zurück Predigt am grünen Donnerstage 1796.
     

Es ist noch ein fernes aber ein beglückendes Ziel, das wir in deiner Nachfolge erreichen sollen, du, der du durch den heißesten Kampf das Köstlichste errungen hast, unser Erlöser und Herr! Wir haben sie im Vertrauen zu dir betreten, die Bahn, die uns durch Glaube und Liebe zu deines Sieges Herrlichkeit führt.

Sey uns stets mit deinem Vorbilde nahe; — mit deiner Leitung, wenn uns Gefahr des Irrthums drohet, — mit der Erinnerung an deine Liebe, wenn Liebe zu dem, was die Erde bietet, uns zurückhält; — mit deiner Hülfe, wenn uns Kraft gebricht; — mit deinem Troste, wenn zu den Versuchungen von Innen, auch noch Leiden von Außen unsere Seele bestürmen. O es ist ein süßer Trost, daß du unter Versuchung und Leiden zuerst das Ziel erreicht hast, und von jenseits der Dunkelheit, die noch über unsrer Zukunft liegt, uns freundlich zurufst und alle nachziehen willst, die dich lieben, und gerne seyn mögen, wo du bist. Laß uns täglich zunehmen, durch Erkenntniß unsrer Schwachheit und durch Vertrauen auf deine Hülfe, durch Eifer dir ähnlich zu seyn, und durch Kraft es zu werden, bis wir endlich auch hindurch sind, und uns freuen mit dir ewiglich. V. U.

Text: Matthäus 27, 15 — 34

15 Zum Fest aber hatte der Statthalter die Gewohnheit, dem Volk einen Gefangenen loszugeben, welchen sie wollten.
16 Sie hatten aber zu der Zeit einen berüchtigten Gefangenen, der hieß Jesus Barabbas.
17 Und als sie versammelt waren, sprach Pilatus zu ihnen: Welchen wollt ihr? Wen soll ich euch losgeben, Jesus Barabbas oder Jesus, von dem gesagt wird, er sei der Christus?
18 Denn er wusste, dass sie ihn aus Neid überantwortet hatten.
19 Und als er auf dem Richterstuhl saß, schickte seine Frau zu ihm und ließ ihm sagen: Habe du nichts zu schaffen mit diesem Gerechten; denn ich habe heute viel erlitten im Traum um seinetwillen.
20 Aber die Hohenpriester und Ältesten überredeten das Volk, dass sie um Barabbas bitten, Jesus aber umbringen sollten.
21 Da fing der Statthalter an und sprach zu ihnen: Welchen wollt ihr? Wen von den beiden soll ich euch losgeben? Sie sprachen: Barabbas!
22 Pilatus sprach zu ihnen: Was soll ich denn machen mit Jesus, von dem gesagt wird, er sei der Christus? Sie sprachen alle: Lass ihn kreuzigen!
23 Er aber sagte: Was hat er denn Böses getan? Sie schrien aber noch mehr: Lass ihn kreuzigen!
24 Als aber Pilatus sah, dass er nichts ausrichtete, sondern das Getümmel immer größer wurde, nahm er Wasser und wusch sich die Hände vor dem Volk und sprach: Ich bin unschuldig an seinem Blut; seht ihr zu!
25 Da antwortete das ganze Volk und sprach: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!
26 Da gab er ihnen Barabbas los, aber Jesus ließ er geißeln und überantwortete ihn, dass er gekreuzigt werde.
27 Da nahmen die Soldaten des Statthalters Jesus mit sich in das Prätorium und sammelten die ganze Abteilung um ihn.
 28 Und zogen ihn aus und legten ihm einen Purpurmantel an
29 und flochten eine Dornenkrone und setzten sie ihm aufs Haupt und gaben ihm ein Rohr in seine rechte Hand und beugten die Knie vor ihm und verspotteten ihn und sprachen: Gegrüßet seist du, der Juden König!,
30 und spien ihn an und nahmen das Rohr und schlugen damit sein Haupt.
31 Und als sie ihn verspottet hatten, zogen sie ihm den Mantel aus und zogen ihm seine Kleider an und führten ihn ab, um ihn zu kreuzigen.
32 Und als sie hinausgingen, fanden sie einen Menschen aus Kyrene mit Namen Simon; den zwangen sie, dass er ihm sein Kreuz trug.
33 Und als sie an die Stätte kamen mit Namen Golgatha, das heißt: Schädelstätte,
34 gaben sie ihm Wein zu trinken mit Galle vermischt; und als er's schmeckte, wollte er nicht trinken.

