zurück Predigt am Sonntage Septuagesima 1792.
     

 Erhabener und gütiger Gott, du wohnest in heiliger Höhe, und hörest die Lobgesänge der Engel, die deinen Namen preisen; aber auch das Stammeln deiner Kinder hier unten im Staube, die Opfer unsers Danks, unsrer Gelübde und unsers Gehorsams sind dir angenehm. Und ob du schon, allervollkommenstes Wesen, unsrer Verehrung nicht bedarfst, und wir Ohnmächtige dir keine Seligkeit geben noch zurückhalten können, so segnest du doch jeden guten Gedanken an dich mit frohen Empfindungen, das fromme Gebet mit gnädiger Erhörung, und die gute That mit Beifall und großer Belohnung. Möge denn auch dein guter, wohlgefälliger vollkommener Wille stets unsre Richtschnur seyn! Möge unser ganzes Leben dir dem Vater des Lebens durch Gottseligkeit geheiliget, und deine Verehrung unsre höchste Wonne und Glückseligkeit werden! — Herr, wir wallen dir und deiner Ewigkeit entgegen, wo wir in einer noch würdigern Verehrung deines Namens noch seliger werden sollen. Führe uns den Weg, den wir wandeln sollen; du bist unser Gott, dein guter Geist leite uns auf ebener Bahn. V. U.

Text: Matthäus 20, 1 — 16

1 Denn das Himmelreich gleicht einem Hausherrn, der früh am Morgen ausging, um Arbeiter für seinen Weinberg einzustellen.
2 Und als er mit den Arbeitern einig wurde über einen Silbergroschen als Tagelohn, sandte er sie in seinen Weinberg.
3 Und er ging aus um die dritte Stunde und sah andere müßig auf dem Markt stehen
4 und sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg; ich will euch geben, was recht ist.
5 Und sie gingen hin. Abermals ging er aus um die sechste und um die neunte Stunde und tat dasselbe.
6 Um die elfte Stunde aber ging er aus und fand andere und sprach zu ihnen: Was steht ihr den ganzen Tag müßig da?
7 Sie sprachen zu ihm: Es hat uns niemand eingestellt. Er sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg.
8 Als es nun Abend wurde, sprach der Herr des Weinbergs zu seinem Verwalter: Ruf die Arbeiter und gib ihnen den Lohn und fang an bei den letzten bis zu den ersten.
9 Da kamen, die um die elfte Stunde eingestellt waren, und jeder empfing seinen Silbergroschen.
10 Als aber die Ersten kamen, meinten sie, sie würden mehr empfangen; und auch sie empfingen ein jeder seinen Silbergroschen.
11 Und als sie den empfingen, murrten sie gegen den Hausherrn
12 und sprachen: Diese Letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, doch du hast sie uns gleichgestellt, die wir des Tages Last und Hitze getragen haben.
13 Er antwortete aber und sagte zu einem von ihnen: Mein Freund, ich tu dir nicht Unrecht. Bist du nicht mit mir einig geworden über einen Silbergroschen?
14 Nimm, was dein ist, und geh! Ich will aber diesem Letzten dasselbe geben wie dir.
15 Oder habe ich nicht Macht zu tun, was ich will, mit dem, was mein ist? Siehst du scheel drein, weil ich so gütig bin?
 16 So werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein.

