zurück Predigt am eilften Sonntage nach Trinitatis 1799
     

Gott du erforschest uns und kennest uns. Wenn unser Herz uns so gerne täuscht, wenn wir so leicht mit der süßen Täuschung uns beruhigen lassen, daß wir reiner, besser, dir ähnlicher seyen als wir wirklich sind, wenn wir so gerne unsere gutmüthigen Schwächen für errungene Tugenden, und schwer verschuldete Fehler für verzeihliche Schwächen halten, und wenigstens vor Menschen sorglich verbergen, was wir uns selbst nicht läugnen können, Gott, so erforschest und kennest du uns doch. Unsere guten Thaten und unsere bösen Thaten, unsere Worte und Gedanken, unsere stille entstandenen und stille wieder erloschenen, von uns längst vergessenen Wünsche und Neigungen liegen auf deiner Wage, die für die Ewigkeit sammelt, und für die Ewigkeit entscheidet. Ach sie ist uns allen so nahe — die Stunde der ernsten Entscheidung; er ist so nahe und schlummert so leise — der Richter in unserer eigenen Brust. Heiliger, Barmherziger, zu diesen Ueberzeugungen flehen wir um Ernst aufrichtig zu seyn gegen uns selber, um Weisheit uns selber kennen zu lernen, um Muth für jeden lange Verblendeten, das Bewußtseyn seiner Schuld zu ertragen, um Trost für ihn, um Kraft für uns alle, die wir alle bedürfen, mit festem Blick auf unsere Bestimmung und auf ihren Segen von einer schweren Stufe der Vollkommenheit zur andern leichter emporzustreben. Dieser Segen begleite auch heute unsere Andacht. Wir beten darum in einem stillen V. U.

Text: Lukas 18, 9 — 14

9 Er sagte aber zu einigen, die sich anmaßten, fromm zu sein, und verachteten die andern, dies Gleichnis:
10 Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner.
11 Der Pharisäer stand für sich und betete so: Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner.
12 Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme.
13 Der Zöllner aber stand ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig!
14 Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.

 

Unter allen Gegenständen der Erkenntniß, denen der Mensch unter der Sonne nachforschen kann, ist für ihn nichts so wichtig, als die Erkenntniß seiner selbst, seiner Tugenden, Schwachheiten und Fehler, kein tief verborgenes nahes oder fernes Geheimniß seiner sorgfältigen Untersuchung so werth, als das tiefste und nächste, — sein Herz. Von der Lauterkeit und Güte unserer herrschenden Gesinnungen, von der Güte und dem Werthe unserer Thaten, von der Uebereinstimmung unseres ganzen Lebens mit dem heiligen Gesetze, das vom Himmel herab in unserer Brust anspricht, hängt unsere wahre Zufriedenheit und innere Glückseligkeit schon hier so ganz und unsere Ruhe am Scheidepunkt von der Erde zur Ewigkeit so unvermeidlich, und unser Loos dort, wohin keine Erdenfreude und keine Erdengabe uns nachfolgt, so entscheidend ab; und die Meinung von unserm jetzigen Werth hat auf unsere künftige Denkungsart und Handlungsweise so starken Einfluß, daß wir nicht sorgfältig und strenge und ehrlich genug auf uns selber achten können, um uns die große Frage zu beantworten, wie gut und fromm wir vor Gottes Augen wandeln, welche Fehler wir noch abzulegen, vor welchen wir am sorgfältigsten uns zu hüten haben; — wenn wir gut sind, ob wir nicht besser seyn könnten; — wenn wir Fortschritte zur Vollkommenheit bei uns bemerken, ob wir nicht freudiger und schneller dem noch immer fernen Ziele uns nähern könnten.

Lasset uns heute mit einer Art von Menschen uns beschäftigen, die gegen diese Fragen nicht gleichgültig und sorglos erscheinen. Aber sie legen sich diese Fragen vor, nicht um besser zu werden, wenn sies noch nicht sind, sondern sich gut zu finden, damit sies nicht werden dürfen. Sie wählen daher zur wahren Selbsterforschung die verkehrtesten, zur Täuschung die zweckmäßigsten Mittel.

