zurück
 

27. Jephtha.

 Zu einer andern Zeit fielen die Ammoniter in Israel ein, in der Landschaft Gilead jenseits des Jordans. Die Israeliten bezogen ein Lager gegen sie; aber es war niemand da, der den Mut gehabt hätte, sich an die Spitze zu stellen und den Feind anzugreifen. Sie kamen überein, daß derjenige, der den Augriff unternehmen würde, das Oberhaupt über sie alle sein sollte. Aber auch so trat niemand hervor, der den Mut dazu gezeigt hätte, und es mochte damals mehr als einer zu dem andern gesagt haben: »Wenn wir den verstoßenen Jephtha wieder bei uns hätten, er wäre der Mann, der uns retten könnte.«

Jephtha war ein Jahr vorher von seinen Brüdern aus dem Hause des Vaters verstoßen worden aus Eigennutz und Feindschaft. Er war nicht der Sohn ihrer Mutter; deswegen wollten sie ihn auch nicht teilen lassen an dem väterlichen Erbe. Niemand in Gilead nahm sich seiner an. Er floh aus seiner Heimat und von seinem Volk in eine fremde Landschaft und nährte sich daselbst nach der Sitte jener Zeit durch feine Tapferkeit, so gut er vermochte. Deswegen sagten sie: »Wenn Jephtha wiederkäme, er könnte uns retten.« Eigennutz und Unverstand bereitet sich gar oft feine eigene Reue und Beschämung. Als sie sich nicht mehr zu helfen wußten, schickten sie Boten an den verstoßenen und verlassenen Jephtha, daß er wieder zu ihnen kommen und ihr Feldhauptmann und Oberhaupt werden möchte. Wenn dein Bruder an dir gesündigt hat und kommt wieder und spricht: »Es reuet mich,« so sollst du ihm vergeben.

Jephtha war ungeachtet seines Schicksals von Natur ein gar feiner Mann und ebenso hochherzig und friedliebend als tapfer. Zwar sprach er anfänglich mit den Boten, wie einem schwer beleidigten Gemüt wohl zu sprechen geziemt: »Seid ihr es nicht, die mich hassen und aus meines Vaters Hause gestoßen haben? Warum kommt ihr nun in eurer Trübsal zu mir?« Als er aber vernahm, in welcher Not sie seien, und daß sie alles wieder gutmachen wollten, dachte er nicht mehr an die erlittene Beleidigung, sondern an das Vaterland und folgte ihrer Einladung. Aber ein Mann, wie der hochherzige Jephtha war, will nicht sogleich zu den Waffen greifen und Blut vergießen. Bereitwilligkeit zum Frieden ist die schönste Zierde und das sicherste Zeichen der wahren Herzhaftigkeit, die nicht früher angreift, als sie muß.

Jephtha schickte zweimal Boten an den König von Ammon, daß er die Ungerechtigkeit feines Angriffs erkennen und im Frieden feinen Rückzug nehmen sollte. Als aber der König sein Unrecht nicht erkannte und die Rede des Jephthas nicht anhörte, beschloß Jephtha eine Schlacht - es blieb ihm keine Wahl mehr übrig. In der Schlacht siegte er mit kräftigem Schwert, schlug die Feinde bis über die Grenze und befreite sein unglückliches Vaterland und die, welche ihn zuerst aus demselben in die Fremde hinaus verstoßen hatten. O, daß der fromme, edle Held ein einziges unvorsichtiges Wort nie gesprochen hätte! Vor der Schlacht hatte er das Gelübde ausgesprochen, wenn er siegreich nach Hause zurückkommen würde, so wolle er das erste, was ihm zu seiner Haustüre heraus begegnen würde, dem Herrn heiligen und ihm opfern, und dachte in der Bewegung seines Herzens nicht daran, daß er der Vater eines einzigen Kindes sei.

Daheim bereiteten sie ihm eine ehrenvolle Ankunft und eine fröhliche Bewillkommung, und als er nahe bei seinem Hause war, trat ihm zu seinem Entsetzen an der Spitze der Frauen und Jungfrauen, welche ihn begrüßen wollten, zuerst seine Tochter entgegen, sein einziges Kind. Man hielt es schon damals für eine schwere Gewissenssache, ein Gelübde zu brechen, das man Gott getan hatte, und es ist auch eine Gewissenssache und die Folge einer unnötigen Verwegenheit. Gott will nur mit Dank und kindlichem Vertrauen geehrt sein, mit Liebe und Gehorsam, nicht mit Gaben und Opfer. Als Jephtha seine Tochter erblickte und an sein Gelübde dachte, zerriß er vor Schrecken sein Gewand. Er sprach zu ihr mit zarten Worten: »Ach, meine Tochter, wie betrübst du mich! Ich habe meinen Mund aufgetan gegen den Herrn und kann es nicht mehr zurücknehmen.« Die Tochter, ebenso zarten Sinnes wie ihr Vater, verstand seine Worte und erwiderte mit kindlicher Ergebenheit: »Mein Vater, hast du deinen Mund aufgetan, so tue mir, wie es aus deinem Munde gegangen ist, nachdem der Herr dich gerächet hat an deinen Feinden.« -

Jephtha erfüllte sein Gelübde und herrschte hernach sechs Jahre lang bis an seinen Tod über die Israeiiten in Gilead. Also weckte der Herr dem bedrängten Volk von Zeit zu Zeit Helden und Heilande. Aber der Verheißene aus der Nachkommenschaft Abrahams, in welchem alle Völker sollen gesegnet werden, kommt noch lange nicht. Wiewohl es fängt bereits von weitem an etwas zu werden.
 
 
 
zurück
 


                      nach oben