 

Bereits stand also Jesus vor seinem letzten Richter, dem römischen Landpfleger. Bereits hatte Pilatus die Unschuld des Beklagten und die verdeckte Bosheit seiner Kläger geahndet, — und mehr als geahndet. Nach seinem römischen Gefühl war es kein Verbrechen, ob sich auch ein Mensch in irgend einem Sinne einen Sohn des Gottes der Ebräer nannte, und nach seiner Staats- und Menschenkenntnis war dieser Jesus von Nazareth der Mann nicht, der jemals das Reich seines Vaters David aus den Händen des Kaisers zurückfordern würde. Die wenigen, aber nachdrücklichen Worte, die er Jesu auf seine Fragen abgewinnen konnte, sein furchtloser Blick, sein fester Ton, und die Bescheidenheit und Seelenruhe, womit selbst sein Ernst und der edle Trotz der mißkannten Unschuld wieder in die gewohnte Sanftheit und Güte des frommen MenschenSohns zurückkehrte: — Dies, und seine Bekanntschaft mit der Denkungsart der jüdischen Priester, die er nicht erst heute machen durfte, ließen ihn bald in das fürchterliche Geheimniß schauen, daß dieser verdachtlose Mann irgend womit dem Stolz jener bösartigen Menschen müsse wehe gethan haben, und daß er nun als ein Opfer ihrer Bosheit und Machsucht fallen solle.

Gerne benutzt er also eine Gelegenheit, die ihm ein bisheriges Recht der Ebräer bot, sich von den aufgebrachten Priestern an das gerechtere mitleidige Volk zu wenden: Ihr habt das Recht einen Gefangenen frei zu bitten; welchen wollt ihr, daß ich euch los gebe, den Barrabas oder Jesum den König der Juden, den man Christus nennt? Aber aus dem Munde des Volks sprach schon in tausendfacher Wiederholung die Stimme der erhitzten Kläger. Gnade baten sie für den Mörder, und Tod am Kreuze dem edlen Bekenner der Wahrheit, dem Freund und Wohlthäter seines Geschlechtes. Jeder schwache Versuch, den der Landpfleger noch zu seiner Rettung that, machte, da er durch Unschlüssigkeit seine Schwäche verrieth, das Uebel immer ärger; und ehe er sein Ansehen wirken lassen wollte für einen Menschen, der nichts Uebels gethan, übergab er Jesum ihren Händen, und die Verantwortung seines Blutes ihrem Gewissen; und Geißlung des Unschuldigen, niederträchtige Verhöhnung und gefühllose Mißhandlung des Mannes voll feinen, reinen, edlen Gefühls waren dieser Nachgiebigkeit und Schwäche erste Folgen.

Laßt uns bei dieser Begebenheit verweilen, und sie durch einen aufmerksamen Blick:

1. auf das Volk,

2. auf den Richter ,

3. auf den Leidenden

zu unserer Belehrung und Erbauung anwenden.