Wir wollen uns prüfen, ob wir auch dazu gehören oder nicht, ob wir ganz oder nur zum Theil von diesen Fehlern frei sind, ob es nie unser Herz so beschleicht: ich bin doch besser als noch viele andere , — ich habe mir doch keine große Vergehungen vorzuwerfen, — ich habe doch auch schon manches Gute gewissenhaft gethan, — und ob diese Beschleichungen nicht nachtheilig in unsere Seele wirken.

Es ist erstens ein verkehrter Weg, wer sich selber kennen und seinen Werth prüfen will, aber ein sicheres Mittel der Täuschung, sich nur mit Andern zu vergleichen, ihren größern Fehlern seine kleinern, ihren kleinern Tugenden seine größeren, wohl gar seine Tugenden ihren Fehlern gegenüber zu stellen. Welcher Verdrossene zum Guten würde nicht bald einen Andern ausspähen, der ihm noch verdrossener scheint? Wenn seine Tugend noch schwach und zweideutig auf den Wogen der Gefühle schwankt, wird er wohl Keinen finden, dem sie gänzlich fehlt? Weiß er mancher guten Eigenschaft sich nicht zu trösten, so ist er doch wenigstens von den Fehlern frei, die er in dem Betragen Anderer so häufig bemerkt, und glaubt dann gut zu seyn, weil es so Viele noch weniger sind als er, weil er noch einen so großen Abstand zwischen sich und dem Schlimmsten bemerkt. — So erhebt ein Mann in unserm Evangelium die Stimme: Ich danke dir Gott, daß ich nicht bin wie andere Leute.

Es ist überhaupt schwer, sehr mißlich, fast unmöglich, immer ein zweckloser Umweg, durch Vergleichung mit irgend einem Menschen, seinen eigenen Werth bestimmen zu wollen. Immer kennen wir doch uns selber noch besser als jeden andern Menschen. — Wer prüft und wägt und bürgt uns ihren Werth oder Unwerth? Und welcher Mensch weiß, was in dem Menschen ist, ohne der Geist des Menschen, der in ihm ist? Geht nicht das Köstlichste und Beste, und Eigentlichste, was die Güte seiner Thaten und die seines Herzens entscheidet, sie vor Gottes Auge entscheidet, dem unserigen fast ganz verloren? Seine heiligste und schönste That, die er im verborgenen Schatten der Bescheidenheit und Demuth verrichtet, sein Herz, seine eigennutzlose menschenfreundlichen Absichten, selbst bei mißlungener List, seine stille fromme Liebe zu Gott und dem Guten, seine Kämpfe, sein Ringen und Streben besser zu werden, sein andachtvolles Gebet, seine schmerzhafte anhaltende Reue, womit er Vergehungen büßt, und den Himmel versöhnt, während ihn vielleicht die Erde verdammt; — oder denn auch von diesem allem das Gegentheil. Eben so wenig kennen und bemerken wir die unzähligen, innern und äußerlichen, wesentlichen oder zufälligen Hindernisse, die seinen Gang im Guten so oft wider seinen Willen aufhalten, ihn unvermerkt und unwillkührlich an die Gränze einer Vergebung vielleicht hinüberziehen, die, wenn er sie besiegt, seine minder glänzende Tugend sehr werth, wenn er erlag, seinen Fall sehr verzeihlich machen. Und an einem solchen Maßstab, den wir nicht kennen, dessen Zeichen und Ziffern wir nie verstehen, wollten wir unsere Tugend prüfen, unsre beste Habe schon auf Erden, und die einzige die uns nachfolgt? Wollten wir alle jene Umstände an uns selber auch ausser dem Auge lassen, wie einseitig und unzuverlässig müßte unsere Beurtheilung werden! Wollten wir sie in Beurtheilung eines Andern auch in Rechnung und Anschlag nehmen, welche Unmöglichkeit, die nur vor dem Allwissenden verschwinden kann, begönnen wir! — Immer kennen wir noch uns selber zum Voraus besser als jeden Andern. Immer wählt also der, welcher den Werth des Bekanntern aus dem Werthe des Unbekannten berichtigen will, einen seltsamen zwecklosen Umweg. Aber desto sicherer erreicht das Auge, das die Wahrheit flieht, auf seinen Krümmungen im Halblichte der Täuschung seine Absicht.

