zurück | Predigt am achten Sonntage nach Trinitatis 1802 | |
Vater, wenn wir Verlassene wären hier in unserer Pilgrimschaft, die zu
jedem guten Willen und Vorsatz Wir sind nicht verlassen; Dank sei dir, daß wir in dem Glauben an dich und deinen Sohn so sprechen und fühlen können. Von dir zu unserer Erlösung gesendet, war auch er einst durch Versuchungen geprüft und in die Leiden der Erde blutig eingeweiht; aber er ist in den Himmel gegangen und hat die Liebe zu uns in die Herrlichkeit mitgenommen, die du ihm gegeben hast, und ist von den Seinen mit dem Trost geschieden: Ich will euch nicht als Waisen verlassen. - Gib allen, die seinen Namen bekennen, den Sinn dieses Wortes zu verstehen, gib uns, ihn in teuren Erfahrungen zu verstehen durch Kraft zum Guten, durch Trost im Leiden, durch Hoffnung, wenn die Erde uns nichts mehr zu geben hat. Laß uns auch in dieser Stunde in der Treue zu ihm befestigt werden. V. U. Text: Johannes 15, 1 - 14 1 Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater der Weingärtner.
In den letzten Tagen seines Lebens, ohne Zweifel auf dem Wege von Bethanien nach Jerusalem, sprach Jesus die Worte aus, die wir in unserm Texte vernommen haben. Wahrscheinlich wandelte er mit seinen Jüngern in der Nähe eines Weingartens, dessen Gewächsen eine fleißige Hand soeben Wartung und Pflege angedeihen ließ. Voll offenen, wachen Sinnes für die Natur und das Leben um ihn her, aber mit einem Herzen voll zarten, lebendigen Gefühls für das Gute, voll innern Dranges, auch noch seine letzten Stunden für erhabene Zwecke zu nützen und seinen Freunden lehrreich zu machen, hüllet er auch hier wie überall in das Sichtbare und Irdische etwas Unsichtbares und Geistiges ein und redet seine Jünger an: «Ich bin der wahre Weinstock, und ihr seid die Reben; wie der Gärtner seines Weinberges pflegt, so mein himmlischer Vater!» — Eine Vergleichung, schön und treffend an Ort und Stelle, im Augenblick der gegenwärtigen, lebendigen Anschauung! An sie knüpf! Jesus einen neuen Faden der Unterhaltung mit seinen Jüngern in Verheißungen und Ermahnungen an, die überall trostreich und erweckend wären, aber nirgends mehr als hier und jetzt in der offenen Mitteilung mit seinen Vertrautesten, ausgesprochen am Rande seines Lebens, mit einem Blick am nahen Grabe vorbei in eine bessere Zukunft. Laßt uns mit diesen Verheißungen und Ermahnungen unsere Andacht in gegenwärtiger Stunde beschäftigen. Ihr Inhalt ist Treue über Tod und Grab! Es war ein schöner, inniger Verein des Zutrauens und der Liebe, in welchem des Menschen Sohn drei Jahre lang mit seinen Freunden lebte. Sie hatten einst, als er sie mit einem Herzen voll Liebe suchte und fand, alles verlassen und waren ihm nachgefolgt. Immer fester und inniger schloß sich ihr Herz an das seinige, ihre Schüchternheit an seinen Mut, ihre Hoffnung an seine Verheißung, ihr ganzes Schicksal und Leben an das seinige an, und immer seliger priesen sie die Stunde, in der sein Blick sie gefunden und gewählt hatte. «Wollt ihr mich auch verlassen?» fragte er sie einst, als manche, die bei ihm ihre Rechnung nicht fanden, zu ihren alten Irrtümern, Geschäften und Sünden zurückkehrten. - «Herr, wo sollen wir hingehen?» sprach einer für alle und alle mit dem einen, «du hast Worte des ewigen Lebens.» Wer lehrte so wie er? Wer sprach so rein und wahr an den unverschobenen menschlichen Verstand, so erfassend, belebend und erfreuend an das unverdorbene menschliche Herz? Wer konnte ihm so wie er seine geheimen Ahndungen erklären und seine Hoffnungen befestigen, sein Sehnen beruhigen und seine Schmerzen trösten? Wer konnte so ihre Schwachheit ertragen, die zarten Keime des Guten in ihnen entdecken und mit Geduld und Liebe erziehen, ihren guten Willen auch im Mißlingen verstehen und ehren und sie für alles, was sie aufgeopfert hatten, so mit seiner Liebe belohnen wie er? Wohl waren sie den zarten, schwankenden Zweigen des Weinstocks gleich, die nur in der unverletzten Vereinigung mit ihm ihr fröhliches Gedeihen haben und, von seinen Säften genährt, stark werden, Blüte