zurück Predigt am zweiten Christtage 1803.
     

Gott, wenn wir alle Wohlthaten, mit denen deine väterliche Liebe uns besucht, dankbar erkennen, und würdig genießen wollten, wie viel freudiger könnten wir seyn! Wie viel heiliger, wenn wir deine weisen Absichten dabei verständen! Du willst dem dankbaren Herzen deine Gebote leicht und lieb machen. Wie viel ruhiger, wenn wir dir vertrauten! Du hast die Freuden und die Thränen unsres irdischen Daseyns für eine bessere Zukunft weise gemischt. So glauben wir deinem Sohn, den du uns zum freundlichen Ausleger deiner Rathschlüsse gegeben hast. So finden wirs durch die Erfahrungen seines Lebens bewahrt. Unser Dank für seine Sendung verherrliche sich in unsrer Anhänglichkeit an ihn und seine Religion, in unsrem Glauben an dich, in unsrer Tugend, in unsrer Hoffnung. Möge sie auch heute durch die Betrachtung deines Wortes an uns befestiget werden. V. U.

Text: Lukas 1, 46 — 55

46 Und Maria sprach: Meine Seele erhebt den Herrn,
47 und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes;
48 denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen. Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder.
49 Denn er hat große Dinge an mir getan, der da mächtig ist und dessen Name heilig ist.
50 Und seine Barmherzigkeit währt von Geschlecht zu Geschlecht bei denen, die ihn fürchten.
51 Er übt Gewalt mit seinem Arm und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn.
52 Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen.
53 Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen.
54 Er gedenkt der Barmherzigkeit und hilft seinem Diener Israel auf,
55 wie er geredet hat zu unsern Vätern, Abraham und seinen Kindern in Ewigkeit.
56 Und Maria blieb bei ihr etwa drei Monate; danach kehrte sie wieder heim.

 

Es sind schöne, es sind heilige Gefühle und Gesinnungen des Herzens, die in dem Lobgesang einer bescheidenen Verehrerin Gottes in unserm Texte laut werden; und die Pflege und Erziehung des Kindes, das unter ihrer Aufsicht an Alter und Weisheit und Gnade bei Gott bis zum Wohlthäter und Retter des menschlichen Geschlechtes heranreifen sollte, ward von der Vorsehung treuen Händen und einem guten Herzen anvertraut.

Unverstimmt durch manches Leiden, das sie mit ihrem unglücklichen Volke theilte, und in ihrer Armuth und Niedrigkeit besonders schon mochte erfahren haben, erkennt und schätzt sie die Größe ihres Glücks: „der Herr hat Großes an mir gethan, der allmächtig ist." Dankbar und mit den würdigsten Gefühlen erkennt sie in ihm den Geber aller guten Gaben, und preiset ihn in freudigen Bekenntnissen: „Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freuet sich Gottes meines Heilandes." Und eben dieser dankbare Aufblick zum Himmel bewahrt sie bei dem hohen Vorzug, der ihr zu Theil ward, vor dem vermessenen Dunkel eigenen Verdienstes: „Gott hat die Niedrigkeit seiner Verehrerin angesehen."

So betete Maria, so freute sie sich ihrer schönen Zukunft entgegen. Aber

— auch sie war Adams Kind,                                 
froh in der Gegenwart und für die Zukunft blind,       
und ihre Freude ward der Anfang langer Schmerzen.

