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68

Hier, mein Freund, sitze ich im Garten unter einem ästigen Birnbaum, angeweht von reiner Morgenluft, umflossen von lieblichem Blütenduft, umschwirrt von emsigen Bienen, und gedenke Deiner. Hier saßen wir oft beisammen. Dort wandelten wir Arm in Arm, ietzt lesend, dann ernsthaft diskurrierend, oft scherzend und lachend.
Ietzt trennt uns Wald und Strom; doch nur dem Körper nach. Denn wer vermag unsere Seelen zu trennen und das heilige Band unserer Freundschaft aufzulösen, das mir seit Deiner Abreise nur noch enger scheint angezogen zu sein?

69

Wenigstens seh' ich nicht ein, was die wollen, welche behaupten, daß nach aufgehobenem Umgang die Freundschaft selber abnehme und erkalte. Du weißt, wie ich gegen Dich gesinnt war, solange uns das Schicksal gönnte, beisammen zu leben, und daß ich Dich nicht anderst denn wie mein zweites Ich geliebet habe, und doch macht Dich mir ietzt die Sehnsucht so wert, daß ich Dich damals nur gern gehabt, ietzt erst recht lieb zu haben glaube.

70

So ist's, und indem ich die vergangenen Tage, indem ich unsere Unterredungen, unsere Spaziergänge, unser Beisammensein unter diesem schattigen Birnbaum ins Gedächtnis zurückführe, indem ich Dich, wie Du leibst und lebest, mir vor die Augen und vor die Seele stelle, weiß ich nicht, ob ich mehr Vergnügen aus der Erinnerung oder Schmerz aus dem Gefühl Deiner Abwesenheit oder mehr Trost aus der Hoffnung, Dich nach einigen Iahren wieder zu umarmen, schöpfe.

71

Der Mensch findet oft Ursache, sich über die Gegenwart zu beschweren. Der kämpft mit Armut und Mangel; den drückt Schmerz der Krankheit darnieder, ein anderer weint einem verstorbenen Vater, Bruder oder Freund nach. Mancher ist unglücklich, den man nicht dafür ansieht, weil ihn eine geheime Wunde schmerzt. Was könnte dem Menschen das Leben angenehm machen, was für so viele und große Schmerzen ihn trösten, wenn er nicht die Erinnerung der Vergangenheit und die Hoffnung der Zukunft hätte? Iene scheint mir dem Gemüt wieder zu geben, was ihm ein untreues Schicksal entzogen hat, diese, möcht ich sagen, gestattet ihm, das Angenehme zuvor zu genießen, was ihm ein neidisches Schicksal vorenthält.

72

Die Sonne steigt, die Schatten kürzen sich, und ich muß zum Geschäfte mich anschicken. Ungern breche ich ab, ob's gleich mein Lieblingsstudium ist, die Geographie. Aber es ist mir nicht so viel wert zu wissen, daß der Don Europa und Asien scheide, daß der Cur Persiens Grenze in Asien, der Dniester die Grenze der Türken in Europa sei, daß das Pyrenäische Gebirg sich zwischen Spanien. und Frankreich erhebe, als mir eine Stunde ist im Gespräch mit Dir, im Schreiben an Dich, im Andenken an Dich genossen.

 

 

 

 

- 68 - 72 bilden eine Einheit.

- diskurrierend = alemannische Verballhornung für diskutierend,
  auch heute manchmal noch gebraucht
- Cur - nicht zu ermitteln [ev. der Kuran]