Ein Hausvater geht zu verschiedenen Zeiten des Tages, selbst noch in den Stunden des schon herandämmernden Abends auf den Markt, um Arbeiter wo er deren müssig stehen sah, in seinen Weinberg zu miethen. Ein Betragen, das sich noch erklären ließe, wenn der Arbeit viel, jeder längere Aufschub nachtheilig, und an müssigen Leuten ein Mangel gewesen wäre. Aber in der zwölften, das heißt, in der letzten Stunde des Tags, wenn er seine Arbeiter zusammenruft, und jedem von den letzten an, die kaum eine Stunde arbeiteten, bis zu den ersten, die des ganzen Tages Last und Hitze getragen hatten, ohne Unterschied gleichen Lohn austheilt, so war es kaum zu verwundern, wenn sein Betragen Jedermann, und besonders einem Theil der Arbeiter selbst räthselhaft und ganz unerklärbar schien. Und doch handelt auch der große gemeine Hausvater alles dessen, was unter der Sonne gedeiht und lebt, der weise und gerechte, in dem Gang seiner Rathschlüsse und Verhängnisse, in manchem Betracht auf die nämliche Weise. Denn wenn das Lebensalter eines Menschen ein Tag der Arbeit in dem Weinberge des Herrn, wenn die Stunde des Todes das Zeichen ist, das dem müden Arbeiter Endigung des Geschäfts und Ruhe ankündiget, wenn die Ewigkeit für Treue und Arbeit die Belohnungen reicht, — so ist es gewissermaßen einerlei, ob er Menschen, die zu gleichem Zwecke zur nämlichen hohen Glückseligkeit geschaffen sind, in ungleichen Zeiten zu der Arbeit ruft, oder ob er sie in so ganz verschiedenen Stunden, den einen früher, den andern später, zur Rechenschaft und Vergeltung wieder abfordert. Und wie oft, wie täglich haben wir die Gelegenheit zu bemerken, wie er hier einem schon um die sechste, da einem um die neunte Stunde, dort einem andern erst wenn er des Tages Last und Hitze ausgeduldet hat, die Feierstunde ankündiget! Wie oft fragt unser erstaunter Sinn: warum mußte dieser Jüngling in der Blüthe seiner Jahre wieder sterben, und mit ihm so manche unentwickelte Fähigkeit begraben werden? Warum ward jener als Mann in der Hälfte seiner Tage dahin gerafft, und warum verirrt sich dort der müde und lebenssatte Greis gleichsam über die Grenze seines Daseyns hinaus und kann nicht sterben? Wenn auf alle gleicher Lohn im Himmel wartet, warum machte es die Vorsehung jenem so leicht, diesem so schwer ihn zu erringen? Oder wenn jedem nach dem Verhältniß dessen, was er gethan hat, soll gelohnet werden, warum gönnte sie diesem so viele, jenem so kurze Zeit, den Samen guter Thaten auszuwerfen, sich Schätze zu sammeln im Himmel?

Und gleichwohl sind auch hierin Gottes Wege .gerecht, weise und gut, dem, der sie mit frommem Sinn und Vertrauen wandelt, und das Ziel, daß er ergreifen soll, nicht aus den Augen verliert. Wir werden mit euch von der ungleichen Dauer des Lebens einzelner Menschen, so reden, daß wir

1) die Gerechtigkeit, Weisheit und Güte Gottes darin begreiflich zu machen suchen, und

2) heilsame Regeln für unser Verhalten daraus herleiten.

Sind die Lebensstunden wenige oder viele und des Lebens Freude in größerm oder geringerm Maße, Wohlthat aus der Hand des Schöpfers, so ist jede solche Wohlthat des Dankes und freudigen Genusses aus dem innersten Gefühl dessen, dem er sie gönnte, werth. Die Erfahrung, daß Andere dieselben länger und reichlicher genießen, berechtigt zu keiner Unzufriedenheit und Klage, und benimmt ihr nichts von dem Werth, den sie haben würde, wenn Keiner glücklicher wäre. Mit welchem Schein sollten wir den Ewigen tadeln können, daß er dem nicht alles gab, dem er nichts schuldig war! Der ist ungerecht, der einem Einzigen nicht gönnt, was er ihm schuldig ist, — aber der ist mehr als gerecht, er ist überschwenglich unbegreiflich gut, und der freudigsten Verehrung würdig, der unzählig Vielen, zwar in den ungleichsten Maßen, Leben und Freude zutheilt, aber auch dem Letzten, der am wenigsten empfieng, doch noch mehr gab, als er fordern konnte. — Wie kurz und hinreichend könnten wir also jeden Tadel und Zweifel über die Rathschlüsse der Vorsehung mit der Rechtfertigung deß Hausvaters aus unserm Evangelium beantworten: Mein Freund ich thue dir nicht unrecht.

Doch alle Verhängnisse des Ewigen sind zu weise und zu gut, als daß sie dieser Abfertigung bedürften. Die ungleiche Lebensdauer der Sterblichen

hat nicht in einer zufälligen, zwecklosen, stets abwechselnden Willkühr des Schöpfers, sondern meistens in der natürlichen Einrichtung aller Dinge, die er so schön, so stet, so übereinstimmend und vollkommen miteinander verband, ihren natürlichen Grund, in dem Grad von Stärke und Dauerhaftigkeit, die die Natur seinem Körper geben konnte, in der Mischung seines Bluts, in der Luft, die er athmet, in der Nahrung, die er genießet, in hundert andern natürlichen, oft klein scheinenden, oft nicht bemerkten Umständen, in der ungleichen Sorgfalt, mit der der Mensch, ein freies Geschöpf, das edelste Geschenk des Schöpfers selber bewahrt. Gott hätte jeden Menschen mit gleicher Beschaffenheit des Körpers und Geistes von seiner Geburt an ausrüsten, er hätte in jeder Brust eine gleiche Mischung von Temperamenten veranstalten, er hätte alles was auf Gesundheit und Leben Einfluß haben kann, für jeden gleich bestimmen müssen; oder er müßte der Wirkung jedes Zufalls, der diese traurige Einförmigkeit für immer stören würde, jedesmal durch unmittelbare Dazwischenkunft zuvorkommen, das heißt, er müßte durch unaufhörliche Wunder die heiligen Gesetze der Natur, und den schönsten Schmuck des Menschen, die Freiheit zernichten, wenn er uns keinen Anlaß zu jenen Fragen über den Gang seiner Verhältnisse übrig lassen wollte.