Wenn ihr die Lebensgeschichte Jesu zum erstenmale vernähmet, und nun bis auf den Augenblick gekommen wäret, wo Pilatus den Blick von den Priestern weg über das Volk erhebt, und mit einem Ton, der ihnen die Antwort in den Mund zu legen schien, sie fragen hört: welchen wollt ihr, daß ich euch los gebe, den Barrabas oder Jesum? und ihr kenntet ihn schon den edelsten und köstlichsten, den ein Weib geboren hat, seine Gottesfurcht, sein Herz so weich und empfindend für jedes Menschen Wohl und Weh, so offen für jede Klage, so thätig zu jeder Hülfe, und seinen stillen, bescheidenen geschmeidigen Sinn, — ihr hättet gesehen, mit welcher Freundlichkeit und Liebe er ihren Kummer stillte, ihre Kranken heilte, ihre Todten weckte, ihren Geist unterrichtete, und wie sie ihm nachzogen mit allen ihren Bedürfnissen und Wünschen, nah und ferne, und wie sie sich um ihn sammelten, wenn er seinen Mund zur Belehrung und zum Trost öffnete, wie sie sich herandrängten, wenn er seine wohlthätige Hand über ihre Kranken ausstreckte, und wie sie ihm noch im Anfang der nämlichen Woche auf dem Wege von Bethanien nach Jerusalem mit Palmzweigen und Hosianna entgegen wallten, — mit welcher Aengstlichkeit und Spannung würdet ihr nun auf die Antwort des Volkes warten, mit welchen Wünschen, mit welcher Hoffnung, daß sie doch ihren Wohlthäter jetzt, wo sein Leben in ihrer Hand zu liegen schien, nicht verlassen, doch jetzt ihre Anhänglichkeit an ihn nicht verläugnen, jetzt seine Wohlthaten ihm mit thätigem Danke vergelten würden! — Und, sie baten für den Mörder Barrabas, und hatten keine andern sehnlichern Wünsche, als den Tod für den frommen Mann von Nazareth!

Zwar es ist wohl zu glauben, daß mancher Gute unter der zahllosen Menge schwieg mit der Lippe aus Furcht, und mit einer stillen unbemerkten oder verschmähten Thräne bat: Gib uns Jesum los! Er hat unsern Seelen wohl gethan, er hat unsre Kranken geheilt, und mit freundlichem Engelsblick unsre Kinder gesegnet; und wohl zu glauben, daß mancher, der mit gefühllosem Herzen: Kreuzige! schrie nie dabei war, und nie Theil daran hatte, wenn von seinem Finger berührt Blinde sahen, Lahme gingen, Aussätzige rein wurden, und wenn den Armen das Evangelium gepredigt wurde, und in arme verwundete Herzen der Trost und der Balsam des Evangeliums floß. Aber es wäre doch schwer zu begreifen, wie auch nur der größere Theil selbst solcher Menschen, die ihn auch gar nicht kannten, mit solcher Kaltblütigkeit und mit solcher Beharrlichkeit bitten konnten um die Loslassung eines Mörders, den sie vielleicht eben so wenig kannten, und um den Tod eines Unschuldigen, für den wenigstens auch noch in diesem Augenblick seine Gegenwart und seine sanfte, unschuldsvolle Miene sprach, — schwer zu begreifen, wenn uns nicht der Evangelist selber den Aufschluß gäbe: die Priester aber und Aeltesten überredeten das Volk, den Barrabas loszubitten. So hatte also eine fremde Stimme aus ihnen gesprochen, und nie hatte ein wahres, durch Aufmerksamkeit, Nachdenken und Grundsätze geordnetes und veredeltes Gefühl, sondern hier Neugierde, da Ueberraschung, dort Eigennutz, bald Unverstand, bald Mißverstand, hier die ungeprüfte Meinung Vieler, und dort die verborgene Absicht Weniger, die sich ihrer Schwäche zu bemächtigen wußten, ihre Gesinnungen und Handlungen geleitet. Bei solchen Menschen lagen nur fünf Tage zwischen Hosianna und Kreuzige ihn.

