zurück Nr. 113
   

 

Wünsche dir kein gar zu hohes Alter, nicht einmal bei gesunden Sinnen und guten Kräften. Du weißt nicht, was du bittest. Ich will nicht erinnern, was doch wahr ist, daß ein langes Leben zugleich ein langes Ungemach sei, viel Furcht, viel Gefahr, viel Schaden, viele Torheiten, viele Reue zur Begleitung habe. Aber denke nur, du seiest im 120sten, d.h. im zweimal 60sten Iahr, alle deine Lebensgenossen, alle, die mit dir iung waren und die Freuden und Leiden des gleichen Alters teilen, seien von dir hinweggestorben. Selbst die zweite Generation (aetas) habest du schon sehen alt werden und größtenteils dahinsterben. Du lebtest wie ein Fremdling unter einer Menschheit, die dich nichts mehr angeht, nicht mehr auf derselben Erde, auf der du geboren warst und die dich iung sah, fremd den Sitten, den Meinungen, selbst der Sprache des Zeitalters, das nicht mehr das deinige ist; und das endlich, was noch unverändert das nämliche geblieben ist, würde dich zuletzt anekeln, weil es immer das nämliche blieb. So würdest du ein Verbannter, nicht mehr ein Bürger auf diesem Planeten und nicht im fröhlichen Leben zurückgelassen, sondern von der letzten Zufluchtsstätte und dem Port, der die übrigen aufnahm, ausgeschlossen scheinen, verhaßt den Göttern und lästig den Menschen.

 

 

 

- 'Zufluchtsstätte und Port': eine Wendung Ciceros

- Vgl. auch Hebels Brief an Gustave Fecht und Karoline A. Günttert
   (Nr. 557 vom 29. September 1825)