Es ist mißlich durch Vergleichung mit irgend einem Andern seines Werthes sich versichern zu wollen. Und dann erst stellt der Prüfende gewöhnlich doch sich einem Menschen gegenüber, den er zum Voraus für unvollkommen hält, und sagt sich dann: ich bin fromm genug, denn ich bin besser als Viele. Aber warum nicht lieber: Viele sind besser denn ich, darum bin ich nicht fromm genug? — Oder er spürt auch an dem besten Herzen noch einen Splitter auf, und beruhiget sich nun über den Beschädigungen des eigenen. Aber er zählt und wagt nicht die Tugenden des frommen Menschenfreundes, bemerkt nicht, wie von ihnen ein milder deckender Schimmer sich über seine Fehler verbreitet, achtets nicht, wie es oft eine Tugend selber war, die an einer unsichern Grenzlinie sich in eine Schwachheit verlor, und wie die Schwachheit wieder milde und vergütend sich in den schönen Zug eines edlen Herzens verklärt, und gesteht sichs nicht, daß alles zusammengefaßt sein Bild noch lange nicht das Bild eines sanften guten Menschen sey.

Es ist zweitens ein verkehrter Weg, wer sich selber prüfen will, und ein sicheres Mittel der Täuschung, nur an einzelne sehr in die Augen fallende Fehler zu denken, und sich zu beruhigen, daß man frei von denselben sey. Ich danke dir Gott, daß ich nicht bin wie andere Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher oder wie dieser Zöllner. Denn wie leicht müßte es selbst dem noch werden, der sich am unglücklichsten von der guten Bahn verirrte, einzelne Fehler zu finden, denen er nie erlag, weil er zu ihnen in seinem Herzen keine Neigung, oder in seiner Lage keine Veranlassung, oder in seinem Wirkungskreis keine Versuchung fand, oder weil sie neben andern Leidenschaften, die sich seiner früher und gebietender bemächtigt haben, wie Rachsucht neben Feigheit, Ausschweifung neben Geiz, nicht friedlich in einem Herzen hausen können! Oder wenn er am Ende von allen heftigen Ausbrüchen unedler Neigungen frei, und sonst nichts wäre, wie wenig hätte er auch dann noch den heiligen Forderungen seines Schöpfers entsprochen, der das Kleinste wie das Größte bemerkt, in der stillen Neigung schon den Zunder der brennenden Leidenschaft glimmen sieht, und nicht nach der That, sondern nach dem Sinne der Sterblichen richtet! Gewaltsame Ausbrüche wilder Neigungen sind wie die Stürme und Erschütterungen in der Natur seltener, aber die stillen Bewegungen derselben wirken wie dort die stillen Kräfte anhaltender und sicherer, und wägen am Ende doch ein Verbrechen auf. Die Summe fortgesetzter kleiner Ränke und Vervortheilungen, die einzeln so unbedeutend scheinen, und so selten zusammen gewogen werden, können bald der gewaltsamsten Ungerechtigkeit, — die Summe leicht und scherzhaft verübter Kränkungen der kaltherzigsten Mißhandlung eines Unschuldigen gleich werden. Darum zeichnet der große Menschenlehrer und Menschenkenner und Menschenfreund das Bild seines achten Jüngers so genau und scharf und rein: „Wer mit seinem Bruder zürnt, der nähert sich dem Todtschlag; und wer ihm Ja und Nein nicht hält, der ist nur noch dem Grade des Verbrechens nach hinter dem zurück, der Gott seinen Eid nicht hält; und wer seinem Feind die Liebe des Menschen versagt, den nicht segnen kann, der ihm flucht, den aus seinem Gebete ausschließt, der ihn beleidiget und verfolgt, in dem drückt sich noch nicht treu und kennbar die Liebe seines himmlischen Vaters aus, der auch gegen Undankbare und Boshafte gütig ist.