Sehet auch hieran, wie werthlos und nachtheilig die Denkungsart eines Menschen sey, der immer dem gegenwärtigen Eindruck und nur dem gegenwärtigen offen ist, nie seine Triebe geprüften Grundsätzen, weder der Vernunft, noch der Erfahrung, noch der Religion unterwirft, nie aus sich selber handelt, nie aus der entehrenden Vormundschaft jedes Nächsten, der seine Schwäche ausgeforscht hat, und ihm zum Guten oder Bösen rathet, heraustritt, und wenn er sich unvermögend fühlt sich selber zu bestimmen und zu beherrschen , nicht einmal mit Wahl und Ueberlegung sich einen Rathgeber und ein Muster sucht. Selbst seine guten Empfindungen und Handlungen sind so werthlos, als seine Bösen, denn sie sind wie diese eine vorübergehende Wirkung des Augenblicks. Ueber einer unwillkührlichen Rührung freut er sich seines guten Herzens, und vergißt sorglos alle feine Schwächen und Vergehungen; und bei der ersten Gelegenheit zu sündigen, vergißt er wieder seine Rührungen und seinen Vorsatz sich zu bessern. Er trauert heute mit dem Frommen über die Verirrungen des Leichtsinns, und spottet morgen mit dem Leichtsinnigen über den Kampf und Eifer, womit der Edle nach Vollkommenheit ringet, beidemal aufrichtig, wenn ihr wollt, aber doch beide mal nur mit einem abgeborgten Gefühl. Beleidigt ihn, und verloren ist der Dank für alle eure Wohlthaten. Aber aus seinem Auge zürnt kein Gefühl gekränkter Würde. Zeit oder Zufall kann ihn wieder für euch gewinnen, aber seine Versöhnung ist keine Wirkung edler, billiger Grundsätze, und der Reue nach Uebereilungen. Er stiftet wenig Gutes, aber vielleicht unnennbar viel Böses, glaubt immer gut zu seyn, wenigstens noch auf dem Scheidepunkt zwischen Gut und Böse zu stehen, und sinkt immer tiefer zum Unwerth tugendloser Gesinnungen herab.

So handelt der Mensch ohne Grundsätze. Unsere Geschichte stellt uns auch einen Mann auf, der Grundsätze zu haben scheint, und sie nicht befolgt.

Ihr habt bemerkt, wie es kämpfte in der Seele des Pilatus, zwischen dem Menschen und zwischen dem Landpfleger, zwischen gutem und bösem Willen, zwischen Muth, die Unschuld zu beschützen, und zwischen staatskluger Bedenklichkeit, um eines einzigen unbekannten Menschen willen, einer ganzen Priester- und Rathsversammlung gegen den Sinn zu handeln. Die Unschuld des Beklagten sprach so laut für ihn, aber der Haß der Priester und die Wuth des Volks noch lauter gegen ihn. Seine Gemahlin hatte ihn so warnend gebeten: habe du nichts zu schaffen mit diesem Gerechten, aber die Priester hatten ihm so drohend gesagt: Lassest du diesen los, so bist du des Kaisers Freund nicht. Lange steht er gleichsam mit sich selbst und diesen Menschen im Handel, lange bis er sich entschließen kann, zu sagen: Nehmet ihr ihn hin, und tödtet ihn.

Es liegt etwas von gutem Gefühl in der Seele des heidnischen Weltmanns, das aus der Seele des jüdischen Priesters lange verbannt war, und in der Seele Manches, der: Kreuzige! schrie, nie schien gewesen zu seyn. Er hatte einige merkwürdige Minuten der Aufmerksamkeit und Unterhaltung mit Jesu gewidmet. Es war ein Augenblick, aber auch nur ein Augenblick, wo er sehr gerührt, sehr betroffen, fast geneigt schien, sich seiner mit Ernst anzunehmen, und den Mann, wie er noch keinen sah, näher kennen zu lernen, O wenn du gewußt hättest, Pilatus, wer es ist, der mit dir redete, du hättest ihn mit einer andern Absicht und einem andern Ton gefragt: was ist Wahrheit? und hättest deine Unschuld an seinem Blute durch mehr als eine unnütze Ceremonie bewahrt, und hättest durch die Bekanntschaft dieses einzigen, dieses Königs der Wahrheit, mehr gewonnen, als dir der Haß der ganzen Judenschaft, und selbst die Ungnade deines Kaisers nehmen konnte!