Aber diese Bemerkung müsse uns nicht betrüben, diese unabänderliche Ordnung ist darum keine harte, grausame Ordnung. Sie ist Wohlthat; Wohlthat für das Ganze. — Wenn auch wir Kurzsichtige dem Allweisen eine andere Einrichtung der Dinge für eine gleichmäßige Dauer der menschlichen Lebenszeiten vorschlagen könnten, so wären wir doch wenigstens keineswegs berechtigt, auf eine größere Ausdehnung der Lebenssummen im Ganzen, sondern höchstens auf eine gleichförmigere Austheilung anzutragen. Wir würden alle Lebensfristen der Sterblichen gegeneinander berechnen und vergleichen, und uns nach allem Recht und Billigkeit mit dem Theil, der jeden träfe, das heißt, mit dem Mittlern begnügen müssen. Und so würden unsre Tage von der schönen langen Reihe, die wir mit frohen getrosten Hoffnungen bis ans ferne Grab hin voraussehen, auf weniger als die Hälfte herabschwinden. Und nun frage ich kühn jeden, der die Frage beherzigen mag: wollen wir, wenn uns das Leben werth ist, lieber auf der blumenvollen Bahn, wenn auch ihr Ende sich in der Ferne vor unserm Blick verliert, mit Hoffnung und Vertrauen fortwandeln, oder den gewissen nahen Abgrund, der sie auf einmal ab, schneidet, von dem ersten Schritt an, stets und immer näher, und immer furchtbarer vor unsern Augen sehen? Wollen wir es lieber für möglich halten, daß wir um die dritte Stunde des Tages sterben können, oder für gewiß, daß wir um die sechste sterben müssen? Doch rücket das Lebensziel so weit hinaus, als ihr wollet, das Maß der Laufbahn derer, die vor uns dahin fielen, könnte uns keinen Augenblick im Zweifel lassen, wo die unsrige sich schließen würde, und diese traurige Gewißheit müßte alle schreckliche Folgen, welche die Kenntniß zukünftiger Schicksale überhaupt haben würde, desto furchtbarer nach sich ziehen, je bedeutender das letzte, der Tod, — von allen Schicksalen des Lebens ist. Der Jüngling, vor dem entscheidenden Augenblick noch lange gesichert, würde noch häusiger als jetzt in verkehrtem irdischen Sinne dahinwandeln, und das Wichtigste, das Nöthigste, die Heiligung seines Herzens, die treue Ausübung seiner Pflichten — das Geschäft des ganzen Lebens auf den kleinsten traurigsten Theil desselben verschieben. Der Mann würde alle Schrecken des Todes, welche die Natur jetzt wohlthätig in einen Augenblick zusammenpreßt, der oft vorbei ist, eh' er empfunden wird, Jahre lang fühlen, und todt seyn, eh' er stürbe. Der Glückliche jedes Alters würde seine Freuden kaum halb empfinden, wenn er sein Ende schon so nahe sähe, und der Leidende seine Schmerzen zwiefach fühlen, wenn ihm die Stunde der Auflösung noch so ferne dämmerte. Der Träge würde schon in den besten Jahren seine Kräfte der Welt entziehen, und in Unthätigkeit entschlummern, wenn er berechnen könnte, daß er, um seine Zeit noch fortzuleben, nicht mehr zu arbeiten nöthig hätte. Der leichtsinnige Wollüstling würde schwelgen und verschwenden, um seine Rechnung und sein Leben mit einander zu schließen Furcht und Sicherheit, zwei Plagen, die sich jetzt in schone, wohlthätige Tugenden — Wachsamkeit und Hoffnung zusammenmischen, würden einzeln das Glück der Menschen untergraben. Die schöne Erde, reich an Kraft und Leben und Freude, würde in dieser Ecke ein trauriges Leichenhaus, in der andern ein lärmender Tummelplatz der Sichern und Trunkenen seyn. Ist es schön und wahr, was Salomo von Glück und Unglück sagt: Am guten Tage sey frohen Muthes und wisse, auch der böse ist gut, denn Gott schuf diesen neben jenem, daß der Mensch nicht wissen soll, was künftig ist, — so ist es hier noch viel wahrer und einleuchtender: Gott reißt den Greisen von dem Jüngling weg — und den Jüngling von der Seite des Greisen, daß der Mensch zu seinem Glück nicht wissen soll, was zukünftig sey.

