Zur Entstehung der Biblischen Geschichten
 

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In Baden gehörten etwa 230.000 Personen der lutherischen und rund 62.000 Personen der reformierten Kirche an. Im Jubiläumsjahr der Reformation (1817) verlangten mehrere badische Gemeinden eine Vereinigung der getrennten Kirchen. Der Großherzog berief daraufhin eine Generalsynode ein. Sie bestand aus 44 von den Gemeinden gewählten Mitgliedern. Sechs Mitglieder, darunter Hebel, wurden vom Großherzog benannt. Diese erste badische Generalsynode beschloss einstimmig den Zusammenschluss.

Am 2. Juli 1821 war es soweit. Unter feierlichem Glockengeläut zogen die Synodalen - 23 lutherische und 21 reformierte - in die Karlsruher Stadtkirche ein. Neben dem Prälaten Hebel waren auch seine Freunde Engler, Fecht, Hitzig und Sander anwesend. Laut Protokoll wurden „mit Begleitung der Orgel die beiden ersten und der sechste Vers" des Lieds "O heiliger Geist kehr bei uns ein" gesungen, worauf Prälat Hebel „vor den Altar trat und in seinem Gebete Gott den Allmächtigen um seinen Segen und Beistand bei diesem hochwichtigen Werke anflehte."

An zwölf Sitzungstagen beriet man die Fragen eines gemeinsamen Lehrbuchs, einer Kirchenverfassung, der Liturgie, der Kirchengemeindeordnung und des Kirchenvermögens. Zu harten Auseinandersetzungen und schweren Spannungen führte die Behandlung der verfassungsrechtlichen Fragen, denn sowohl der Präsident der Synode, Staatsminister Carl Christian von Berckheim (ein ehemaliger Lörracher Schüler Hebels), als auch Großherzog Ludwig waren strenge Vertreter des staatskirchlichen Systems und Gegner kirchlicher Mitbestimmung oder Selbstverwaltung. Genau das aber versuchte die Synode zu institutionalisieren. Man wollte verhindern, so ein Synodaler während der Verhandlungen, „daß ein so wichtiges Organ des kirchlichen Lebens [...] von irgend einer Willkür abhänge." Doch der Widerstand der Synode war vergeblich. Um die Union nicht zu gefährden, gab sie schließlich nach. Die staatskirchliche Linie siegte.
Am 26. Juli 1821 unterzeichneten die beteiligten Vertreter die Unionsurkunde. Als erster unterschrieb der Prälat der nun vereinigten badischen Landeskirche, Johann Peter Hebel.

Was fehlte, war ein gemeinsames Schulbuch. Bereits 1814 hatte man deshalb eine Bearbeitung der "Biblischen Geschichte für Kinder" des katholischen Pfarrers Christoph von Schmidt ins Auge gefasst. Dagegen führte Hebel nicht unerhebliche Bedenken ins Feld, die er in seinem Gutachten
Meine Bemerkungen über das mit Abänderungen in unseren Schulen einzuführende
biblische Geschichtbuch von Schmidt

zusammenfasste. Er war der Ansicht, Schmidts Buch sei nicht populär genug. Außerdem kritisierte er „Nachlässigkeiten im Stil", womit er die stellenweise schwärmerische und pathetische Sprache sowie eine mangelnde Einfühlung in das Fassungsvermögen von zehn- bis vierzehnjährigen Schülern meinte. Hebels Vorschlag, ein eigenes evangelisches Schulbuch zu schreiben, fand Zustimmung.

