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58. Nehemias.

Nehemias war in Persien Mundschenk des Königs und reichte ihm den Becher an der königlichen Tafel. Es kam ein Mann Hanani aus der Heimat nach Persien zurück; diesen fragte Nehemias, wie es daheim erginge. Er hoffte wohl eine erfreuliche Nachricht von ihm zu erfahren. Als er aber hörte, daß die Juden noch immer in Unglück und Verachtung lebten und die zerbrochenen Mauern und die verbrannten Tore von Jerusalem noch nicht wiederhergestellt seien, weinte er und betete, und hätte gerne den König angegangen, daß er ihn seinen unglücklichen Brüdern zu Hilfe sendete, und wagte es nicht. Aber sein Gebet war von Gott erhört. Nehemias stand vor dem König in dem Schlosse zu Susa und reichte ihm den Becher. Der König betrachtete ihn und sprach zu ihm: »Nehemias, was fehlt dir? Du bist traurig.« Nehemias sprach: »Wie sollte ich nicht traurig fein, so die Stadt wüste liegt, wo die Begräbnisse meiner Väter sind, und ihre Tore sind verbrannt?« Der König fragte ihn: »Was willst du, daß ich tun soll?« Da faßte Nehemias Mut in Gott und sprach: »Daß du mich in mein Vaterland sendest, daß ich Jerusalem baue, wo meine Väter begraben liegen.« Der König und die Königin, die neben ihm saß, fragten ihn: »Wie lange wird deine Reise währen? Wann wirst du wiederkommen?« Denn er war ihnen sehr wert. Sie wollten ihn nicht gerne von sich lassen. Doch gab ihm der König Urlaub auf unbestimmte Zeit und unterstützte ihn mit allem, was zur Reise und zu feinem Vorhaben nötig war.

Nehemias baute die Mauern von Jerusalem und war Landpfleger des Königs im ganzen jüdischen Lande. Es baute auch jeder nach Kräften auf die öden Brandstätten, daß Jerusalem bald wieder ein Ansehen gewann, wiewohl unter großen Anfechtungen und Gefahren. Aber der fromme und beherzte Landpfleger besiegte alle Hindernisse; denn Gottes gute Hand war mit ihm. Auch standen wieder Propheten auf, welche das Volk ermahnten und mit der Hoffnung besserer Zeiten den Mut belebten.

»Ich will alle Heiden, das heißt alle Völker, bewegen, und wird kommen aller Völker Trost. Freue dich und sei fröhlich, o Zion! Denn siehe, ich will kommen und bei dir wohnen,«
spricht der Herr.

Die Samariter hatten anfänglich ihren Spott, als sie sahen, was diese ohnmächtigen Leute beginnen wollten. Als sie aber sahen, wie unter Gottes Schutz das gute Werk gedieh, wollten sie zu den Waffen greifen. Sie wollten gegen den Schutz des Allmächtigen Krieg führen. Aber sie vermochten es nicht. Nehemias ließ unter den Augen der Feinde den Bau fortführen, wiewohl mit gewaffneter Hand. Die Hälfte der Mannschaft stand unter den Waffen, während die andere Hälfte an der Arbeit war. Auch die Bauleute waren bewaffnet. Neben der Schaufel oder dem Richtscheit lag das Schwert. Als die Feinde sahen, daß mit Gewalt nichts auszurichten war, wollten sie Falschheit und List versuchen. Die List ist eine gefährlichere Waffe als das Schwert. Sanneballat, das Oberhaupt der Feinde, stellte sich auf einmal freundlich gegen den Nehemias und bat ihn, daß er zu ihm käme: »Man hat dich bei dem König verleumdet; darum komm zu mir, daß wir uns beratschlagen.« Aber Nehemias kam nicht. Ein anderer wollte ihn furchtsam machen. »Fliehe in den Tempel! Sie wollen kommen in der Nacht und dich töten.« Aber Nehemias sprach: »Sollte ein solcher Mann, wie ich bin, fliehen? Ich fliehe nicht.« Mit solchem Mute hatte ihn sein gutes Werk und sein Vertrauen auf Gott gestärkt. Wer auf frommes Werk seine Gedanken richtet und mit seinem Gott im Frieden steht, hat sich nicht zu fürchten. Wer glaubt, fleucht nicht.

Nehemias war auch ein sehr uneigennütziger Mann und ein Freund der Armen. Es waren viele Arme und Verschuldete unter dem Volk. Denn die Reichen hatten ihr Vermögen an sich gezogen. Ihre Acker und Weinberge waren schon verpfändet. Die Ärmsten verkauften schon ihre Söhne und Töchter zur gezwungenen Knechtschaft. Da brach dem frommen Nehemias das Herz. Er berief die Vorsteher des Volks vor sich und sprach: »Wollt ihr gegen eure Brüder Wucher treiben? Was ihr tut,« sagte er, »ist nicht recht. Solltet ihr nicht als gottesfürchtige Leute handeln und euch schämen vor den Heiden?« Solche Rede und sein eigenes schönes Beispiel bereiteten seinem Herzen eine große Freude: Nehemias hatte, solang er Landpfleger war, keine Einkünfte von seinem Amt angenommen, damit er das Land nicht beschwerte, und bewirtete doch täglich hundertundfünfzig Gäste an seinem Tische. Er lieh und half aus seinem Eigenen, wo er konnte, und redete niemand darum an, daß er ihm etwas schuldig sei. Er entzog sich keiner Last in jener schweren Zeit. Seine Diener, die in seinem Solde waren, mußten an dem Bauwesen helfen und arbeiten wie jeder andere.

Als er nun so mit den Ältesten des Volks redete und sagte: »Jch verlange nichts mehr zurückzuempfangen, was ich meinen ärmern Brüdern geliehen habe; was wollt ihr tun?« sprachen alle mit einem Wort und mit einem Herzen, daß sie gleich tun wollten, wie er getan hatte, und gaben ihren armen Brüdern die verpfändeten und verlorenen Äcker ohne Lösegeld zurück, dazu noch die Zinsen, welche sie von ihnen schon erhalten hatten. Solch ein Mann war Nehemias und war einer von den letzten, von welchen man so viel Rühmliches sagen kann. Es ist nicht zu verwundern, daß ihn der König also liebte, und daß er zu ihm gesagt hatte: »Wie lange wird deine Reise währen, und wann wirst du wiederkommen?«

 

 
 
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