Und diese Wohlthat für die Menschheit im allgemeinen ist auch Wohlthat für jeden Einzelnen, den es trifft, um die dritte Stunde den Weinberg zu verlassen, oder des Tages Last und Hitze zu tragen. Der Ewige, der Allweise, Allgütige, Allesueberschauende, dem es für keinen Zweck an Mitteln fehlt, in dessen Händen jedes Mittel wohlthätiger Endzweck, und jeder Endzweck Mittel zu neuen Wohlthaten ist, sicherlich hat er die Gesetze der Natur, die Ordnung und Verkettung der Dinge nicht so obenhin entworfen, daß das Beste Aller, nicht auch das Beste jedes Einzelnen wäre. Sicherlich entgieng seiner Weisheit die Wahrheit nicht, die unserm schwachen Verstand so einleuchtend ist, daß allgemeines Wohl auf dem sichersten einzigen, Gottes würdigsten Wege befördert wird, wenn ers mit jedem Einzelnen wohl machet. — Gottes Wege sind oft vor uns in Dunkel verhüllt, aber allemal sind seine Rathschlüsse besser als unsre Wünsche. — Genug, daß der Jüngling aus der Bahre wenigstens hier nichts verliert, was er dort nicht in reichlichem vergeltendem Maße anträfe, und der Greis am wankenden Stabe kommt zu keinen Freuden im bessern Leben zu spät. Wie Christus zu Nazareth und Jerusalem, so ist er hier und dort in dem was seines Vaters ist. Wir dürfen uns nur die Kluft zwischen diesem und jenem Leben nicht zu groß und den Uebergang nicht so unnatürlich denken. Der Mensch, der einmal das Leben empfangen hat, ist hier wie dort unsterblich. Gerade wo er zu sterben scheint, fließt das zeitliche und ewige Leben in eins zusammen. Was er hier oder dort Gutes genießet, ist ein Theil der Glückseligkeit, zu deren Genuß er ins Leben tritt. Wo er hier aufhörte, wird er dort wieder anfangen, und dort wie hier wachsen, und durch jedes gute Geschäft seine Kräfte zu einem noch bessern üben, durch jede reine Freude seinen Sinn zum Genuß einer noch reinern fähig machen und veredlen. Hier und dort ists gut. Aber welches ist für jeden das beste? — Das, was für jeden Gott wählt.

Sind die Verhängnisse des Ewigen auf diese Art gerecht, weise und gut, so lasset auch uns, christliche Zuhörer, die Umstände, in welche er uns versetzte, weise benützen, und aus den Gesetzen des Schicksals, denen er uns unterworfen hat, Wohlthaten für uns gewinnen.

Laßt uns das Ende des Lebens nie vergessen, um den Weg des Lebens nie zu verfehlen. Wir sind da, um in dem Geschäfte des Herrn, jeder auf seinem Platz und nach seinen Kräften, mit Treue und Unverdroßenheit zu arbeiten, bis er uns abruft, um unser Tagewerk zu prüfen, und uns den Lohn zu ertheilen. Die Hinsicht auf die bevorstehende Stunde der Ablösung, Tod heisset sie, müsse diesen Eifer und Muth weise, heilig, nützlich zu leben, oft von neuem anfachen, unterhalten und verstärken. Nur dann haben wir auf der Welt glücklich gelebt, wenn wir sie glücklich verlassen können. — Wahrlich der Tod ist nicht etwa mit einem andern unangenehmen unvermeidlichen Zufall von der Art zu vergleichen, daß es Weisheit wäre, ihn so lange aus dem Sinne zu schlagen, bis wir seiner gedenken müßten, daß wir, wenn er nahe genug wäre, uns auch noch geschwind genug auf seinen Empfang vorbereiten könnten. — Der Tod, daß ich es sage, ist Zweck des Lebens, wenn er anders Uebergang zur Vollkommenheit und Seligkeit seyn soll. — Wir leben weil wir sterben sollen , wenn wir anders nicht ohne Absicht, ohne Zweck, ganz ohne Bestimmung leben.