O, wenn sie es geahndet hätte, was für nahe Leiden auf den Liebling warteten, der unter ihrem Herzen lag, wenn ihr Geist in die nächsten dreißig Jahre hinaus geschaut hätte, und in das letzte blutige, das ihm ein Kreuz aufrichtete, und ein Grab bereitete, — hätte sie wohl damals schon beten können: „Von nun an preisen mich selig alle Kindes Kinder?" — Und wenn sie es verstanden hätte, wie wenig das Reich ihres Sohnes ein Reich von dieser Welt seyn konnte, wenn sie ihn gesehen hätte, in seinem schönen ewigen Reich der Wahrheit, der Tugend und des Himmels, groß und selig in dem Glauben, in der Liebe und in der Seligkeit seiner Verehrer, hätte sie dann nichts besseres zu sagen gewußt, als: „Gott stößt die Mächtigen vom Throne, und erhebt die Niedrigen?" Und wenn sie es geahndet hätte, daß einst noch der Schutthaufen von Jerusalem ihr Grab bedecken, und ihr Volk noch Jahrtausende lang ohne Thron und Tempel und Messias auf der weiten Erde ohne Vaterland und ohne Bürgerrecht im Elende herumirren würde, hätte sie dann wohl ihren Lobgesang in dem patriotischen Aufschwung ihrer Gefühle endigen können: „Gott hilft seinem Diener Israel auf, und rechtfertiget die Erwartungen unserer Väter?" —

So falsch deutet oft menschliche Kurzsichtigkeit auch bei dem besten Herzen die unzweideutige Gegenwart und die unsichern Zeichen der Zukunft aus.

Es lehre uns unser Text, wie wir von Gott Wohlthaten annehmen müssen, und die nämliche Gesinnung der Dankbarkeit und Demuth, mit welcher der religiöse Mensch sie annimmt, lehre uns auch die Leiden und den Schmerz getäuschter Hoffnungen tragen, die so oft im Geleite der göttlichen Wohlthaten sind.

Der weise Mensch und Verehrer Gottes erkennt, daß er, sey es auch unter mancherlei Ungemach, doch Gutes und des Guten viel genieße. So Maria, wenn sie mit einem Blick ihr Leben und ihre Erfahrungen überschaut. „Der Herr hat grosses an mir gethan, der allmächtig ist, und des Name heilig ist." Wie können wir den Frieden und die Freuden genießen, die uns der Himmel gönnt, und den Vater der Freude im Himmel dafür preisen, wenn wir nicht einmal erkennen, wie viel Segen die Natur uns bietet und jeder scheidende Tag zurückläßt, und jeder kommende uns mitbringt, und die hohe Ewigkeit uns aufbewahrt! Und die sind doch so leicht in Gefahr es zu übersehen und zu vergessen, denen die Sonne des Glücks immer lacht; und auch die sind leicht in Gefahr es zu vergessen, denen sie nicht immer lacht. Jene, o sie gewöhnen sich so leicht an das Gute, das sie immer hatten, und ohne Mühe haben, und nie entbehren, — vergessen so bald, daß alles auch anders seyn könnte, als es ist, — gründen so gerne auf die Freuden des heutigen Tags und auf seine schöne Abendröthe einen Anspruch auf die Freuden des kommenden, und glauben, wenn er ihnen in seiner milden Klarheit aufgeht, es geschehe nur, was sich von selbst versteht, und wissen das Glück ihrer guten Tage nicht zu wägen und zu schätzen, weil sie keine Thränen und keine schlaflosen Nächte und keine vereitelten Hoffnungen in die andere Wagschale zu legen haben. — Und die, denen es nicht immer wohl ist, — hattet ihr noch nie gesehen, noch nicht an euch selber es bemerkt, wie gerne und leicht sich das menschliche Herz von der schönen und erfreulichen Seite seines Schicksals zur traurigen wendet, wie gleichgültig der Mensch gegen das werden kann, was er hat, nur weil ihm noch etwas fehlt; wie kalt gegen das bessere, das ihm bleibt, nur weil ihm etwas entbehrliches entrissen wurde?