Er begann sofort mit der Arbeit an den Biblischen Geschichten. Immer seine Adressaten, die Jugend, im Auge behaltend: „Wenn ich schrieb, so habe ich mir meinen alten Schulmeister Andreas Grether in Hausen und mich und meine Mitschüler unter dem Schatten seines Stabes [vorgestellt] [...] und uns, mich als Schulbüblein mitgerechnet, um unser Urteil gefragt." Ungewöhnlich häufig, nicht nur wegen seiner vielen Amtsgeschäfte, stockte die Arbeit. Erst im Februar 1823 konnte er seinem Verleger Cotta das Alte und dann im Mai auch das Neue Testament schicken. Als Bedingung verlangte er, dass „dem hiesigen Lyceumsverlag [...] das Recht vorbehalten bleibe, wenn diese biblische Geschichte als Schulbuch eingeführt wird, das Bedürfnis für die evangelischen Schulen im Land auf eigene Rechnung zu drucken und zu verkaufen."

Vordatiert auf das folgende Jahr erschienen im Dezember 1823 beide Bände
 in einer ersten Auflage von 3.000 Exemplaren.


Mit den Biblischen Geschichten, die immer noch darauf warten, „unter die klassischen Texte deutscher Literatur eingereiht zu werden", so Walter Jens, sollte der Zusammenschluss von Lutheranern und Reformierten ideologisch bewältigt werden. Aber auch eine bemerkenswerte Toleranz gegenüber katholischen und jüdischen Bewohnern des badischen Großherzogtums wurde zum Ausdruck gebracht. Mit Hebels Einladung zur eigenständigen Wahrheitssuche waren jedoch nicht alle einverstanden. Hauptsächlich orthodoxe Theologen nahmen schon bald Anstoß an der unnachgiebigen Radikalität der Biblischen Geschichten, in denen das Herz „auch nach der Aufklärung noch christlich schlagen darf" (Reinhard Wunderlich). Hebels neologische Auffassung fand in den Geschichten deutlichen Niederschlag.

Bereits in der ersten Geschichte (Erschaffung der Erde) trat Gott völlig in den Hintergrund - ganz in der Tradition Herders, der zwischen der naturwissenschaftlichen Evolution und dem Schöpfungsmythos der Bibel zu vermitteln suchte. Statt „Gott schied das Licht von der Finsternis" (wie es in der Bibel heißt) formulierte Hebel: „Da scheidete sich zuerst allmählich das Licht oder die Helle von der bewegten Masse."

Die Biblischen Geschichten erzählte der Dichter in seiner eigenen Sprache: kurz, natürlich und lebendig. Den belehrenden Zeigefinger setzte er buchstäblich „unmerklich" ein, mit Hilfe seiner Kunst des Beiseitesprechens. Dabei entfernte er sich keineswegs von Luthers Bibelübersetzung. Aus Hebels Perspektive war der originale Luthertext nichts Veraltetes. Dies machte er insofern dadurch deutlich, dass er einzelne Sätze aus Luthers Bibelübersetzung, die er als bekannt voraussetzen konnte, im Schriftbild besonders hervorhob. Vermutlich wollte er damit erreichen, dass die Schüler sie auf dieses Weise im Religionsunterricht besser auswendiglernen konnten. Ansonsten modernisierte Hebel an verschiedenen Stellen. Davids ältere Brüder waren beispielsweise „bei der Landwehr". In einer anderen Geschichte sammelte David das „Freikorps", und zwei Scherflein, erklärte er in "Die Witwe am Gotteskasten", seien „soviel als ein Heller".