Es wäre der dritte verkehrte Weg, sich selber zu beurtheilen, und ein sicheres Mittel der Täuschung, wenn wir uns begnügen wollten, nur einzelne gute Neigungen und Thaten, selbst solche vielleicht an uns zu bemerken, die einen falschen Begriff von Frömmigkeit voraussetzen. Denn welches Menschen Leben könnte wiederum so ganz werthlos, welches arme Herz so arm und leer und erstorben seyn, daß ihm nicht einzelne gute Handlungen vielleicht um ihres eigenthümlichen Reitzes willen abzugewinnen waren, die er vielleicht aus Gewohnheit, vielleicht aus versteckten Nebenabsichten, mit stillem Vergnügen, vielleicht aus dunkelm Gefühl oder klarem Bewußtseyn von Pflicht erfüllte? Je sparsamer und vereinzelter alsdann etwas Gutes in dem Leben eines Menschen dasteht, desto bemerkbarer und abstechender wird es ihm selber. Je leichter es ihm ward, desto besser erscheint ihm sein Herz; je schwerer und mühsamer ers vollbrachte, desto geprüfter seine Liebe zum Guten. Er nimmt es in höhern Anschlag, je mehr des Bösen er damit ausgleichen und aufwägen muß, und rafft am Ende alles kümmerlich zusammen, was an sich höchst zweideutig ist, und nur in Verbindung mit wahrer innerer Herzenstugend entweder als Erweckungsmittel oder als nothwendige Folge eines guten Sinnes und Herzens den Werth einer guten That erhält. So zählts in unserm Evangelium der Betende seinem Schöpfer vor, daß er zweimal in der Woche faste, und von allen seinen Einkünften den Zehnten in den Tempel entrichte; er, der vielleicht fünfmal in der Woche Gottes Segen ohne Dank und ohne Maß verzehrt, und ohne ein Gefühl des Erbarmens für die leidende Armuth um ihn her, die siebenmal in der Woche fastet, und der vielleicht das Unrecht, womit er neun Zehntheile zu seinem Eigenthum machte, nur durch noch ungerechtere Anwendung übertrifft.

Mögen wirs uns bergen, daß solche Täuschungen auch im Kleinen bedeutend seyen, die im Großen den Pharisäer vollenden? Mögen wir zu ängstlich ahnden, wenn es schon nicht gleichgültig ist irgend einen Menschen falsch zu beurtheilen, und wenn aller Irrthum stille zum Nachtheil wuchert, daß sein Keim im fruchtbaren Boden des eigenen Herzens, von Neigungen genährt und von Eigenliebe gepflegt, bald in Dornen schieße, und mit giftigen Früchten lohne.

Gegründeter Glaube an eine eigene Tugend, es wird immer ein bescheidener, wenn schon froher, ein wirksamer, demüthiger Glaube seyn, der uns nie zur Versuchung werden kann, nun am erreichten Ziele stille zu stehen. Es ist im ganzen Gebiete aller körperlichen und geistigen Kräfte keine einzige, die nicht, so weit ihr Wirkungskreis sich strecken kann, unaufhaltsam vorwärts strebte, so bald sie über die entgegenstrebenden Kräfte, oder über die todten Hindernisse, die sie einschränken, das Uebergewicht errungen hat, die nicht, wie sie die Hindernisse besiegt, wirksamer würde, und, wie sie an Wirksamkeit zugenommen hat, mächtiger durch die Hindernisse durchbricht. Wird nicht der Reichthum reicher, die Stärke stärker, die Klugheit klüger, selbst die Bosheit böser? Wie könnte nur das Lebendigste und Geistigste — siegender Tugendsinn, dessen Kraft und Dauer über die Erde hinaus für die Unendlichkeit berechnet ist, in sich selbst zurückschlummern. Wie sollte allein der Gute nicht besser werden? Oder laßt uns gerechter fragen: wie könnte der schon gut seyn, der besser zu werden so bald ermüdete? —

Umgekehrt wird auch das wahre Gefühl der Unvollkommenheit ein gutes Herz nicht ruhig lassen; es weckt die göttliche Traurigkeit, die da wirket zur Seligkeit eine Neue, die Niemand gereuet; es zieht Zöllner in den Tempel, zieht die Hand auf die bewegte Brust, und schreit aus der Tiefe des beklommenen Herzens: Gott sey mir Sünder gnädig.

