zurück Ideen zu einer Passionspredigt auf den Charfreitag (1805)                                 

 

     

     
Ideen
     
zu einer Passionspredigt auf den
     
Charfreitag, ausgeführt u. gehalten
     
am 2 ten Christtag 1805 in der Schloß-
     
kirche zu Carlsruhe, über Luc. 2, 15 - 20.
     
      
Einleitung     
      
Der Sohn Mariä fand, als er gebohren wurd,      
beÿ allen, die von ihm hörten, Glauben, u.      
die Verheißungen die sich an seine Erschei-
      
nung anknüpften, fanden be
ÿ Zutrauen.      
-  Selbst Fremde aus unbekanter Ferne      
besuchten die Wiege dieses Wunderkindes
        
und theilten die Freude eines Volkes, das
        
sein Gott heimgeführt hat
- selbst Herodes      
glaubte u. zitterte, u. waffnet die ohn-
        
mächtige Hand gegen Gott u. einen Säug-
        
ling.
        
 

Und doch war noch ein so großes Feld für Zwei-
        
fel u. Bedenklichkeiten offen an der Wiege
      
eines Kindes, das Israel erlösen sollte.
      
Aber als er nach 30 Jahren an Geist u.
      
Körper zum Ma
ne gereift, mit einem        
Herzen voll Liebe und Kraft auftrat, und alle
      
schönen Hofnu
ngen erfüllen wollte, da      
fand er keinen Glauben mehr. - Er kam
      
in sein Eigenthum u. die seinen Namen*
                     * lies: ...die Seinen nahmen
ihn nicht auf -   Zu den Stunden seiner
      

     


schönsten Verklärung durch Lohn und That besuch-
      
ten ihn keine Weisen aus Morgenland mehr,
      
und als er Herodes der Sohn# in seiner Knecht-
          # siehe unten
gestalt vor die Augen trat, da spottete sein
      
der Vierfürst und Fre
ÿgeist.      
Und so starb er wieder, von wenigen ge-
      
kandt, von noch wenigern geschäzt,
        
von den wenigsten mit einem Herzen voll
      
Liebe beweint.
      
Diese merkwürdige Erscheinung hat äuß
      
ka
n äußere u. zufällige Gründe haben,      
sie hat auch i
nwendige in den Herzen        
der Menschen selbst. Mit den leztern wollen
      
wir uns beschäftigen in den Fragen:
      

Warum fand des Menschen Sohn während
      
seines ganzen Lebens gerade damals die
      
freudigste Aufnahme als die Zeit seines
      
Wirkens und Segnens noch am entfernte-
      
sten waren?
      
   1, Der menschliche Geist mit seinen Wün-
      
     schen Hofnungen u. Vorsätzen lebt
        
     gerne, u. oft lieber in der Zukunft
        
     als in der Gegenwart.
      


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Seite gestrichen und neu konzipiert.

     


    
        
Rechnet dieses Blicken in die Ferne, dieses
        
Sehnen nach dem Unbeka
nten u. Unge-        
wissen, dieses Hoffen auf eine schöne Zu-
        
kunft, sicher zu den schönsten u. wohltätig-
        
sten Anlagen unseres Herzens. Denn es ist
        
 
    a, die Stütze unseres Muthes am bösen
    Tage, der Ersatz zu den ma
nigfalti-        
    gen Entbehrungen, der Trost zu den un-
        
    vermeidlichen Leiden des Lebens. So
        
    blickte iezt der niedergedrückte Isra-
        
    elite über an der Wiege seines Messias
        
    über seinen eingesunkenen Thron und
        
    über seine Altäre voll Blut u. ohne Trost
        
    in eine bessere Zukunft.
--- Es ist        
 
    b, Die große i
m gespannte Triebfeder zu 
    einer besonenen Thätigkeit, die im Un-        
    glück nicht erlahmen, im Glück nicht
        
    nachlassen soll. Denn keine Stunde un-
        
    sers Lebens ist ein umschlossenes Ganzes.
        