Nicht so der besonnene Verehrer Gottes. Er sieht und erkennt das Gute überall, genießt es mit Weisheit und freut sich seiner, trägt geduldig seinen Antheil an dem allgemeinen Loos der Menschheit. Sie kämpft mit Gebrechlichkeit und Unbestand, und er eignet sich das Gute desto inniger an, was ihm zum Trost dafür gegeben ist. Er ist vielleicht arm, desto höher schätzt er den Werth der Gesundheit und Kräfte, die ihn nicht darben lassen; — vielleicht schwächlich und krank, desto dankbarer erkennt er seine Lage, wenn es ihm an den äußern Bequemlichkeiten des Lebens, ihm und den Seinigen am täglichen Brod doch nicht fehlt; — er ist vielleicht von Vielen verkannt, sein Name wird unter den Gepriesenen im Volk nicht genannt, aber er ist glücklich im Besitze der Freunde, die ihn kennen, die sein Herz verstehen, mit ihm weinen und fröhlich sind. Der Tod hat ihm schon theure Gefährten des Lebens, schöne Hoffnungen der Zukunft ins Grab gelegt, milder und ruhiger weint er die Thränen ihres Andenkens in den Schooß derer, die ihm übrig sind, und freut sich ihrer Liebe. Sein Herz hat der Sorgen und Beklemmniße des Lebens viel, die Religion dessen, den Maria gebar, hat für alle Trost. Die Erde hat der Leiden viel, die Ewigkeit bereitet ihm der Freuden mehr. — O es ist viel Schönes und Erfreuliches in das Schicksal unserer Tage verwebt, wer nur Sinn und ein Herz hat es zu fühlen; und noch unter den Dornen harren Blumen, wer sie sehen will; und noch zwischen den Gewitterwolken schimmern Sterne, wer den Muth hat hinauf zu schauen.

Der dankbare Verehrer Gottes freut sich aber nicht nur des Guten, das ihm zum Loose seines Daseyns. in die Zeit und in die Ewigkeit mitgegeben ist; er blickt auch mit den Empfindungen eines gerührten Herzens zu dem freundlichen Geber auf. So die fromme Israelitin in unserm Texte: „Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freuet sich Gottes meines Heilands." Nicht so wie ihr werden uns die göttlichen Wohlthaten durch Engel angekündet, und durch einen Aufwand von himmlischen Wundern ausgeführt. Ewig verborgen erfreuet und segnet, unterstützt und tröstet uns die liebende Vaterhand nur durch Natur und durch Menschen, — durch Sonnenschein und Regen, durch die Blüthen des Frühlings und durch die Früchte des Sommers, durch die nährende Kraft der einen und durch die heilenden Säfte der andern, durch Eltern, Lehrer, Regenten, oft durch Fremde, an die wir keinen Anspruch haben, noch öfter durch Freundes Hand und Wort und Blick. Es ist so wahr, daß der Ewige und Unsichtbare die größten Wohlthaten uns nur durch Menschen unsre Brüder mittheilt, daß selbst der Erlöser unseres Geschlechts und Stifter unserer Seligkeit in menschlicher Gestalt die Erde besuchen mußte, um in diesem vertrauten Gewande uns heimischer und lieber zu werden. „Es ist ein Gott," sagt Paulus, „und einer trat zwischen Gott und Menschen in die Mitte, nämlich der Mensch Christus Jesus." Aber eben darum bleibt der kurzsichtige Sohn der Erde so gerne und leicht bei dem Nächsten stehen, nimmt das Gute aus der nächsten Hand oft gegen diese schon mit Undank, und vergißt den Aufblick dorthin, woher alle gute Gabe und alle vollkommene kommt.

So nicht der dankbare Verehrer Gottes. Seinem Herzen ist überall Gott in seinen Wohlthaten nahe. In dem Segen, den ihm die Natur aus tausend Quellen bietet, betet er die ewige Allmacht und Liebe an, die nicht müde wird zu erfreuen und zu erquicken. In der verborgenen Leitung und Verkettung der Schicksale, durch Kräfte der Natur und durch Menschen Wort und That, verehrt er die ordnende Weisheit, die da, wo wir nur Verwirrung sehen, keinen Faden verliert, und Jedem zu seiner Zeit und an seinem Ort und in seinem Maße werden läßt, was zu seinem Frieden dient. Von guten Menschen geliebt und beglückt schaut er zum Himmel auf und spricht: Du Vater bist es, der dem Menschen so viele Kräfte und Mittel zum Wohlthun, der dem Herzen des Freundes diese Liebe, und dem tröstenden Auge diese Thränen gab. Durch die Religion Jesu erleuchtet, für die Tugend gewonnen und gestärkt, zu unsterblichen Hoffnungen erhoben, preist er den Herrn und freuet sich Gottes seines Heilandes.