und Früchte tragen, aber, von ihm getrennt, erkranken und sterben. Verborgen und stille, aber für eine herrliche Entwicklung langsam vorbereitend, ging, wie der Saft des Weinstocks in die Zweige, so der Geist und das Leben Jesu Christi in seine Jünger über. Es läuterte sich in ihrer Seele von der Finsternis zum Licht; es milderte und stärkte sich ihr Herz für jedes gute, kraftvolle Gefühl. Sie lernten glauben, lehren, lieben, dulden, vertragen, hoffen, beten wie er; in zarten Knospen ward eine gesunde, erquickende Frucht genährt. O wie freute sich des Menschen Sohn nach manchem mühevollen, nach manchem schmerzenvollen Tage abwechselnd im verborgenen Gebet und Umgang mit seinem Vater oder in der vertraulichen Gesellschaft mit seinen Freunden! Wie tröstete ihn für eine dornenreiche, unfruchtbare Gegenwart der Blick in eine bessere Zukunft, die ihm ihr offener Sinn, ihr gutes Herz und ihre zarte Liebe versprach! Und wie wahr ist es, was einer von ihnen dankbar bekennt: «Wie Jesus geliebt hatte die Seinen, die in der Welt waren, also liebte er sie bis an das Ende.» Ein schöner Verein, der sie drei Jahre lang und bis zu seinem Tode zusammenhielt, aber nie schöner und fester als in dem Augenblick, wo er zu zerreißen schien, in der Nähe seines Todes: «Bleibt bei mir! Ich bleibe bei euch. Bewahret meine Worte und euern Glauben daran und eure Liebe zu mir! Gleichwie mich mein Vater liebet, also liebe ich euch; bleibet in meiner Liebe! Zeiget, daß ihr meine Freunde seid, durch die Darstellung meines Lebens in euch! O daß meine Freude an euch bleiben möge und euere Freude vollkommen werde!» So sprach Jesus mit seinen Jüngern auf dem Wege zu seinem Tode. Er konnte schon als guter Mensch zu solchen, als Freund zu Freunden, als Lehrer zu seinen Zöglingen so sprechen. Welcher gute Mensch, welcher Vater und Freund scheidet nicht mit ähnlichen Gefühlen, Wünschen und Hoffnungen von denen, die er liebte und durch seinen Hingang betrübt? Sie verlassen uns; aber der letzte Ausdruck ihrer Liebe ist ihr Segen und ihr schönster Segen das Wort, durch welches sie uns zur Nacheiferung ihres frommen Lebens weihen. Sie scheiden von uns; aber wir erneuern mit ihnen den Bund der Treue, den eines Lebens Stürme nie zerreißen konnten, für eine endlose Dauer; und der Gedanke, daß sie auch dort nicht ganz von uns geschieden, vielleicht stille Zeugen unserer Tugenden sein werden, und die Hoffnung, sie einst über den Gewittern der Erde und über Sternen des Himmels wiederzufinden, verbirgt ihnen und uns die weite Kluft der Trennung. So windet sich in den Glauben an Unsterblichkeit der Glaube an unsterbliche Treue, und in den bittern Kelch des Todes gießt noch die Freundschaft ihren Honig. Jesus konnte als Mensch so denken und sprechen, denn er war ein guter, religiöser Mensch, stark zum Handeln, Dulden und Hoffen im Glauben an Gott und die Unsterblichkeit und nie lebendiger von der hohen Ahndung des Unsichtbaren ergriffen, als wenn ihn das Sichtbare am schmerzhaftesten drückte. Aber wenn er seine Jünger tröstet: «Bleibet bei mir, ich bleibe bei euch!» so mischt sich auch hier wie überall in das Menschliche seiner Gefühle und seines Wortes das Göttliche seiner Sendung und des hohen Berufs, zu welchem er jetzt abging; und in die Liebe des Freundes zu den Freunden verbirgt sich die Liebe und der Segen, den der Erlöser der Menschen den Erstlingen seiner Gemeinde und in ihnen allen, die durch ihr Wort an ihn glauben, zurückläßt. Wußte er nicht, daß ihm der Vater alles hatte in die Hände gegeben, und daß er von Gott ausgegangen war und zu Gott ging? Ja, und er sagt es anderwärts noch bestimmter als in unserm Texte, daß er die Erde verlasse, um nun unsichtbar und verborgen wie Gott, aber sicher wie er und in weiten Wirkungskreisen fortzusetzen und zu vollenden, was er auf Erden mit frommer Menschengeduld und Liebe begonnen hatte, und daß er die Seinen nicht als Waisen zurücklassen, sondern mit dem Geiste seines Vaters sie belehren und stärken, erfreuen und trösten und überzeugen wolle, daß er bei ihnen sei alle