zurück | Predigt am sechsten Sonntage nach Trinitatis 1796 | |
Gott, wir versammeln uns wieder vor deinem Thron, deine Kinder vor deinem väterlichen Antlitz, und danken dir für die Liebe, mit der du dich unser aller erbarmest, für die Freuden, die du dem Glücklichen schenkest, und für den Trost, womit du den Kummer der Leidenden stillest, — danken dir für das theure werthe Wort, womit du auch die Verirrten und Gefallenen zu dir zurückrufest, und ihrer Reue Vergebung, ihrer neuen Liebe neue Gnade ankündigest. O daß sie alle zu dir umkehren, und in deiner Erbarmung den Frieden wieder finden möchten, den ihre Seele vermißt! Schenke uns allen deinen guten Geist, der uns leite in deine Wahrheit, uns heilige und erhalte in deiner Liebe, unser Vertrauen zu dir hoch über alle Zweifel von innen und über alle Anfechtungen von aussen erhebe, und uns am Ende nach einem guten Leben mit dem Trost ans Grab führe, daß wir durch den Tod zum Leben geweiht, ewig dein sind. V. U. Text: Lukas 5, 27 — 39 27 Und danach ging er hinaus und sah einen Zöllner mit Namen Levi am
Zoll sitzen und sprach zu ihm: Folge mir nach!
Wenn uns Christus vom Himmel auch dazu gegeben ward, daß wir in ihm Gottes unsichtbares Wesen und seine ewige Kraft und Gottheit in einem menschlichen Bilde menschlich erkennen, und zu ihm, der uns so ähnlich ist, mächtiger hingezogen werden, und mit ihm unsern Geist glücklicher zu einem ewigen unsichtbaren Wesen erheben möchten, dessen Allmacht unser Schicksal auf der Erde, dessen Gnade unsern Trost im Tode, und dessen Richterspruch unsere Hoffnungen in der Ewigkeit entscheidet, laßt es uns dann mit froher Seele, und mit innigem Dankgefühl und mit heiligem Ernst erkennen, was uns Jesu Wort und That und Leben so laut verkündet, und was noch hinter ihm sein Apostel uns zuruft: daß Gott größer ist, denn unser Herz. O es ist oft ein sehr enges Herz, das Herz der Menschen, mit aller seiner Empfindsamkeit, Liebe und Großmuth, und oft ein sehr thörichtes Herz mit aller seiner Weisheit, sinkt oft unbegreiflich tief herab zur Unfreundlichkeit und Härte, und zum verkehrten Sinn, und mißt doch so gerne des Schöpfers Güte nach seinen dürftigen unsichern Gefühlen, und des Schöpfers Heiligkeit nach seinen schwankenden Meinungen. Aber Gott ist größer denn unser Herz. Sehet in unserm Evangelium neben den Menschen von der Erde den Menschen vom Himmel! Unmaßungslos, gutmüthig und milde sitzt dieser bei einem Gutmüthigen — wenn schon einem Zöllner. Desto vornehmer und stolzer stehn jene mit richtenden Blicken von ferne; — der verworfenste Pharisäer schätzte sich werther vor Menschen und Gott, als den ehrlichsten Zöllner. Mit tadelsüchtigem Befremden fragen sie: warum ißt und trinkt er mit den Sündern? Aber so beschämend für jeden heiligen Pharisäer, und so tröstend für jeden reuevollen Zöllner rechtfertiget sich Jesus: ich bin gekommen die Sünder zur Buße zu rufen, und nicht die Gerechten. Kleinsüchtig und scheinfromm fragen endlich diese: warum fasten deine Jünger nicht? Nach ihren Satzungen stand das Fasten im Range der heiligsten Werke. Aber treffend legt ihnen Jesus in der Gleichnisse Hülle die Zurechtweisung: Bessert ihr euern Sinn, und esset; es ist mehr werth, als pharisäisch gesinnet seyn und fasten. Einzelne, wären es auch gute und gutgemeinte Handlungen, geben einem ungebesserten Herzen keinen Werth, und decken seine Unart nicht. Es sind neue Lappen auf ein altes Gewand, das doch zerschleißt, flüchtiger Geist in morschen durchlöcherten Gefäßen. Das Herz des Menschen vom Himmel ist größer, denn das