Schön verklärt sich auch in dem dankbaren Aufsehen zum Himmel die Demuth des Verehrers Gottes. „Gott hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen," so betet Maria. Wir könnten viel gutes genießen, des Gebers gedenken und doch als ein erworbenes Recht es ansehen. So macht der Mensch oft Ansprüche an den Menschen, nimmt mit der einen Hand ohne Dank, und fordert ungenügsam mit der andern noch mehr, rechnet selbst mit seinem Schicksal eine vermessene Rechnung, und findet es, wenn es allen seinen Wünschen entgegenkommt, höchstens gerecht. O du, in dessen Hand von Ewigkeit bereitet unser Schicksal liegt, du wärest nicht mehr als gerecht gegen dein Geschöpf von Erde, nicht gütig, nicht erbarmend, wie sich ein Vater über seine Kinder erbarmt? Wer gab mir, so fragt sich der bescheidene Verehrer Gottes, diese Fröhlichkeit des Geists, oder diese Kräfte des Körpers, oder diese Gelegenheiten und Mittel, mir das zu erwerben, was Verdienst unter Menschen heißt? Wer begleitet mein schwaches Wirken mit seinem sichtbaren Segen? Wer belohnt der Frommen Willen mit der Freude des Gelingens einer guten That? Wer hat mich vor vielen meiner Brüder beglückt, die auch Menschen sind? Habe ich es durch meine Thorheiten und Fehler errungen, die ich kenne und die ich nicht erkenne? Bedarf er meiner, und meiner Verehrung zu seiner Seligkeit, meines schwachen Arms zum Kleinsten oder Größten, daß am Himmel eine Sonne aufgebe, oder auf der Erde eine Thräne trockne? Mit welcher Tugend habe ich das Erbtheil meiner Unsterblichkeit und ihrer Freuden verdient, und mit welchem Danke vergelte ich sie? So fragt er sich, und betet: ,,Herr ich bin zu gering aller Barmherzigkeit und Treue, die du an deinem Knecht qethan hast," und bekennt sichs mit inniger Rührung, daß jedes Glück und jede Freude seines Lebens rein und frei und unverdient nur Wohlthat seines Vaters im Himmel sey.

So sey unsere Gesinnung, und sie helfe uns auch die unvermeidlichen Leiden tragen und bewahre uns vor dem Schmerz getäuschter Hoffnungen, die so gerne im Geleite der göttlichen Wohlthaten sind.

Laßt uns nicht vergessen, daß wir Menschen sind, und die Erde unsre Wohnstätte, und daß auf ihr Freude und Schmerz sich überall und brüderlich die Hände bieten, — dann am wenigsten es vergessen, wann wir am glücklichsten sind. Maria konnte es im Uebermaß der Freude einen Augenblick übersehen, konnte sich um drei und dreißig Jahre zu frühe eine glückliche Mutter nennen, wenn sie sagte: „Von nun an preisen mich selig alle Kindes Kinder." Sie vergaß es, daß der, der unter ihrem Herzen lag auch eines Menschen Sohn war, wie er sich selber so oft und so gerne nannte. Als sie nach wenig Wochen sich nicht einmal mit einer freundlichen Aufnahme zur Geburt in Bethlehem erfreut sah, als sie ihn auf dem halben Weg von Nazareth nach Jerusalem einen ängstlichen Tag lang vermißte und vergeblich suchte, als er, ihres nahenden Alters einziger Trost, an einem Kreuze blutete, und sein Haupt in den Tod neigte, ach damals pries sie wohl Niemand selig.