Abermal ein warnender Beweis, meine Zuhörer, wie nahe oft die Vorsehung einem Menschen die Gelegenheit zu seinem Heile legt, und wie leicht und wie schnell sie verwahrlost ist, und wie ungewiß, ob und wann sie wieder kommt, und wie leicht ein Mensch auf der nämlichen Stelle, und an der nämlichen Gelegenheit ein Verbrecher wird, wo er, so meinte es die Vorsehung, Gottes Gnade, der Menschen Dank und seines Gewissens belohnenden Frieden erwerben konnte. Pilatus tritt in der Leidensgeschichte Jesu auf, wie eine vorüberwandelnde Erscheinung; wir wissen kaum etwas von ihm aus frühern oder spätern Augenblicken. Aber haltet ihrs nicht für möglich, daß er noch einmal in seinem Leben, vielleicht in den letzten Augenblicken seines Lebens, nur mit einer andern Empfindung des Herzens, und mit dem Ausdruck einer andern Stimmung des Geistes, ausrief: was ist Wahrheit? — und kein Mensch konnte ihm antworten. Blutig trat alsdann das Bild des Einzigen, der's ihm einst würde gesagt haben, vor seine Seele, und ohne Schonung und Erbarmen sagte ihm dann sein Gewissen: du hast ihn gemordet, das ist Wahrheit! O bewahret euch vor ähnlichen, wenn schon minder schauerhaften Empfindungen, sie sind gleichwohl die traurigsten des Lebens. Nehmet mit sorglicher Aufmerksamkeit jede Gelegenheit zu eurer Belehrung, Besserung und Heiligung wahr, an der euch die Vorsehung oft so nahe hinführt. Sie sendet euch noch manchen Lehrer der Wahrheit! Die guten Rührungen, die oft so unwillkührlich, wie von Gottes lebendigem Odem eingehaucht, eure Seele durchströmen, unterdrücket sie nicht; sie kommen vielleicht so zur rechten Stunde, so lebendig und innig und kräftig nicht mehr zurück; so leicht macht vielleicht das Herz dem Geiste den Sieg über das Fleisch in euerm Leben nicht wieder. Die leise warnende Ansprache des Gewissens, weiset sie nicht zurück; es hat euch etwas zusagen, was ihr eine Stunde später vielleicht zu spät erfahrt, und immer spricht es freundlicher vor als nach. Die Belehrungen und Ermahnungen der Religion, die euch in dieser Stimmung eures Geistes, in diesem Alter eures Lebens, in dieser Lage eures Schicksals entgegen kommen, verachtet sie nicht; ihr würdet sie ein andermal nicht mehr so gut verstehen, sie würden euch nicht mehr so tief und wirksam in die Seele greifen. Auch gibt uns die Vorsehung noch manchen andern Anlaß, die Kostbarkeit und Wichtigkeit des Augenblicks wahrzunehmen. Ihr könnt heute einen Unschuldigen retten, einen Leichtsinnigen warnen, einen Elenden erquicken. Auf was wollt ihr warten? Morgen ist vielleicht die Unschuld verrathen, der Leichtsinnige ein Verbrecher, der Elende verschmachtet. Die Geschichte des Landpflegers kann uns noch von einer andern Seite wichtig werden.