Herz der Menschen von der Erde. Laßt uns, um diese Worte zu unsrer Erbauung anzuwenden, sehen 1) auf seine allgemeine partheilose Güte, 2) auf sein entgegen kommendes Erbarmen gegen Fehlende, 3) auf den Umfang seiner Forderungen. Gutmüthig kehrt Jesus in dem Hause eines Mannes ein, dessen Stand das Vorurtheil und der Haß seiner Zeitgenossen verfolgte; darum fragen die Pharisäer: warum ißt und trinkt er mit den Zöllnern? Um aus diesem bestimmten Fall eine allgemeine Belehrung zu ziehen, laßt uns einen allgemeinen Blick auf die menschlichen Verhaltnisse und Gesinnungen werfen. Wohlthätig hat die Natur das allgemeine, aber durch seine Ausdehnung schlaffe Band, das die Menschheit zusammenhält, in Familienverhältnisse enger zusammengezogen, unfreundlich getrennt, um freundlich zu verbinden. Von ihren Banden gefaßt hört der Mensch fast auf, Vielen Vater und Bruder zu seyn, um es Wenigen ganz zu werden. Sie hat, indem sie jeden mit eigenen, aber den mit diesen, jenen mit andern Kräften des Körpers oder Geistes vorzüglich ausrüstete, von Erziehung und Gewohnheit unterstützt, neue Verbindungen und neue Trennungen vorbereitet. Der Weise sucht den Weisen auf, und schließt sich zu ihm an, weil sein denkender Geist bei ihm mehr Nahrung und Befriedigung findet; der Unweise den Unweisen, denn keiner beschämt den andern; der Sanfte den Sanften, denn einiger und inniger winden sich ihre Gefühle umeinander; der Schwache den Schwachen, denn keiner findet sich in der Nähe des andern gefährdet. Je ähnlicher der Mensch dem Menschen an Kräften, Neigungen, Denkungsart und Handlungsweise, desto mehr Berührungspunkte bieten sich ihre Herzen dar; jeder liebt und ehrt in dem andern seine eigenen Vorzüge, und schont in ihm seine eigenen Schwächen. Im Bunde oder im Krieg mit der Natur befestigt das Schicksal ihre Verbindungen und Trennungen, oder durchkreuzt sie wieder nach eigener Laune. In den Hütten knüpft Armuth und gemeinschaftliche Noth Freundschaften und Bündnisse, wie der Frohsinn in Speisesälen und festlichen Zirkeln, dort dauerhaftere als hier; und ein Zufall, (so dünkt es uns oft,) führt Menschen zusammen, und mischt ihr Wohl und Weh in eins, und fesselt Herzen aneinander, die sich nie gesucht noch gefunden hätten, — Wenn endlich Vaterland und bürgerliche Verhältnisse, Religion und Meinungen, nicht so innig wie Natur und Schicksal Menschen mit Menschen vereinigen, so schneiden sie doch schärfer als Natur und Schicksal Menschen von Menschen ab, und befestigen die Kluft durch Namen und Titel und Rang, Stand und Standeszeichen, Cerimonien und Formeln, durch Urtheile, worauf sie gegründet sind, und Vorurtheile, die sie wie ein dornichtes Gehage umziehen. Und so zerfällt die Menschheit gleichsam in mehrere kleinere und größere Kreise, die sich mannigfaltig hier nähern, dort entfernen, hier berühren, dort scheiden und zurückstoßen, hier umschlingen, dort durchkreuzen. Jeder schafft sich selbst, oder es schafft ihm sein Schicksal eine eigene Welt, und jedem eine andere, und sein Herz, seine Gefühle und seine Liebe, sein Wünschen und sein Wirken, das der ganzen Menschheit gehörte, schränkt sich auf den engen Kreis zusammen, von dem er der Mittelpunkt ist. Es läge in der Natur der Sache, und wäre kein Vorwurf. Das menschliche Herz ist nicht allmächtig. Je weiter es seine Gefühle und Kräfte will wirken lassen, desto gewisser verlieren sie sich in wirkungslose Ohnmacht; je thätiger es wirken will, desto enger muß es seinen Wirkungskreis zusammen ziehen. Aber auch hier hat schon so oft menschliche Kurzsichtigkeit