zurück zur Briefübersicht

 

   

AN HEINRICH WILHELM MAXIMILIAN GEYER VON GEYERSBERG

   

 

Carlsruhe, d. 20. May 1804

Ich habe die Ehre, Ihnen zur Abwechslung des Zeitvertreibs den geheimnisvollen Bogen, den Sie bey Ihrer Abreise zurückgelassen, in Abschrift nachzuschicken, und wünsche, daß Ihnen Nr. 35 dabey nicht ausgehen möge. Mit der einfältigen Zeichnung werden Sie gerne Nachsicht haben, zumal da immer neben den Figuren steht, was sie vorstellen sollen. Ich besorgte, sie möchten völlig unkenntlich werden, wenn ich meine ganze Zeichnungskunst hätte in Anwendung bringen wollen.

Ohne Zweifel sind Sie begierig zu hören, was ich bei dem erfinderischen Genie von Salem Neues gelernt habe, seit Sie verreißt sind. Wunderbare Dinge! Er lehrt uns als Zuschauer neben einem Brettspiel stehn (was wir eigentlich schon können) und nach geendigtem Spiel die Zahlen aller Würfe, 3 und 4, 6 und 1 und so weiter, nach ihrer Ordnung wieder hersagen. Ich gedenke zwar diesen Theil unserer Kunst nicht zu üben. Es gibt Künste in der Welt, denen man ihren wesentlichen Nutzen nicht wohl abmerken kann. Ein Italiener brachte es durch Übung soweit, daß er eine Linse aus beträchtlicher Entfernung durch eine Öffnung werfen konnte, die nicht viel größer als die Linse selbst war. Mit dieser Linse ließ er sich, ich weiß nicht bei welchem Pabst, mit der Hoffnung einer guten Belohnung sehen. Allein der heilige Vater, der mehr das Nützliche als das Curiose lieben mochte, ließ ihm zur Aufmunterung seines Talents ein ganzes Meßlein Linsen verabfolgen, damit er seine Kunst in größerem Umfange üben und anwenden könnte.

Wie man in der Geschichte alle Jahrzahlen zu den Begebenheiten leicht und sicher behalten könne, wissen Sie schon, und ich habe es unterdessen auch gelernt. Ich werde nächstens als unsichtbarer Quartiermeister von Karlsruhe die Stadt in Reviere abteilen, die zweckmäßigen Häuser auszeichnen und die brauchbaren Zimmer darinn in Beschlag nehmen. Da ich in dem Hause des H. Oberhofr. Schweickhards gut bekannt bin, so erlauben Sie schon, daß ich während Ihrer Abwesenheit auch bisweilen als sittsamer Gast in Ihren Zimmern hause, wo ich ohnehin so gerne bin. Ich verspreche Ihnen, wenn ich es irgend umgehen kann, keine Schlachten darin zu lifern, keine Pulververschwörung anzulegen und keine Sicilianische Vesper zu halten. Zu einem erfreulichen Friedensschluß oder so etwas werden Sie mir gerne Platz gönnen.

Die meiste Aufmerksamkeit widmete ich der Kunst, wie ein Officier Namen, Geburtsort, Alter, Dienstzeit und Vermögen etc. von iedem Soldaten seiner Companie ins Gedächtnis fassen und darin festhalten kann. Ich selber gedenke zwar den Commandostab der Schule nimmer mit dem militärischen Degen zu vertauschen, und stehe sicherer auf dem Catheder als auf einem Bollwerk. Allein ich vermute, daß dieses die nemliche Kunst sey, nach welcher auch die Pferde des kurfürstlichen Marstalls können gefaßt und aufgebunden werden, und aus diesem Grunde war sie mir wichtig. Nur vermute ich, daß Sie es am Ende doch bequemer finden werden, Ihr blaues Büchlein in der Tasche, als nach dieser Methode den ganzen Marstall im Gedächtnis zu tragen.

Gestern hatten wir die Lektion der Sprachen. Aber gerade in diesem Fach, worauf ich für meinen Gebrauch am begierigsten war, scheint mir der gute Pater noch auf keinem sichern Grund und Boden zu wandeln. Alle diese Künste, deren Auseinandersetzung für ein Schreiben zu umständlich wäre, werde ich mich bemühen, Ihnen treu und genau mitzuteilen, sobald wir das Vergnügen haben, Sie wieder bey uns zu sehen. Ietzt ist der Pater in Frauen Alb, und wir haben Ferien. Doch werden wir, wie es scheint, bald am Ende seyn, denn das Fäßlein lauft allmählig langsam und trübe.