Gottes Wohlthaten, und die guten Stunden, die uns durch sie zu Theil werden, sind oft zugleich Vorbereitungen, Stärkungen für die Leiden, die zur Prüfung unseres Vertrauens, zur Läuterung unserer Tugend, zur Bewahrung unseres Sinnes für höhere Hoffnungen nöthig sind. Und wem viel gegeben ist, der kann viel verlieren; wem etwas Großes gegeben ist, kann etwas Großes verlieren; und was wir werther schätzen und inniger lieben, ängstlicher wird unsere Sorge, tiefer unser Schmerz, wenn wir es mit Gefahr oder Leiden umgeben sehen. Wer kann seinem Schicksal ruhig entgegen sehen, und es aufnehmen ohne Murren und tragen in fester Brust? Wer für die Wohlthaten, die ihm der Himmel gleichwohl noch gönnt, für die Tröstungen, die er ihm neben die Leiden legte, einen offenen Sinn auch behaltet, und die böse Stunde mit dem Andenken an die gute zu versüßen weiß. Wer in seinem Schicksal die weise Leitung eines Gottes erkennt, der inwendig im Herzen, wie aussen in der Natur, durch Sturm und Sonnenschein Wohlthaten beweiset. Er kennt die rechten Freudenstunden, und weiß wohl was uns nützlich sey. —

Laßt uns auch nicht vergessen, daß Gottes Wohlthaten, selbst die irdischen auf höhere Zwecke als auf Befriedigung eines irdischen Sinnes berechnet sind, der nie kann befriediget werden. Dies übersah einen Augenblick die Betende in unserm Text: „Gott stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen." Das that Gott durch Christum nicht, der in Knechtsgestalt umher gieng, und gehorsam war, und zum Erlöser seiner Brüder von der Sünde geweiht das Urtheil des Todes von einem Menschen annahm. Aber welche schöne Wahrheit tauschte sie bald gegen einen glänzenden Irrthum ein, wenn sie sah, wie der Sohn Davids Mühselige und Beladene um sich versammelte, um sie zu erquicken, wie er Unwissende erleuchtete, Schwankende in der Tugend befestigte, Sünder besserte, Betrübte tröstete, und den Blick der Sterbenden von der Erde zum Himmel richtete! Und wie viel seliger war sie selber in der nahen Theilnehmung an diesen Wohlthaten, als an der Seite eines vergänglichen Thrones zu Jerusalem!

O mögen auch wir die Wohlthaten, die uns Gott durch unser Schicksal ankündigt und mittheilt, mehr mit einem geistigen als mit einem irdischen Sinn annehmen und benutzen, Gottes weise Absicht in ihnen verstehen, und den dauerhaftesten Segen ihnen abgewinnen. Die Freuden des Lebens rauschen dahin, und das Leben mit ihnen, — das Gold zerrinnt, der Purpur bleicht; — und unbefriedigt durch sie, und arm noch mitten in ihrem Ueberfluß, sieht er da der unsterbliche Geist des Menschen und schaut in die Ewigkeit. Ihn nähre die Liebe und das Vertrauen zu Gott, wenn er uns mit seinen Gaben besucht; ihn erfreue und heilige das Gefühl der verborgenen Nahe Gottes in seinen Wohlthaten; sein Schatz und Reichthum sey das Bewußtseyn und der Segen vieler guten Thaten, und ein edler tugendhafter Sinn, der sich in jeder veränderlichen Lage des Lebens übt und befestiget, und für eine höhere Bestimmung läutert. Mag alsdann manches eitle Hoffen vergeblich auf seine Erfüllung warten, und manches schöne Traumbild , das uns eine Zeitlang freundlich anlächelte, wieder zerfließen und die Erde mit allen ihren Freuden und Leiden an uns vorübergehen!

Was wir in uns selber tragen,
Was wir gut's verrichtet hatten,
Bleibt uns für die Ewigkeit,
Wenn die Zeit den Schein und Schalten
Jedes andern Glücks zerstreut.