übel verstanden, was göttliche Weisheit gut gemeint hatte. Sie hat, ach aus wie manchem Herzen, alles weggenommen, und alles vertilgt, was noch den Menschen dem Menschen werth und köstlich machen könnte; sie hat — ach in wie manchem Herzen, Menschenliebe und Partheiliebe zum Widerspruch gemacht, auch in diese nur frostige Eigenliebe eingehüllt, und in ihrem Schooße hier Uebermuth dort Mißtrauen, hier Trotz dort Erbitterung groß genährt, die der Menschheit so manche Wunde schlugen. Sie schmerzt diese Wunde in der Brust des Niedrigen und Armen, wenn ihn die Verachtung seines Schicksals verfolgt, des Zurückgestoßenen und Verschmähten, des Hülflosleidenden, des Fremdlings unter seinem Geschlecht, der einsam umherirrt, einen Vater und einen Bruder sucht, und nicht findet. Er bietet das Köstlichste, was Gott dem Menschen, und der Mensch dem Menschen geben kann, Liebe, so gut er sie hat, und mittheilen kann, und sie wird ihm als eine verschmähte Gabe zurückgeworfen. Er will sich auch anschmiegen mit seinen Gefühlen an die Menschheit, zu der er gehört, aber oft umspinnen sie das Herz eines Pharisäers, das kalt und hart wie ein Fels ihnen keine Nahrung und keine Wärme ertheilt. Andere Gefühle, und andere Gesinnungen lebten und wirkten in dem Herzen des Menschen vom Himmel, in welches Gott seine Liebe goß. Mit dem heiligen Beben der Ehrfurcht nannten seinen Namen die Unsterblichen im Himmel, als Gott rief: dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe! Aber mit der Stimme des Vertrauens und mit dem Sehnen der Erhörung, mit der Freudenthräne des Dankes und mit der Herzlichkeit der Liebe nannten Menschen auf der Erde, vornehme und geringe, arme und reiche, frohe, leidende und getröstete, Fremdlinge und Brüder — Jesum den Sohn Davids. Wie seines Vaters Sonne allen aufgeht, alle mit ihrem Licht erheitert und mit ihrer Wärme erquickt, auf die Furche der Armuth, wie auf die Triften des Reichthums und in die Paradise des Ueberflusses scheint, so ward er Licht und Wärme und Leben aller, die nur ihn nicht verschmähten, den verlorenen Schafen vom Hause Israel ein getreuer Hirte, dem Heiden zu Capernaum ein entgegenkommender Wohlthäter, und ein geduldiger Lehrer der Samariterin am Wege, oft unter den Pharisäern, und gerne bei den Zöllnern, und überall gerne, wo er gute Menschen fand oder zu bilden hoffte, unterthan den Eltern einst im väterlichen Hause, aber unter den Menschen nach seinem eigenen Wort Bruder und Sohn denen, die seines Vaters Willen thun; allen alles, und zuletzt ein freiwilliges Opfer des Todes für alle, und auferweckt und zu Gott erhöhet für alle. Wird es euch nicht wohl und leicht, arme nieder gebeugte Menschen, daß er auch euer Bruder und Heiland ist, Menschen, die ihr euch umsonst nach einem Freund auf der weiten Erde sehnt, daß ihr einen Freund im Himmel habt, Menschen, die ihr im Gewande der Dürftigkeit, verloren und vergessen mitten unter euern Brüdern wandelt, daß er euern Namen vor Gott nennt, Menschen, die ihr ihm, wenn er heute bei euch einkehrte, nichts als freundlichen Willen und ein gutes Herz zu bieten hättet, daß sein freundlicher Wille dem eurigen entgegen kommt, und sein Herz, das einst so voll himmlischen Adels und so voll irdischer Demuth, so voll reinen Gottessinns und so voll reger Menschenliebe, so voll himmlischer Seligkeit und so voll theilnehmender Gefühle sich den Menschen dahin gab, daß es noch im Himmel euer ist? Ja, freuet euch seiner, und mischet in eure Sorgen und in eure herben Gefühle das Andenken an seine Liebe. Es wird sie umschmelzen in