Das schlaue Mädchen
(1810)
In einer großen Stadt hatten viele reiche und vornehme Herren einen
lustigen Tag. Einer von ihnen dachte: „Könnt ihr heute dem Wirt und den
Musikanten wenigstens 1500 Gulden zu verdienen geben, so könnt ihr auch
etwas für die liebe Armut steuren." Also kam, als die Herren am
fröhlichsten waren, ein hübsches und nett gekleidetes Mädchen mit einem
Teller, und bat mit süßen Blicken und liebem Wort um eine Steuer für die
Armen. Jeder gab, der eine weniger, der andere mehr, je nachdem der
Geldbeutel beschaffen war und das Herz. Denn kleiner Beutel und enges
Herz gibt wenig. Weiter Beutel und großes Herz gibt viel. So ein Herz
hatte derjenige, zu welchem das Mägdlein jetzt kommt. Denn als er ihm in
die hellen schmeichelnden Augen schaute, ging ihm das Herz fast in Liebe
auf. Deswegen legte er zwei Louisd'or auf den Teller und sagte dem
Mägdlein ins Ohr: „Für deine zwei schönen blauen Augen." Das war nämlich
so gemeint: „Weil du schöne Fürbitterin für die Armen, zwei so schöne
Augen hast, so geb ich den Armen zwei so schöne Louisd'or,
sonst tät's eine auch." Das schlaue Mädchen aber stellte sich,
als wenn es die Sache ganz anders verstünde. Denn weil er
sagte: „Für deine zwei schöne Augen" - nahm es ganz züchtig
die zwei Louisd'or vom Teller weg, steckte sie in die eigene
Tasche, und sagte mit schmeichelnden Gebärden: „Schönen
herzlichen Dank! Aber seid so gut und gebt mir jetzt auch
noch etwas für die Armen." Da legte der Herr noch einmal
zwei Louisd'or auf den Teller, kneipte das Mägdlein freundlich in die Backen, und sagte: „Du kleiner Schalk!" Von den
andern aber wurde er ganz entsetzlich ausgelacht, und sie
tranken auf des Mägdleins Gesundheit, und die Musikanten machten Tusch.
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