Selbst, wenn in edler, menschenfreundlicher Brust, die Liebe und Freude, und das Vertrauen zu Gott in schönen Wünschen und nahen Hoffnungen für Vaterland und Menschheit ausstrahlen, — es ist schön und groß, aber laßt uns auch dann nicht vergessen, daß Gottes Gedanken nicht unsere Gedanken, und unsere Zeitmaße nicht die seinigen sind. Die frohe Tochter Davids übersah es einen Augenblick in unserm Texte, wenn sie spricht: „Gott hilft seinem Diener Israel auf, und rechtfertiget die Erwartung unsrer Väter." — Aber noch kniet er trostlos und vergeblich harrend von einem Jahrhundert zum andern, an den Ruinen seines Thrones und seines Tempels, der Diener Israel; und noch manche Verheißung seiner Propheten, und noch manche Erwartung seiner Väter steht aus, und auch von ihrem Tag und von ihrer Stunde weiß Niemand.

Gehen nicht oft auch ähnliche Wünsche und Hoffnungen durch unsere Seele, und ähnliche Täuschungen an unsern Augen vorüber? Was erwarten wir oft nicht von günstigen Veränderungen in der Weltgeschichte und von dem merkwürdigen Zusammentreffen der Umstände, von der Rückkehr des Friedens nach einem blutigen Krieg, von großer edler Menschen gemeinschaftlichen Bemühungen für die Aufklärung, für Religion und Tugend, für Menschenveredlung und Beglückung! Wir wandeln schon unter den Blüthen einer schönen Zukunft, und freuen uns auf das nahe Reifen ihrer Früchte. Wir freuen uns und hoffen, bis wieder ein Augenblick zerstört, was Jahre gebaut haben, bis wieder ein blutiger Krieg die aufsteigenden Paradiese des Friedens verwüstet, bis der Unglaube aus den Ketten des Aberglaubens Pfeile schmiedet, bis Thorheiten und Laster, gefährlicher als vorher, sich in das gefällige Gewand der Tugenden kleiden; und das Reich Gottes, das Gerechtigkeit, Friede und Freude ist, kommt noch lange nicht. Laßt uns nicht muthlos werden an unsern Erfahrungen. Der große Gang der Menschheit zu ihrem erhabenen Ziele ist von einem guten Auge beobachtet, das weiter als das unsrige schaut, und von einer festen Hand geleitet, die mächtiger als die unsrige wirkt. Aber wir leben Monden lang, und er lebt und wirkt von Ewigkeit zu Ewigkeit. Wir wünschen, unseres kurzen Tages uns bewußt, heute noch zu sehen, was erst morgen gedeihen kann. Aber um uns einen schönen Anblick noch zu gewahren, ehe unser Abend niedersinkt, übereilt er den ruhigen Gang der Dinge zu ihrer Vollendung und Festigkeit nicht, und greift nicht hemmend und störend in das Streben und Wirken freier Kräfte ein. Laßt uns — (o es ist schöner als müßiges Wünschen und Harren) — laßt uns mit menschenfreundlichem Herzen und mit unverdrossener Hand wirksam seyn für Vaterlands- und Menschenwohl, Thränen trocknen, Gebrechen heilen, Irrende zurecht weisen, der Tugend Freunde gewinnen, dem Frevel in den Weg treten, Verdienste ehren, aufmuntern durch eigenes Beispiel und That. — Wir legen ein Saatkorn vielleicht für eine späte Zukunft in die Erde und gehen auch in die Erde, und vertrauen uns und die Zukunft dem an, der vor uns war, und ewig ist. Einst wenn uns seine Stimme wieder ruft, werden wir zu einem schönen Erndtetag erwachen, und eine schöne Vollendung dessen erblicken , was wir hier im schwankenden Anfang verließen, und werden keine Fragen und keine Wünsche mehr übrig haben.

Amen.

 

 
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