stille Geduld, in mildes Sehnen und in tröstende Hoffnung. Freuet euch seiner und des Glücks, daß ihr durch ihn Gotteskinder und seines Himmels Erben seyd. Eines Gottes Kinder, und einer bessern, andern Zukunft aufbewahrt! Laßt uns alle vor diesem Gedanken jeden irdischen Stolz darnieder beugen, und an ihm wie an einer heiligen Flamme unsre Menschenliebe erwärmen. Seyd in eurer Lage denen, die Gott mit euch in nahe Verbindung gesetzt hat, was ihr ihnen seyn könnt; — gute Väter und Angehörige eurer Familien, Freunde den Freunden, treue Bürger dem Vaterlande, belebt für euern Stand, beseelt für Amt und Beruf; aber bewahret in euren Herzen noch etwas für die übrige Menschheit, Gefühle der Theilnehmung den Weinenden und Fröhlichen, eine willige Gabe dem Flehenden, Trost und Segen und Gebet dem den keine Gabe erquickt, Freundlichkeit dem Schüchternen, Schonung dem Schwachen, Verzeihung dem Flehenden, milde Antwort dem der euch zutrauend fragt, sittigen Dank dem, der euch sittig grüßt. Die Zöllner, bei denen der heiter freundliche Mensch vom Himmel saß, waren auch Sünder. Es ruhte auf ihnen nicht nur der Haß ihres Standes, sondern auch der Vorwurf einer rohen gewissenlosen Handlungsweise, und einer eben so rohen Denkungsart, einer schrankenlosen Verachtung der gesetzlichen Religion, und einer eben so gleichgültigen Verachtung des gesetzgebenden Gottes. Man dachte sie daher als Gegenstand des Hasses und der Rache der Gottheit; und wie man Menschen durch Feindschaft gegen ihre Feinde schmeicheln kann, so glaubte man die Gottheit zu gewinnen, wenn man laut und unversöhnlich ihre Verächter haßte, und dünkte sich desto heiliger und vollkommener, je sorgfältiger man ihren Umgang mied. Darum fragen die Pharisäer: Warum ißt und trinkt er mit den Sündern? Der Gedanke an eine zürnende, rächende Gottheit knüpft sich in dem menschlichen Busen an eine natürliche Empfindung an. In ihm werden durch Beleidigungen die Gefühle gekränkter Eigenliebe bald langsam und desto bitterer, bald schnell und desto heftiger aufgeweckt. Unbillig wird durch sie oft ein Gerechter, hart und seiner selbst unwerth oft auch ein guter Mensch. Selbst die schuldlose und selbst die gute Meinung des Fehlenden, selbst die edle Scham und Reue, und selbst das freiwillige Versöhnungsopfer befriediget sie nicht immer; und je näher zuvor der Gekränkte dem Beleidiger durch Freundschaft und Liebe und Wohlthat, desto niederbeugender und peinigender in dem Busen des Letzten das Bewußtseyn seiner Schuld; je ferner von ihm durch Macht und Ansehen und geheiligte Würde, desto schwerer und schreckender in seiner Seele das Andenken an sein Verbrechen. Und du Gott, dessen ernstes Gesetz unsre Uebertretungen verdammt, du Wohlthäter ohne Gleichen von unsern Kindesbeinen an, und du Allmächtiger und Herrscher, vor dem die Könige der Erde im Staube knieen, und die Engel des Himmels ihr Angesicht bedecken, wie störend mischt sich in den Gedanken an dich das Andenken an unsre Schuld, wie beschämend in unsern Dank, wie niderwerfend in unser Vertrauen, wie beunruhigend in unsre Hoffnung, wie strafend in unser Gebet am Tage der eigenen und der gemeinen Noth! Wohin wenden wir unser Auge, daß uns nicht die Denkmale deiner Güte beschämen, wohin unsern zagenden Geist daß uns nicht die Zeugen deiner Macht, und die Boten deiner Gerichte erschrecken? Und wer tröstet uns, wenn du beleidiget wirst, wie Menschen beleidiget werden, und zürnest, wie Beleidigte zürnen, und rächest wie Erzürnte rächen? Geheimnißvoll und unerforscht, zurückhaltend in deinen Gerichten, und