    Die Folgen der vorigen reichen in sie
        
    hinüber, u. sie bildet wieder das Loos
        
    der künftigen war. Daher gibt nur die
        
    Erfahrung auf der vergangenen Weis-
        
    heit und nur der Glauben an die Zu-
        
    kunft Muth zur Thätigkeit u. zum Ein-
        
    greifen an unsrer Art in das große
        
    Streben u. Wirken aller Kräfte der Welt
        
    aller. 
- Den es ist auch
        

   c  der Ausdruck einer edlen Natur,

     

        
die des Guten u. Schönen sich uneigennützig
freuen, u. eine Welt u. eine Menschheit
        
in Liebe umfassen ka
n. Doch so freuen        
wir uns bis an die Nähe des Grabes auf
        
eine bessere Zukunft, u. fragen uns
        
nicht, ob wir sie auch noch erreichen
        
werden, u. wünschen, hoffen u. arbeiten
        
für eine Nachwelt, deren Dank wir
       
ni
mer vernehmen werden. So freute        
sich an der Wiege Jesu ieder für alle,
        
und der Greis an dem einen Zweck des
        
Lebens für den Säugling am
andern.        
Zu solchem Gefühl betet Simeon: Herr
        
nun büßest du pp.
                                       pp = lat. perge, perge = ’fahre fort’ oder ’usw’.
d,                                Endlich ist es
        
ein Ausdruck unserer hohen Be-
        
sti
mung, das Vordeuten unserer Un-        
endlichkeit. Je mehr wir an gemei-
        
nen u. edlen Gütern des Lebens u. Her-
        
zens gewonnen haben, desto ärmer u.
        
unvollko
mener fühlen wir uns. Die        
Gegenwart genügt uns nie; die Erde
        
hat unsern Frieden nicht. Nach schönen
        
Bildern hascht an der aufsteigender
        
Laufbahn des Lebens der Jüngling. An-
        
deren fernen Aussichten öffnen sich auf
        
der Höhe desselben, dem Ma
ne, und        
der Greis, der auf der Erde nichts mehr
        
zu suchen hat, blikt zu den Sternen
        
auf.
       
 

     


Wohl schweben wir mit unsern Wünschen, Hoff-
nungen und Vorsätzen gerne in der schönen
        
Zukunft, aber so oft, wie sie da ist, be-
        
nutzen wir sie nicht. Dann
        
Warum fand des Menschen Sohn, als er noch
        
in der Wiege schlu
merte eine so freudige         
und später um 30 Jahre eine so kalte
        
Aufnahme?
        
2. In dem Säugling fand ieder seinen
        
Messias, wie er ihn dachte u. wünschte, den
        
Ma
n nach 30 Jahren musste man nehmen         
wie er war. - Manche dachten in ihm nur
        
den glücklichen Helden der das heilige Land
          
von den Römern befreien würde - Mancher
        
fro
me Israeliten, der mehr von ihm erwarte-        
te, wollte doch nicht, daß er den Tempel
        
zerstören u. in drei Tagen einen anderen bau-
        
en sollte - Mancher, der iezt den Säugling
        
schlu
mern u. lächeln sah, dachte nie von        
diesen Lippen den reinsten Aufruf zu hören:
        
Will mir iemand nachfolgen der nehme
         
sein Creutz! Ists daher wunder, we
n nach        
allen verstu
mten Lobgesängen, die um seine        
Wiege tönten, die Klage eines alten Propheten
        
wieder laut wurde: Wir sahen ihn, aber
          
da war keine Gestalt, die uns gefallen
        
                                          hätte.
        

     
So ist der Mensch. - Wie erwarten zu unserm        
Wichtigsten u. Nöthigsten, zu unsern besten
        
Vorsätzen u. Glauben, die Zukunft die
        
wir wünschen, nicht die welche ko
mt, und        
die welche wir wünschen, ko
mt nie.        
Erwarten wir vollends von der Zukunft
        
Wohlstand ohne Fleiß, Achtung ohne Ver-
        
dienste, Verdienste ohne Anstrengung,
        
Tugend ohne Selbstverleugnung oder
          
Tage des Herzens ohne Tugend
- sie komt          
nie diese Zeit.   Endlich
        
    

Warum wird des M. Sohn freudiger bey seinem
        
Eintrit in die Welt, als seinem Eintritt in das
        
thätige Leben aufgeno
men?        
3. Gar manchem konnte ein Messias der noch
        
im Schoß der Mutter schlu
merte, viel          
willko
men seyn, als wenn er sogleich das        
irdische oder hi
mlische Reich Gottes als        
Mann eröffnet hatte. Mancher hatte
        
noch viel Verkehr mit den Heiden ab-
        
zuthun, mancher Gatte auch noch viel
        
zu sündigen. Und es ließ sich in 30 Jahren
        
ver* viel verkehren u. viel sündigen.
                          * verm. fehlt die Streichung des 'ver'
Aber ein Geschäft zieht in das andere.
        