Tage. Verschwunden war in wenig Wochen vor den Augen der Jünger wie eine vorüberwandelnde Gestalt der sichtbare Menschensohn mit seinem Antlitz voll Güte und der Gekreuzigte voll Schmerzen und Wunden und der Auferstandene in seiner Herrlichkeit. An mancher Stätte, wo er einst ihnen begegnet oder sie ihm nachgefolgt und Zeugen seines Werkes gewesen waren, erwartete oder begleitete sie jetzt nur noch die Wehmut seiner Erinnerung. Aber in dem Trost, der ihre Wehmut stillte, in dem Geist, der sie jetzt zu dem Bekenntnisse seines Namens und zur Darstellung seines Sinnes in Geduld und Liebe weihte, in dem göttlichen Segen, der ihr schwaches menschliches Wirken unterstützte und belohnte, in der Kraft gegen jede Gefahr und Versuchung, in der freudigen Gewißheit, die sie durch das wogende Meer menschlicher Täuschungen, Zweifel und Torheiten sicher leitete, erkannten sie gerne sein nahes Wirken und die Wahrheit seiner Verheißung: Ich bleibe bei euch! Und auch sie verließen ihn nicht. Er hat nach dem einen Unglücklichen deren keines mehr verloren, die ihm damals der Vater gegeben hatte; und noch oft rief es aus ihrem Innern: «Wo sollen wir hingehen? Du hast Worte des ewigen Lebens.» Wollten nicht auch wir, meine Freunde, uns gern an die anschließen, von welchen und zu welchen der Stifter des Christentums sagt: «Ohne mich könnt ihr nichts tun», nicht auch wir in den Bund der Treue über Tod und Grab eintreten und darin beharren und in dem Gedanken, daß er unsere Treue in der Versuchung, unsern Mut im Kampfe, unsere Geduld im Leiden vom Himmel herab beobachten werde, zu allem Guten Kraft und gegen alles Schlimme Trost empfangen? Zwar manche, die sich gleichwohl in dem Namen der Bekenner Jesu Wohlgefallen und in der Gemeinschaft der Bekenner Jesu Wohlbefinden, verschmähen euch diesen Sinn und Glauben und diese Anhänglichkeit an den längst Entschlafenen, der schon lange aufgehört hat, Zeichen und Wunder zu tun, und nennen's befangene Sinnlichkeit, nicht mit eigener Weisheit und Kraft tugendhaft sein und mit eigenem Mut vor dem Schicksal stehen und fallen zu können — als ob das die errungene Freiheit und der Adel des göttlichen Geschlechts in uns wäre, keinen Sinn mehr für jenen Zusammenhang der Erde mit dem Himmel, keinen Wunsch dafür in den Bedürfnissen des eigenen Herzens und keine Gewährschaft dafür in der Güte des eigenen Herzens zu finden; — als ob es der köstliche Preis der errungenen Freiheit wäre, mit keinem Wunsch, mit keiner Hoffnung, mit keiner Liebe mehr hingezogen zu werden zu dem vollkommensten und edelsten und wohlwollendsten der Menschen, der mit dem Blute seines Herzens viele und alle zu beglücken bereit war, die er auch nie gesehen und doch lieb hatte, wiewohl er sie nicht sah; als ob ihr Losungswort nicht zugleich das Losungswort des befangensten sinnlichsten Herzens wäre: nichts glauben zu wollen, als was die Augen sehen. Jede gute und große Seele war noch dem Gedanken und Glauben an irgendeine nahe Verbindung der Erde mit dem Himmel, des Sichtbaren mit dem Unsichtbaren, des sterblichen Geschlechtes mit dem göttlichen offen. Manche gute Seele suchte ihn auf falschem Wege und verirrte in den bahnlosen Gefilden menschlicher Täuschung. Aber ohne die innere Weihung, die solch ein Glaube gibt, ohne diesen Aufschwung des Herzens ist noch kein Tugendhafter durch sein Leben voll Versuchungen, kein Dulder durch sein Leben voll Leiden zum göttlichen Preise hindurchgedrungen. Auch wir sehen diesem Preise noch von ferne entgegen; manches Gewitter verhüllt ihn noch vor unsern Augen; mancher farbige Schimmer der Erdenfreude ist uns noch näher. «Ohne mich», sagt der Stifter des Christentums, «könnt ihr nichts tun»; aber er will gerne durch das Vermächtnis seiner Lehre, durch den Segen seiner Taten und Schicksale, durch sein verborgenes Wirken, das die Augen nicht sehen, aber der innere Mensch erkennt, auch uns werden, was er seinen ersten Bekennern war: Freund, Lehrer, Leiter, Tröster bis ans Grab und am Grabe Vollender. Euch bürget dafür sein menschliches Leben; er hat in demselben