furchtbar indem du sie zurückhältst, waltest du in den Schicksalen unsres Lebens, wartest schweigend auf den Sterbenden am Grabe, und zeigest ihm in der Ewigkeit die schwebende Wage der Vergeltung. — O Dank sey Dir, und neue Liebe, und neuer ewiger Gehorsam, daß du einmal sprachst, wie ein erbarmender Vater zu seinen Kindern spricht, Dank für das theure werthe Zeugniß, womit du deinen Sohn auf die Erde sandtest: „Ich bin gekommen, die Sünder zur Buße zu rufen." Das bezeugte sein Wort, und so bestätigte es sein Leben und seine Liebe, seine Thaten und sein Tod; so wandelte er, zum Begnadiger, noch nicht zum Richter geweiht, unter der schwachen Tugend, und unterstützte sie durch die Miene des göttlichen Beifalls im menschlichen Antlitz; so unter den Gefallenen und Trauernden, und rief durch den Blick der Erbarmung Vertrauen auf Gott und Muth zur Besserung in ihre Seelen zurück; so unter den Gefallenen und Verstockten, und that durch Wehmuth und Thränen die letzte seiner Erklärungen kund, daß Gott nicht Wohlgefallen hat an dem Tode des Uebertreters. Ich bin gekommen, die Sünder zur Buße zu rufen. Es sey auch uns nicht umsonst gesagt, dies Losungswort der Versöhnung, Es tröste uns dieses Wort, das auch der Zöllner Brust mit Dank erwärmte, und mit bessernder Scham belebte, wenn uns unser Gewissen vor dem Richter in den Staub wirft. Es wecke in unserer Seele das neue Leben des Glaubens und der Liebe, der Tugend und der Hoffnung. Und daß es auch wecken möge den Geist des Friedens und der Liebe in jeder Brust, die noch gegen Menschen zürnt, und an dem Unglück des Feindes Wohlgefallen findet, die noch auf Rache sinnt gegen Brüder, denen Gott verzieh, und Aussöhnung weigert, die der Himmel der Erde bot! Laßt uns gut seyn, wie Gott es ist, und durch eigenen liebenden, schonlichen, verzeihenden Sinn, unserm Vertrauen auf Gottes Schonung und Verzeihung sein Unterpfand geben. Was ihr, die ihr doch nur Menschen seyd, an euern Brüdern zu thun vermöget, Gottes Geist wird Zeugniß geben eurem Geiste, daß Gott dasselbe an euch überschwenglich thun wird. Aber wie könntet ihr an eine Großmuth ausser euch glauben, für die euer eigenes Herz zu enge wäre, und in der Rechnungsstunde des Gewissens und im Zagen des Todes euch an eine Barmherzigkeit fest halten, die in euern eigenen Gefühlen und Gesinnungen ihren Widerspruch hätte? Die Pharisäer haben noch eine Frage an Jesum: Warum fasten deine Jünger nicht? — Die Religion und Tugend hatte sich bei diesen Menschen aus dem Innern, wo ihr geheimer Sitz und ihr nährendes Leben seyn sollte, ganz ins Aeussere gezogen. Aus der Einheit und Zusammenstimmung und Vollendung eines edeln Gefühls, eines guten Sinnes und eines frommen Lebens, war sie in wenige abgemessene und ausgezirkelte, künstlich hoch getriebene, von aussen gleißende, von innen werthlose Handlungen zersplittert; und so ward Gebet in langen Formeln ihre Gottesverehrung, Almosengeben ihre Menschenliebe, und Fasten ihre Heiligkeit. Leicht gewöhnt sich der Mensch an einzelne gut scheinende, gut gemeinte, und wirklich schöne Handlungen. Die Grundsätze, worin sie ihre Haltung haben, liegen gewöhnlich schon in dem Eigenthümlichen seiner Denkungsart, die Gefühle, die ihnen zur Nahrung und zum Leben dienen, in dem Eigenthümlichen seiner Geistesstimmung. Je leichter und natürlicher sie ihm aus dem Temperament und aus der Seele fließen, desto verdachtloser erscheint ihm selber seine Tugend. Je künstlicher und gezwungener, je mühsamer gelernt und geübt, desto höher schreibt er sie Gott und seinem Gewissen in Rechnung