Laßt uns daher an der Vollendung des Geschäftes unsers Lebens, der Heiligung, Tugend und Menschenliebe, eben um deswillen desto eifriger und ungesäumter arbeiten, weil der weise und göttliche Hausvater uns nicht wissen läßt, wie viel Zeit wir noch zur Vollendung übrig haben, — ob wir morgen noch werden thun können, was wir heute nicht gethan haben. Es gibt Fälle, deren Folgen so wichtig sind, daß ihre bloße Möglichkeit auf die Entschließungen und das Betragen eines Vernünftigen die nämliche Wirkung haben muß, als ihre völlige Gewißheit. Und was ist möglicher an uns, als das, was wir täglich an Andern geschehen sehen? Was ist wichtiger als eine Handlung, deren Unterlassung oder Vollendung unserm Glück für alle Ewigkeit einen Abbruch oder Zuwachs gibt, — vielleicht unser Glück oder Unglück entscheidet? Wissen wir also noch einen Fehler an uns zu verbessern, noch eine Ungerechtigkeit gut zu machen, noch einem Beleidigten unsere Reuepredigten zu bezeugen, noch eine Wohlthat zu vergelten, noch einen Traurigen zu trösten, einen Hungrigen zu sättigen, einen Irrenden auf die gute Bahn zurückzuführen, einem Bethörten die Augen zu öffnen, verborgene Verdienste ans Licht zu ziehen, gekränkte Unschuld zu retten, ein gutes Beispiel zu geben, — laßt es uns heute, im zweifelhaften Fall — am letzten Tag unsers Lebens, thun. — Sehen wir die Sonne noch einmal aufgehen, und noch einmal ihren Lauf vollenden, so haben wir nichts verloren, und vieles gewonnen; der morgende und jeder folgende Tag wird uns wieder eine schöne Laufbahn eröffnen, er wird uns noch genug, er wird uns wieder Unvollkommenheiten entdecken, von denen wir uns reinigen können, er wird uns noch Hülfsbedürftige, Schwache, Leidende zuführen, die auf unsre Hülfe warten; er wird uns wieder Gelegenheit anbieten, Gott den Vollkommenen besser kennen zu lernen , ihn inniger zu lieben und zu verehren, uns fester an ihn anzuschließen. Auch in dieser Absicht ist die Erndte groß und der Arbeiter nicht so viele, daß einer am Markte müßig stehen dürfte.

In dieser Verfassung laßt uns alsdann ruhig erwarten, ob uns der Ewige früh oder spät abrufen werde. Schlägt die Stunde bald, — die Trennung von dem, was uns lieb war, die Zernichtung so mancher lange genährten Hoffnung müsse uns nicht trostlos machen. Schlägt sie spät, — die Last und Hitze die wir noch zu tragen haben, müsse keine Ungeduld und Klage in unserm Herzen erwecken. Der gütige Vater mißgönnt uns keine geringere Freude, als um uns eine größere dafür zu geben. Er legt uns kein so schweres Leiden auf, als um uns mit einem noch schwereren verschonen zu können.

Und mit gleichem Vertrauen laßt uns auch noch die Wege der Vorsehung in dem Schicksale deren verehren, die an unserer Seite leben und sterben, so dunkel und unbegreiflich sie auch unserm Blicke scheinen mögen. Befremdet es uns doch nicht, wenn der Gärtner verschiedene Pflanzen zu verschiedenen Zeiten aus einem Pflanzenbeet in das andere versetzt, wenn er die eine früher, die andere später vor dem herannahenden Winter in Sicherheit bringt, wenn er diese Blume bis an den späten Abend der Luft aussetzt, und jene nur einige Stunden am freundlichen Strahl der Sonne sich erquicken läßt; — wir trauen ihm zu, daß er die Natur jeder Pflanze kenne, nichts ohne Ursache thue, sich von Erfahrungen leiten lasse. Mit wie viel gerechterem Zutrauen und größerer Ruhe dürfen wir dem zusehen, was der allwissende, allweise und gütige Hausvater in seinem Pflanzgarten für die Ewigkeit thut!

Laßt uns zur Befestigung aller dieser Entschließungen und Gesinnungen mit einem belehrenden und trostreichen Blicke auf das Vorbild jeder Vollkommenheit auf Jesum Christum schließen. Er trat in Menschengestalt auf die Erde, um ein großes Werk zu vollenden; und sein Grundsatz war: ich muß wirken die Werke deß, der mich gesandt hat, so lange es Tag ist. Er kam, um des schwülsten Tages Last und Hitze zu tragen, und sein Grundsatz hieß: nicht wie ich will, sondern Vater wie du willst.

Amen.

 

 
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