Der Fremdling in Memel (1809)
Oft sieht die Wahrheit wie eine Lüge aus. Das erfuhr ein Fremder, der
vor einigen Jahren, mit einem Schiff aus Westindien, an den Küsten der
Ostsee ankam. Damals war der russische Kaiser bei dem König von Preußen
auf Besuch. Beide Potentaten standen in gewöhnlicher Kleidung, ohne
Begleitung, Hand in Hand, als zwei rechte gute Freunde, beieinander am
Ufer. So etwas sieht man nicht alle Tage. Der Fremde dachte auch nicht
dran, sondern ging ganz treuherzig auf sie zu, meinte es seien zwei
Kaufleute, oder andere Herren aus der Gegend, und fing ein Gespräch mit
ihnen an, war begierig allerlei Neues zu hören, das seit seiner
Abwesenheit sich zugetragen habe. Endlich, da die beiden Monarchen sich
leutselig mit ihm unterhielten, fand er Veranlassung, den einen auf eine
höfliche Art zu fragen, wer er sei. „Ich bin der König von Preußen",
sagte der eine. Das kam nun dem fremden Ankömmling schon ein wenig
sonderbar vor. Doch dachte er, es ist möglich, und machte vor dem Könige
ein ehrerbietiges Kompliment. Und das war vernünftig. Denn in
zweifelhaften Dingen muß man immer das Sicherste und Beste wählen, und
lieber eine Höflichkeit aus Irrtum begehen, als eine Grobheit. Als aber
der König weiter sagte, und auf seinen Begleiter deutete: „Dies ist Se.
Majestät der russische Kaiser", da war's doch dem ehrlichen Mann, als
wenn zwei lose Vögel ihn zum besten haben wollten, und sagte: „Wenn ihr
Herren mit einem ehrlichen Mann euern Spaß haben wollt, so sucht einen
andern als ich bin. Bin ich deswegen aus Westindien hierher gekommen, daß ich euer Narr sei?" - Der Kaiser wollte ihn zwar versichern, daß
er allerdings derjenige sei. Allein der Fremde gab kein Gehör mehr. „Ein
russischer Spaßvogel möget Ihr sein", sagte er. Als er aber nachher im
grünen Baum die Sache erzählte, und andern Bericht bekam, da kam er ganz
demütig wieder, bat fußfällig um Vergebung, und die großmütigen
Potentaten verziehen ihm, wie natürlich, und hatten hernach viel Spaß an
dem Vorfall.
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