Aber erblicket in der traurigen gefahrvollen Mitte den Unglücklichen, der todt ist und meinet er lebe. Wird er gut werden, wenn er sich begnügt, nicht schlimm zu seyn? Wird er sich losstreifen von Fehlern, die er nie an sich bemerkt, und die traurige Leere anbauen und ausfüllen, die der erborgte und erkünstelte Glanz seiner Vollkommenheit ihn nie entdecken läßt? Die Meinung gut zu seyn macht es ihm unmöglich gut zu werden. Der wahre Freund der Tugend und schon der, der es aufrichtig zu seyn sich wünscht und zu werden strebt, wird wohl nie mit Neid an der höhern Tugend hinauf, nie mit verachtendem und verdammendem Blick auf die tiefere und mühsam kämpfende herab schauen. Er freut sich jedes Guten, ehrt den Menschenfreund in jeder Gestalt, ringt ihm mit erwärmtem Herzen nach, urtheilt sanft und mild, muntert den Schwacher auf, warnt den Leichtsinnigen, weint mit dem Gefallenen, betet für den Verstockten, und ist, indem er mit Wehmuth den Bessern zu erreichen wünscht, ihm schon näher, als er weiß. Wird der es auch vermögen, dem der Sauerteig der Pharisäer im Herzen gährt? Wird er fremde Tugend ehren, die ihn verdammt? O es schäumt und stoßt sich aus ihm nur Neid und giftiger Argwohn, und schleichende Belauschung und stolze Verachtung aus, bis es sich klar geschieden hat: Ich danke dir Gott, daß ich nicht bin wie andere Menschen. Sein Bedürfniß gut zu scheinen verleitet ihn böse zu seyn. Und doch macht der künstlichste Irrthum nimmermehr die Wahrheit zur Lüge. Die Täuschung sinkt, ein wandelndes Schattenbild des Augenblicks, und die Wahrheit siegt. Irgend einmal dringt diese aus der umhüllenden Finsterniß hervor, dort wie das Morgenlicht aus den Nebeln der Dämmerung, hier wie der Blitz aus einer Gewitterwolke. Armer, Verlorner, wenn sie erst in einer leidensvollen Stunde, erst am Rande des Grabes, das Trost bedarf, und für dich keinen hat, oder erst über dem Grabe zu spät erschiene.

Nicht so, meine Freunde! — Laßt uns der Bekanntschaft mit unserm Herzen die größte Aufmerksamkeit, die ehrlichste Behutsamkeit, die ruhigsten, ernsthaftesten Stunden widmen.

Vor dem Allsehenden, mit einem Herzen, das durch Gebet zu ihm zu Ernst und Wahrheit und heiligem Gefühl seiner Nähe gestimmt ist, mit dem lebendigen Bewußtseyn unserer Bestimmung und unserer Pflicht und unserer Zukunft, mit männlich ernstem Andenken an Tod und Gericht und Ewigkeit, laßt uns den Blick der Prüfung in unser Inneres werfen und festhalten. — Und stets müssen uns zwei wichtige Wahrheiten gegenwärtig bleiben: die eine, daß nicht die That den Sinn, sondern nur der gute Sinn die That heilige; die andere, daß einst am Tage eines ernstern Gerichts wohl fremde Tugend uns beschämen und richten, aber fremde Schuld uns nimmer ehren und entschuldigen kann.

Wollen wir irgend eines Menschen Werth zum Maßstab des unsrigen machen, so laßt uns aufmerksam stille stehen vor dem Bilde der höchsten Menschentugend, der heiligsten Gottesergebenheit und Menschenliebe in dem Leben Jesu, der uns auch in diesem Sinne von Gott gemacht ist zur Weisheit und zur Gerechtigkeit, zur Heiligung und zur Erlösung. In dem Anschauen seines schönen göttlichen Lebens müsse sich unser Sinn fürs Gute immer mehr reinigen und stärken, Liebe zur Wahrheit und Tugend wärmer und inniger in unser Herz strömen, und der Eifer ihm ähnlich zu seyn lebendiger und wirksamer werden.

Das Gefühl, daß wir noch so ferne von ihm abstehen, — (es wird uns bis ans Grab begleiten,) — müsse unsern steten Eifer unterhalten; aber die Freude ihm mit jedem Tage und mit jeder guten That näher zu kommen müsse dies Gefühl versüßen. Seliger und schöner wird dann auch seine Geistesruhe, sein schonender Menschensinn, sein Vertrauen auf Gott und frohe Erwartung der Ewigkeit unsere Seele erfüllen. Am Ende eines fromm durchbrachten Lebens geht dann durch den Glauben an Gottes Erbarmen gerechtfertigt hinab in euer Haus, und vernehmet an der Pforte der Ewigkeit die freundliche Stimme: Ich kenne die Meinen, und bin bekannt den Meinen, und ich gebe ihnen das ewige Leben.

Amen.

 

 
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