Ist der Mensch ein
wunderliches Geschöpf (1819)
Einem König von
Frankreich wurde durch seinen Kammerdiener der Namen eines Mannes
genannt der das 75. Jahr zurückgelegt habe, und noch nie aus Paris
herausgekommen sei. Er wisse noch auf diese Stunde nicht anderst, als
vom Hörensagen, was eine Landstraße sei, oder ein Ackerfeld, oder der
Frühling. Man könnte ihm weismachen, die Welt sei schon vor 20 Jahren
untergegangen. Er müsse es glauben. - Der König fragte, ob denn der Mann
kränklich oder gebrechlich sei. „Nein", sagte der Kammerdiener, „er ist
so gesund, wie der Fisch im Wasser." Oder ob er trübsinnig sei. „Nein,
es ist ihm so wohl, wie dem Vogel im Hanfsamen." Oder ob er durch
seiner Hände Arbeit eine zahlreiche Familie zu ernähren habe. „Nein er
ist ein wohlhabender Mann. Er mag eben nicht. Es nimmt ihn nicht
Wunder." Des verwunderte sich der König, und wünschte diesen Menschen
zu sehen. Der Wunsch eines Königs von Frankreich ist bald erfüllt, zwar
auch nicht jeder, aber dieser, und der König redete mit dem Menschen von
allerlei, ob er schon lange gesund und wohlauf sei. „Ja, Sire",
erwiderte er, „allbereits 75 Jahre." Ob er in Paris geboren sei. „Ja,
Sire! Es müsse kurios zugegangen sein, wie ich anderst hineingekommen
wäre, denn ich bin noch nie draußen gewesen." - „Das soll mich doch
wundernehmen", erwiderte der König. „Denn eben deswegen hab ich Euch
rufen lassen. Ich höre, daß Ihr allerlei verdächtige Gänge macht, bald
zu diesem Tor hinaus, bald zu jenem. Wißt Ihr, daß man schon lange auf
Euch Achtung gibt?" Der Mann war über diesen Vorwurf ganz erstaunt, und
wollte sich entschuldigen. Das müsse ein anderer sein, der seinen Namen
führe, oder so. Aber der König fiel ihm in die Rede. „Kein Wort mehr!
Ich hoffe, Ihr werdet in Zukunft nicht mehr aus der Stadt gehen ohne
meine ausdrückliche Erlaubnis." - Ein rechter Pariser, wenn ihm der
König etwas befiehlt, denkt nicht lange, ob es notwendig sei, und ob es
nicht auch anderst ebenso gut sein könnte, sondern er tut's. Der unsrige
war ein rechter, obgleich als auf seinem Heimweg die Postkutsche vor ihm
vorbeifuhr, dachte er: „O ihr Glücklichen da drinnen, daß ihr aus Paris
hinausdürft!" Als er nach Hause kam, las er die Zeitung, wie alle Tage.
Aber diesmal fand er nicht viel drin. Er schaute zum Fenster hinaus, das
war auf einmal so langweilig. Er las in einem Buch, das war auf einmal
so einfältig. Er ging spazieren, er ging in die Komödie, in das
Wirtshaus, das war so alltäglich. So das erste Vierteljahr lang, so das
zweite, und mehr als einmal im Gasthaus sagte er zu seinen Nachbarn:
„Freunde es ist ein hartes Wort fünfundsiebenzig Jahr kontinuierlich in
Paris gelebt zu haben, und jetzt erst nicht hinauszudürfen." Endlich im
dritten Vierteljahr konnte er's nimmer aushaken, sondern meldete sich
einen Tag um den andern wegen der Erlaubnis, das Wetter sei so hübsch,
oder es sei heut ein schöner Regentag. Er wolle sich gern auf seine
Kosten von einem vertrauen Mann begleiten lassen, wenn's sein müsse auch
von zweien. Aber vergebens. Nach Verlauf aber eines schmerzlich
durchlebten Jahrs, gerade am nämlichen Tag, als er abends nach Hause
kam, fragt er mit bösem Gesicht die Frau: „Was ist das für ein neues Kaleschlein im Hof? Wer will mich zum besten haben?" „Herzensschatz",
antwortete die Frau, „ich habe dich überall suchen lassen. Der König
schenkt dir das Kaleschlein und die Erlaubnis darin spazierenzufahren,
wohin du willst." „Ma foi!" erwiderte der Mann mit besänftigter Miene,
„der König ist gerecht." — „Aber nicht wahr", fuhr die Gattin fort,
„morgen fahren wir spazieren aufs Land?" - „Ei nun", erwiderte der Mann
kalt und ruhig, „wir wollen sehn. Wenn's auch morgen nicht ist, so
kann's ein andermal sein, und am Ende, was tun wir draußen? Paris ist
doch am schönsten inwendig."
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