eine Probe seiner Gesinnungen in vertraulicher Menschengestalt abgelegt, daß wir Glauben und Hoffnung haben möchten. O, er hat mit einem großen, offenen Sinn und Herzen die ganze Menschheit umfaßt; er hat in wenigen Menschen alle geliebt; er hat keine gute Bitte ohne Erhörung, keine Reue ohne Vergebung, kein nasses Auge ohne Trost, keine gute Tat und keine gute Meinung ohne den Lohn seines Beifalls gelassen. Aus allen guten Menschen eine Familie und alle Menschen gut zu machen, mit einem reinen, freudigen, seligen Sinn alle zu beleben, das heilige Reich Gottes unter den Menschen zu gründen, war, solange er lebte, sein Gedanke, war sein erhabenes Ziel und am Vorabend seines Todes sein Gebet. Euer gutes Herz ruht gerne und öffnet und erwärmt sich im Glauben an die gute Menschheit; es würde sich dem frommen Menschensohn geöffnet haben, wenn ihr so in seinen Tagen und in seiner Nähe gelebt hättet. Ihr traut es euch zu. Aber könnte er jetzt dieses Zutrauens weniger wert sein, nachdem er die Wahrheit und den Ernst seiner Liebe mit dem Tod zu eurer Erlösung bestätiget hat? — Weniger wert, nachdem ihn Gott aus dem Grabe zurückgeführt und seinen trauernden Freunden wiedergegeben und die Verheißung: «Ich bleibe bei euch», zum erstenmal so bald, so unerwartet und freudig wahr gemacht hat? Weniger wert, nachdem er zum zweitenmal dahingegangen ist, nicht wieder in ein Grab, sondern in die Herrlichkeit, die ihm sein Vater gegeben hat? Wenn seine ersten Zeugen freudiger, nachdem sie ihn nicht mehr sahen, als vorher seinen Namen bekennen und seinen Kampf gegen die Feinde der Menschheit, Irrtum und Sünde, fortsetzen, wenn sie vor Könige und Fürsten, in Gefängnis und auf Blutgerüste treten und sich nirgends für Verlassene und Getäuschte halten, wenn ihr freudiger Geist ihren Freund zur rechten Gottes preist, auch dort noch ihren Freund, was haben sie zu ihrem Glauben und zu ihrer Hoffnung und zu ihrem Bekenntnis für ein Unterpfand? Eins, was über alle Zweifel siegt: die innere, lebendige Erfahrung, daß das, was er einst mit Menschenwort und Treue verheißen hat, mit göttlicher Kraft erfüllt werde. Möge es in Glauben, Liebe und Hoffnung auch unsere Erfahrung sein oder werden! Euern Glauben und eure Ergebenheit an den Erlöser und an seine Lehre bewahret eurem Herzen. Nur der Glaube oder das Zutrauen zu ihm macht euch empfänglich für seinen großen Segen. Kein Mensch, kein Engel und kein Gott kann mit der ganzen Fülle seiner Kraft lehrend, liebend, leitend und segnend auf euch wirken, wenn euer Geist sich ihm nicht in Zutrauen auftut; ihr habt nichts mehr von ihm zu erwarten; ihr könnt in keinem Sinne mehr sagen: «Er ist der Unsere und wir die Seinen; sein Geist ruht auf uns wie sein Name», - wenn es euch an diesem einen fehlt. Bewahret eurem Herzen mit dem Glauben auch die fromme Liebe zu dem Erlöser und zu seinem Wort, die in guten Taten lebt. O ihr liebet in ihm die ganze Menschheit, die euch so nahe angeht, das Edelste, Vollkommenste und Göttlichste ;m der Menschheit; ihr liebt in ihm die Wahrheit und den Reiz und Wert jeder Tugend, den göttlichen Sinn, dem keine gute Seele sich verschließen kann. Möget ihr durch diese Liebe des Guten zu allem Guten euch willig fühlen! Möge es euch zur Freude und zum lebendigen Drang, zum einzigen und höchsten, werden, ihm ähnlich zu sein und in sein großes Werk, Menschenbeglückung und Menschen Veredlung, an euch selbst und andern mitzuwirken. Und wenn stiller Segen und mancher stille Dank euere Bemühung begleitet, wenn euer Geist euch das Zeugnis seines Beifalls gibt und der Friede sich zu euch wendet, der ihn durch alle Stürme seines Lebens begleitete, möget dann auch ihr in euerer Erfahrung die Wahrheit und Erfüllung seines Wortes erkennen: «Ich bleibe bei euch und wirke in euch!» In euerer Erfahrung erkläre sich die Hoffnung: Der euch bisher unterstützte, wird euch höher hinaufführen und bis ans Ende bei euch sein und den Bund der Treue über Grab und Tod, den euer Herz bewahrte, nicht verlassen. Amen.
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