Eine Sünde gibt zur andern Muth u.
        
bösen Willen. Und so verkehrten u.
        
sündigten sie fort, während unbemerkt
        
der Jüngling neben ihnen zunahm an
        
 
     


Alter u. Weisheit, u. als nach langen dreisig
Jahren die Stimme am Jordan ausging:
        
„Thut Buße! Das Himmelreich ist nahe.“ kam
        
sie doch noch zu früh.
        
Auch so ist der Mensch. - Ma Alles Gute hat
        
seine Bedingung unter der es allein zu
        
erringen ist. Man erkennt den Werth
          
des ersten u. die Nothwendigkeit der lezten.
        
Man will sie erfüllen u. die theuren Opfer
        
bringen, nur iezt nicht, nur in diesem Alter
          
in diesen Verhältnissen, unter diesen
        
gegenwärtigen Versuchungen nicht. Ar-
        
mer Sterblicher, ihn von Zeit u. Umständen
        
erwartet, was denn wie iezt nun Muth
        
und ernster Wille im eigenen Herzen
        
gewähren kann. pp
                                pp = lat. perge, perge = ’fahre fort’ oder ’usw’.
 
        
Gottselige Gedanken:
        
         
1. Wir warten auf eine bessere Zukunft.
        
Vergebens! Die Zukunft wartet auf
          
bessere Menschen.
        
2. Wenn wir wären, was ieder von
        
za.* 20 u. 10 Jahren zu werden wünsch-
                   * Lies: ca.
te, hoffte u. sich vorsagte zu werden
        
 

     


was wären wir alle? Weise tugendhafte
       
glückliche Menschen. - Sind wirs? | Warum sind wirs
       
nicht?
       

   

 

Diese "Ideen" stellen offensichtlich ein Konzept für eine Predigt dar, die von Hebel nach eigenen Angaben am 2. Christtag 1805 gehalten wurde.
In "J. P. Hebels sämmtliche Werke", Fünfter und Sechster Band, Verlag der Chr. Fr. Müller'schen Hofbuchhandlung, Karlsruhe, 1834 -
 ist die vermutlich aus diesem Entwurf entstandene Predigt für den "2. Christtag" gedruckt, aber fälschlicherweise ins Jahr 1804 datiert.

#
als er Herodes der Sohn in seiner Knechtgestalt vor die Augen trat >> lies: als er dem Herodes vor die Augen trat, als der Sohn in seiner Knechtgestalt,
 
Der Satzbau ist, wie oft bei Hebel, an einigen Stellen ungewöhnlich und für das Inhaltsverständnis gewöhnungsbedürftig,
deshalb muss man sich dort den Inhalt erst erschließen, wie im #-Beispiel.

Hebels Rechtschreibung zeichnet sich zeitbedingt gegenüber heutigem Usus durch einige kaum noch übliche Besonderheiten aus:
- fast immer 'th' statt 't', oft 'k' statt 'ck', bisweilen auch 's' statt 'ss' und 'ß' sowie 'ÿ' (mit Pünktchen) statt 'i' und fast in allen seiner Schriften 'i' statt 'j',
außerdem meist 'z' statt 'tz' ('iezt' statt 'jetzt').

- Doppelkonsonanten wurden zur damaligen Zeit üblicherweise mittels Reduplikationsstrich > m = mm, n = nn geschrieben.

Eine besondere Schwierigkeit der vergleichenden Darstellung von Original und Transkription ist die Tendenz Hebels bergauf zu schreiben.
 Obwohl ich einige Seiten leicht nach rechts gekippt habe, lies sich dieses Problem nicht vollständig teilweise beheben.

 

    Transkription: © Hansjürg Baumgartner 2019
     

Ein Hinweise in eigener Sache:

Die o. a. Blätter sowie die Transkription rechts sind
 nur bei Google-Chrome- und Opera- basierten Browsern vertikal synchron.

  Obwohl sich die einzelnen Seiten vertikal in separaten Tabellenzellen befinden um den Effekt
 möglichst gering zu halten, fallen bei Mozilla-Browsern (z. B. Firefox) die Aufzählungen zu lang aus.
Offensichtlich verwenden diese für die HTML-Zeilenhöhe (trotz gleicher Schriftart und -größe) ein
 abweichendes Maß. Dies bedaure ich, kann es aber mit vertretbarem Aufwand nicht ändern.

 
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Quelle:

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