Wenn Pilatus sich und die Juden recht kannte, so mußte er während seines unschlüssigen Schwankens, und trotz seines Widerstandes gegen die Forderungen der letzten, sichs zum Voraus sagen können, daß er am Ende den Unschuldigen doch überantworten wird. Aber so handelt der Mensch, so täuscht er sich mit seinen eigenen Gefühlen. Er ist so gut als entschlossen, das Schlimmere zu thun. Aber noch thut er aus unwiderstehlichem Drang oder zum Schein der Vernunft und dem Gewissen die Ehre an, ihre Meinung auch zu hören. Er handelt noch eine Zeitlang mit sich selbst um Recht und Unrecht; kämpft noch eine Zeitlang, schwach genug um das, was am Ende doch geschehen soll, sich nicht zu sehr zu erschweren. Es ist, als ob er sich noch einmal schmeicheln wollte mit der Ueberzeugung, daß er das Böse nicht aus Mangel an Gefühl für das Gute begehe, als ob er sich durch dieses Wenden und Drehen, die Beruhigung abtauschen wollte, daß er das Seinige gethan, und am Ende einer übermenschlichen Versuchung mit menschlicher Schwäche erlegen sey, als ob er Entschuldigungsgründe gegen nachfolgende Rügen des Gewissens sich sammeln wollte. Umsonst! Pilatus that das und jenes und nichts entscheidendes, wählte alle Mittel und nie das rechte; schlüpfte gewandsamer zwischen seinen eigenen Gefühlen und Grundsätzen, als zwischen den Ranken und Forderungen der Juden durch, und glaubte nun — unschuldig zu seyn an dem Blut des Gerechten? O gerade unter diesen Umständen, wenn dies Blut noch einmal auf sein Herz und in sein Gewissen fiel, so fiel es heiß und schwer, und ob er sich siebenmal des Tags gewaschen, und siebenmal bezeugt hätte: ich fand keine Schuld an ihm, so grub es sich doch immer tiefer und brennender bis in seine innerste Empfindung ein.

Ihr habt gesehen, wie das Volk ohne Grundsätze, und Pilatus gegen seine Grundsätze handelte. Ihr würdet bei der ganzen Geschichte die Gegenwart Jesu kaum bemerken, wenn ihr nicht wüßtet, daß es seine Geschichte ist. So stille sieht er der leidenschaftlichen Verhandlung zu, die ihm Leben oder Tod gilt; so ruhig erwartet er sein Schicksal von dem Ausspruch eines gerechten Richters, oder von den Händen seiner zum Tode erbitterten Feinde; so voll war seine Seele der Ueberzeugung, daß kein Mensch Macht hätte über ihn, wenn sie ihm nicht von oben gegeben worden wäre, und daß er hier noch, wie in seinem ganzen Leben — er hatte es in seinem Leben so oft erfahren — unter der unmittelbaren Leitung seines Vaters stehe, die ihn schon so eigene Wege, und allemal zum Segen, geführt hatte, die ihn nicht, auch im Tode nicht, sinken lassen, auch im Grabe nicht vergessen konnte. Voll hingegebenen Vertrauens, und unbedingten Gehorsams folgte er nun dieser leidenden Hand auch tiefer hinein ins schauerliche Dunkel. Sollte er auch noch durch die bittersten Leiden, die eines Menschen Empfindung zerreißen können, geprüft werden, und sollte auch über seinem Grabe erst die Stimme ertönen: er war der Anfänger und Vollender euers Glaubens, so hatte er ja seinem Vater Gehorsam gelobet bis zum Tode, und bis zum blutigen Tode am Kreuz.

Darum ist er so stille und ruhig. Ihr hört keine Vorwürfe über Mißhandlung und Undank. Der gerechteste Vorwurf, wo er nicht mehr bessern kann, ist Streben ohnmächtiger Rache; er aber stellte es dem heim, der recht richtet. Keine Vertheidigung seiner Unschuld an den Pilatus; — er erkannte sie ja. Keine Beweise seiner göttlichen Sendung an die Juden; — sie wollten sie ja nicht erkennen. Ueber den Augenblick hinaus, wo nach eigener Uberzeugung alle Vertheidigung nichts mehr helfen kann, spricht nur noch Kleinmuth und Todesfurcht unwillkührlich aus dem Menschen fort. Aber der Mann voll Seelenstärke, der Gegenwart des Geistes bis ans Grab, und jenseits des Grabes noch eine Hoffnung hat, Jesus von Nazareth blickt zum Himmel und schweigt. So hört ihr auch keine Versuche, das Mitleiden des Volks oder des Richters durch Flehen zu gewinnen. Er hatte durch jede Bitte der Rachsucht seiner Feinde ein neues Opfer gebracht, und seine Würde erniedrigt. Eine Nacht früher hatte er zu Gott gebetet: Ists möglich so gehe dieser Kelch von mir, doch nicht wie ich will, sondern wie du willst. Von Menschen hatte er nichts mehr zu bitten.

