigens sind die Texte identisch, für die Kalender wurden manche enorm ausgebaut und gewannen da erst die typisch Hebelsche Anschaulichkeit. Diese Aufstellung zeigt auch, daß Hebel bisweilen nach mehreren Jahren einen Gedanken, ein Motiv erneut aufgriff - die Texte aus den Kalendern sind von der Entstehungszeit des Stilbuchs mehrere Jahre entfernt - so wie er die Idee des Prüfungsstils von 1803 für ein ganz anders geartetes Publikum in den "Nützlichen Lehren" für 6 Jahrgänge des Kalenders noch einmal bearbeitet hat.

Der Lateinlehrer Hebel steht mit seinem Stilbuch in einer langen Reihe Materialien sammelnder Kollegen. Angeregt wurde er vielleicht durch das Taschenbuch des Vaters. In der Hertinger und Lörracher Zeit legte er seine Exzerpthefte an, in Karlsruhe entstand das Stilbuch, für er das gesammelte Material oftmals erst schülergerecht aufarbeiten musste. Bald danach folgten die Kalenderbeiträge, in denen neben dem Sammler von Materialien der meisterliche Gestalter in Erscheinung trat, der manchem vielfach tradierten Stoff durch seine Erzählkunst eine einzigartige Form verliehen hat.

Zur vorliegenden Wiedergabe

 Das Stilbuch ist weder Dichtung noch persönlicher Brief, sondern diente der Unterrichtsvorbereitung. Es war nie für andere Augen
 als die des Verfassers gedacht, daraus erklären sich die zahlreichen Inkonsequenzen bzw. Fehler in Orthographie und Interpunktion.
Diese haben Hebel selber offenbar nicht gestört, er hat, obwohl er das Stilbuch einige Jahre benutzte, nie etwas an den
Schreibweisen verbessert.

Die Wiedergabe der Texte auf dieser Website - auch bisher nicht zugänglichen und nach der o. a. Handschrift Hebels neu transkribierten Texte - folgt den Grundsätzen der bisherigen Veröffentlichungen, bei denen die Lesbarkeit ausschlaggebend war, um ein einheitliches "Schriftbild" zu schaffen (z.B. Längin, Winkler, Reclam, Altwegg u. a.). Dabei entfielen jedoch die Hebeltypischen Altertümlichkeiten anderer Handschrift-Transkriptionen wie z. b. das th (Thor, Unmuth), das y (seyn, Eydexe, Kayser), das dt (Schwerdt) [wobei überlegt wird, diese Änderungen teilweise wieder rückgängig zu machen]. Dagegen wurde das von Hebel (statt des j) verwendete i (wie in iagen oder ieder) beibehalten. Die direkte Rede wurde zur Verbesserung der Lesbarkeit und des Textverständnisses durch Doppelpunkt und Anführungs-/Schlusszeichen kenntlich gemacht.

Die Einträge sind, sofern sie eine thematische Einheit aus mehreren Nummern bilden, auf einer Seite mit entsprechendem Hinweis zusammengefasst. Einige Wort- und Sacherklärungen wurden hinzugefügt, ebenso ein Vermerk, falls die Übung später für die
 Kalender verwendet wurde.

 

     
   


Bilder Stilbuch: Badische Landesbibliothek Karlsruhe, K 3383
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Als Referenz für die o. a. Erläuterungen dienen die folgenden Werke, insbesondere das erste in der Liste:

Das "Stilbuch" Johann Peter Hebels. Beitrag von Gertrud Staffhorst in
400 Jahre Gymnasium illustre 1586 - 1986.
Festschrift Bismarck-Gymnasium Karlsruhe, 1986

Aus Johann Peter Hebels ungedruckten Papieren.
Nachträge zu seinen Werken, Beiträge zu seiner Charakteristik.
Herausgegeben von Georg Laengin.
Druck und Verlag von J. Lang, Tauberbischofsheim, 1882

"Johann Peter Hebels Werke" / Band 1 + 2
Herausgegeben von Wilhelm Altwegg
Atlantis Ausgaben / Rombach & Co GmbH, Freiburg i. Br., o. J.

 

   
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