Daß wir letzten Mittwoch einen Besuch von einer merkwürdigen Hirschkuh hier hatten, könnten Sie wissen, ehe ich es erfahren habe. Sie sprang vom Beuertheimer Feld her über den Haha in den neuen Garten der Durchlauchtigsten Marggrävinn in Gegenwart der hohen Herrschaft, weidete ein wenig, ohne den Garteninspektor zu fragen, auf dem grünen Rasen, sprang alsdann auf das Werda! eines Hundes über den zweiten Haha auf die Straße, von da zum Prinzentor hinein, die Stadt hinauf, die Waldhorngasse hinein hinter den Ställen herum, und dann durch den hinteren Schloßgarten bey der Husarenwache wieder über den Haha hinaus in den Wald. Das wäre nun alles recht und gut, aber ein Schüler des Weisen von Salem muß auch etwas daran zu binden wissen. Ich denke mir die Sache so. Es war kein gemeines Hirschtier, sondern eine schöne Jägerinn ohngefähr aus den Zeiten des Graven Eticho, die alle 100 Jahre in dieser Gestalt wiederkommt und diesen Weg zu einem Grab oder zu einem geliebten Rittersmann machen muß, der alsdann auch wieder erscheint. Es wird sich bei einem Gläslein Oberländer schon einmal etwas aus der Sache machen lassen. Diesmal mag sie sich sehr gewundert haben, statt des Pfriemengebüschs vom vorigen Jahrhundert englische Gärten, statt der wohlgebauten Eichen nie gesehene Pomeranzenbäume und statt zerfallener Jägerhütten fürstliche Lusthäuser und Paläste zu erblicken. Doch soll sie sich nicht lange umgesehen haben.

Und nun bin ich am Ende mit den Neuigkeiten der vergangenen Woche. Die künftige ist vielleicht fruchtbarer. Aber ich stehe für nichts. Ich existire den ganzen Tag nun an 3 Orten, daheim, im Gymnasium und Abends in Ihrer Nachbarschaft im Caffeehause. Hier sollte man viel neues hören, aber die Ernte ist auch nicht groß, und wenn nicht bisweilen mein Freund Gmelin etwas zum Besten aus Spanien gäbe, z.B. von dem musikalischen Talent der andalusischen Maultiere und von der Heilsamkeit der Bäder in Lavendeltau, oder von der Adlerpost auf dem Mont Canigou und von seinem Kampf mit den großen pyrenäischen Schlangen, so wäre man übel daran, zumal seitdem es keine Theatervorstellungen mehr zu kritisiren gibt, und die Charaden und Logogriphen den Credit verloren haben. Im politischen Fach wissen Sie schon, wie es die Zunftgenossen halten. Man erzählt sich nicht, was geschehen ist, sondern man macht aus in der fröhlichen Laune, was geschehen wird, und über manches schweigt man klüger ganz stille.

Mögen wir dagegen immer etwas Gutes und Schönes von Schwetzingen hören. Ich wünsche Ihnen zu Ihrem schönen Aufenthalt daselbst und zu den Spatzirgängen in Ihrem Feengarten zu seinen Blütendüften und Nachtigallengesängen gute Gesundheit und einen frohen Muth. Doch wie könnte es Ihnen daran fehlen! Ich habe die Ehre, mit vollkommenstem Respekt zu verharren

Euer Hochwohlgeboren gehorsamster Diener

     J. P. Hebel              

 

  zurück zur Briefübersicht

Genie von Salem: Pater Gregorius Feinaigle — Die nachstehende Anekdote
 hat Hebel der Kalendererzählung „Brotlose Kunst" (1808) zugrunde gelegt.
in dem Hause Schweickhard: Der auf Wohnungssuche befindliche Hebel hoffte,
 im Hause Schweickhardts nach dem Auszug des Oberstallmeisters
neue Unterkunft zu finden. Nach einiger Verzögerung gelang dies auch.

Sicilianische Vesper: Freiheitserhebung der Sizilianer gegen die Herrschaft
 des Hauses Anjou im März 1282.
Haha (auch Aha): eine Stelle in der Umgrenzung eines Gartens, wo der Zaun
oder die Mauer durch einen Graben abgelöst wird. Der Garten ist der
heutige Nymphengarten.
keine Theatervorstellungen mehr: Die Spielzeit 1803/04 der Direktion Vogel
war am 30. April 1804 abgelaufen, worauf die Truppe eine Gastspielreise antrat.

nach oben