So stille und ruhig steht er da, und siegend durch seine Ruhe über die Verlegenheit seines Richters und über die Bosheit seiner Kläger. Wenn ihr ihn, eh' er sein Haupt zum Tode neigt, noch einmal werdet reden hören, so wird er beten zu seinem Vater um Vergebung für seine unwissenden Peiniger; so wird er mitten unter eigenen Schmerzen, mit dem zarten Gefühl eines Sohnes sorgen für das hülflose Alter seiner Mutter, so wird er einen Unglücklichen, der neben ihm leidet, mit dem Troste der Unsterblichkeit vor den Schrecken des Todes bewahren; so wird er noch einmal seufzen aus der Tiefe seines Herzens, aber zu Gott. Es wird noch einmal ein unsichtbarer Engel seine Unschuld und sein Glaube ihm in der Todesstunde den Kelch der Stärkung reichen, und dann wird er mit zurückkehrender Seelenruhe Gott wieder Vater nennen, und den scheidenden müde gequälten Geist seines Vaters Händen befehlen, auf daß sein Tod sey wie sein sein Leben, Ausdruck des kindlichsten Vertrauens, und der erhabensten Seelengröße, und der sanftesten Tugend, durch welche Gott einen Menschen zum Herrn und Heiland über seine Brüder adeln konnte.

Vergesset einen Augenblick, daß ihr Christen seyd, und alles, was ihr dem, der so duldete, zu verdanken habt. Stellet ihn in euern Gedanken nur als Menschen, ganz so arm und verlassen wie er war, vor den Richterstuhl des vornehmen Statthalters, und zwischen die Kreise der andächtigen Priester, und des unübersehbaren Volks, und fragt euch selber, und gesteht es euch: wo ist Seelenadel? wo ist Menschenwürde? wo ist Tugend, die eure Liebe, Huldigung und Nachahmung fordert? welchem von allen möchtet ihr gleichen, und wenns Leiden und Tod kostete, an welches Stelle wünschet ihr zu stehen? mit welchem möchtet ihr in der Stunde des Todes seine Empfindungen theilen, und vor den treten, der da recht richtet? Ists nicht also, — mit Jesu von Nazareth?

Erinnert euch wieder, daß ihr Christen seyd, und vor dem Namen deß, der so duldete, die Kniee beugt, und freut euch seiner ausgeprüften Tugend und des Sieges, den seine Unschuld vor Gottes Richterstuhl und auf eurer Wagschale über die Bosheit seiner Feinde errang.

Freuet euch seiner und lernet von ihm, Wahrheit und Gerechtigkeit zu euerm Heiligthum machen, durch Glauben an Gott eure Tugend auf die Stunde der Versuchung und euern Muth auf die Tage des Leidens stärken, lieben und beten, wenn ihr Unrecht leidet, daß euch Gott nicht an euern Feinden rächen, aber durch ihre Besserung euch für ihre Kränkungen trösten möge; es ist des Christenthums und der Tugend, es ist selbst der Menschenliebe eures Erlösers höchste bestandene Probe.

Lernet von ihm, durch ein tugendreiches, heiliges Leben, Ruhe des Gewissens im Busen jedem Schicksal, das die Ferne der Zukunft noch vor euch verborgen hält, entgegentragen, im tiefsten Seelenleid den an Gott euch halten, und im Kampfe des Todes den Preis der Unsterblichkeit ergreifen.

Amen.

 

 
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