an. Und keine Täuschung überschleicht ihn eher als die gröbste, aber die willkommenste, daß eine gute Eigenschaft viele Fehler umwinde und ausgleiche, und daß man, um auf einer Seite schlimmer zu seyn als Viele, auf der andern nur besser seyn dürfe als Viele, um Gottes Vaterliebe und Erbarmen mit Allen gleich zu theilen. So vereinigen sich oft in einer Seele Weichmuth und Ungerechtigkeit, so Unbestechlichkeit um Geld und feiler Sinn um Gunst, so schwärmerische Sonntagsandacht und geistloses Werktagsleben, so Christusbekenntniß mit dem Munde und Gottesverläugnung mit der That. Aber hört doch, was der Mensch vom Himmel sagt: Niemand flickt einen Lappen vom neuen Kleide auf ein altes Kleid, Niemand faßt flüchtigen Geist in zerbrochene Gefäße. Die gute Seite, die noch an einem von Gott entfremdeten Herzen schimmert, ist sie Natur, so ehrt sie den Schöpfer, der die guten Gefühle so tief und unvertilgbar in den Menschen gelegt hat, nicht den Menschen, der nur geschehen läßt, was sich aus seiner angeborenen verdienstlosen Geistesstimmung von selbst entwickeln und bilden mag. Ist sie erzwungen, so sinkt sie zum Unwerth der verworfensten Gleißnerei herab, und ihre Wirkungen ersterben in kraftloser Ohnmacht. Die gekünstelte Handlungsweise, wenn sie nichts im Herzen hat, das ihr entspräche, keinen Glauben, keine Liebe, keine Hoffnung, so besteht sie nicht; der Lappen zerreißt, und der Schaden wird größer. Wollt ihr etwas hineinzwingen in das Herz, das ihr entspräche, Meinung ohne Ueberzeugung, Liebe ohne Gefühl, Hoffnung ohne Vertrauen — es hält nicht; der neue Geist flieht aus dem alten Gefäße. Versteht ihr, was Jesus sagen will, — selig seyd ihr, so ihr es nicht umsonst versteht. Nur ein erneuerter Sinn, in dem Ehrfurcht vor Gott und Liebe zu Gott, und Liebe zum Guten, das aus Gott kommt, einheimisch ist und herrscht, nur der gibt der guten That Werth und Festigkeit, und ist an guten Thaten reich. Den Sinn will Gott; den möchte Jesus durch den Ruf zur Buße in uns anfachen, und durch seine Liebe nähren, und durch seine Erlösung heiligen. Dem Geiste gibt Zeugniß Gottes Geist, daß wir Gottes Kinder sind. So laßt uns denn diesen Sinn in uns hervorrufen und ausbilden, und dem Herrn gefällig werden, alles zusammennehmen und benutzen, unsers Geistes feste unzerstörbare Anlagen zum Guten, das Gesetz, das sein Finger in unser Herz geschrieben, und die Gefühle, die sein Hauch in unsrer Brust belebt hat, das Beben vor seiner Majestät und Heiligkeit, und die Erinnerung an seine Wohlthaten, die Liebe und das Erbarmen Jesu, Gebet und Flehen und Thränen das Mahnen der Religion und das Warnen unsrer Erfahrungen, die Prüfungen unsrer Schicksale, den Gedanken an die Zukunft, an Tod und Grab, Auferstehung und Gericht, an die Freuden und Wehen der Ewigkeit. Laßt uns wachen und ringen, glauben und hoffen, bis sichs geläutert hat in unsrer Seele, bis rein und klar und ruhig Gottesliebe und Tugendsinn unser Herz erfüllt, und aus ihm, wie aus einer immer strömenden Quelle, edle unverfälschte Werke der christlichen Rechtschaffenheit ausgehen. Laßt uns ernstlich wollen, und eifrig üben, und selig vollenden, und erfahret dann in Freude und Leid, am Tage der nahen drohenden Gefahr, am Grabe und einen Schritt weiter in der Ewigkeit, lebendiger und kräftiger als Menschenwort es sagen kann, daß Gott an Macht und Güte größer, und in seinen verborgensten Führungen weiser, und selbst in seinen Züchtigungen und Gerichten erbarmender sey, denn eines Menschen Herz! Amen.
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