Im vollkommenen Gegensatz zur Orthodoxie stand Hebels Verständnis der Sünde. Sie war für ihn ein Fehler, aber zugleich ein notwendiger Schritt auf dem Weg zur Mündigkeit. Als Zöglinge Gottes seien die Menschen zwar von Natur aus gut, die Sünden seien jedoch wichtig für den Erziehungsprozess, in dem es darum ging, die Schwächen immer besser in den Griff zu bekommen. Allerdings, nach Hebels neologischer Auffassung war der Mensch kein Wesen, das zu bevormunden oder zu betreuen war. Vielmehr habe der Mensch Vernunft und sei in der Lage, sich frei zu entscheiden. Sünde war für ihn eine Handlung aus Freiheit. Sünden waren Gedankenlosigkeiten, unvernünftiges Handeln, falscher Eigensinn ... Darüber musste man aufklären. Das Ziel dieser Aufklärung bestand für Hebel im Erreichen einer Verwandlung, ähnlich wie in Kleists Aufsatz "Über das Marionettentheater", in dem dieser zu einem erneuten Essen vom Baum der Erkenntnis aufrief. Die dazu korrespondierende Stelle in der Geschichte vom Sündenfall lautete bei Hebel folgendermaßen: „Denn als sie die Unschuld verloren und gesündigt hatten, konnten sie die Lebensruhe und die seligen Kinderfreuden des Paradieses nimmer genießen. Wer die Unschuld verloren hat, kann in keinem Paradies mehr glücklich sein. Von der verjüngenden Frucht am Baum des Lebens zu kosten, ward ihnen nicht mehr möglich."

Allerdings verlegte Hebel das Paradies in die Zukunft. Die „Verheißungen" der Bibel waren für
ihn der Keim der Hoffnung auf eine bessere Welt. Präziser konkretisiert hat er diese Hoffnung im
 Spaziergang an den See, einem Schlüsseltext zu seiner eigenwilligen Theologie: „Wie wird er
 alle Kanonen abführen lassen [...] und alle Schwerter in Pflugscharen umwandeln."

Die Didaktik der Biblischen Geschichten war dieselbe wie in Hebels Kalendern. Er ordnete nämlich die einzelnen Erzählungen immer paarweise unter ein bestimmtes Thema, sodass sich je zwei Erzählungen wechselweise erklärten. Manchmal war der Akzent zweifach. Das Positive wurde also verdoppelt. Bei anderen paarweise angeordneten Geschichten verdeutlichte er seine „Fehlerethik" durch den Kontrast: In der einen Geschichte handelte ein Mensch gut, in der anderen schlecht.
Zu Hebels großer Freude erbat sich die katholische Kirche des Breisgaus von ihm das Recht, seine Biblischen Geschichten im Religionsunterricht verwenden zu dürfen. Lediglich der Satz im Beschluß - „verdeutscht durch D. Martin Luther" - musste gestrichen werden.

In seiner eigenen Kirche jedoch rumorte es. Der Mensch wie ihn Hebel sah, nämlich als einen mündiger Partner Gottes, war für die besonders frommen Eiferer unvereinbar mit Luthers „sola fide, solus Christus" (allein durch Glaube, durch Christus allein). Vor allem die Vorstellung, dass der Mensch frei sei in seinen Entscheidungen und Handlungen bzw. eine Schule der Religiosität brauche, verärgerte die Fundamentalisten. Den größten Stein des Anstoßes lieferten aber die letzten acht Worte der Geschichte Die Kreuzigung: „Man weiß nicht, was man dazu sagen soll?"
War das nicht eine Aufforderung zur Toleranz mit Ungläubigen?
Je stärker die orthodoxe Strömung in der badischen Landeskirche wurde, desto lauter wurden die Stimmen, die das Kirchenvolk zur Distanzierung von Hebels Bibeldichtung anstachelten.

Pietistische Eltern starteten dann im Jahr 1849 (!) eine Unterschriftenaktion, die mit meist vorgedruckten Petitionen aus nachweislich 28 badischen Gemeinden beim Oberkirchenrat „die Hinwegnahme der Hebeischen Biblischen Geschichten und Einführung der Heiligen Schrift in den Schulen" nach Luthers vertrauter Übersetzung forderten.

Mit der Begründung, Hebels Geschichten seien nicht bibeltreu und ihre Darstellung
 zu einseitig dem Rationalismus verhaftet, war deren Verwendung in der Schule
ab 1855 nicht mehr erlaubt.




Zitiert nach: Franz Littmann, Johann Peter Hebel - Humanität und Lebensklugheit für Jedermann,
Sutton Verlag, Erfurt, 2008
 
 
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