1. Maria.
In Galiläa, in der Stadt Nazareth,
saß in ihrer Einsamkeit eine tugendsame Jungfrau
mit Namen Maria, die verlobt war mit einem Zimmermann, namens Joseph.
Beide stammten aus Bethlehem in Juda und aus dem Blut des Königs David
und waren ungeachtet ihrer königlichen Herkunft fast wieder so arm wie
Ruth, ihre Geschlechtsmutter, als sie in den Feldern von Bethlehem Ähren
auflas. Denn also wechseln die menschlichen Schicksale. Alles Irdische
kehrt wieder zu seinem Anfang zurück, und ein reines Herz und Gottes
Gnade bleibt noch immer der größte und sicherste Reichtum.
Zu der
Jungfrau in ihrer Einsamkeit sprach ein Engel: »Gegrüßet seist du,
Maria! Der Herr ist mit dir, du Gebenedeite unter den Weibern.«
Die
Jungfrau erschrak und dachte: »Welch ein Gruß ist das?« Der Engel
sprach: »Fürchte dich nicht, Maria! Du hast Gnade bei Gott gefunden.
Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären; dessen Namen
sollst du Jesus heißen. Der wird groß und ein Sohn des Höchsten genennet
werden, und der Herr wird ihm den Stuhl seines Vaters David geben, und
er wird ein König sein über das Haus Jakob ewiglich, und seines
Königreichs wird kein Ende sein.« — Da sprach Maria zu dem Engel: »Wie
soll das zugehen, da ich von keinem Manne weiß?« — Der Engel antwortete
und sprach zu ihr: »Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die
Kraft des Höchsten wird dich überschatten; darum auch das Heilige, das
von dir geboren wird, wird Gottes Sohn genennet werden.«
Weiter erfuhr Maria von ihm, daß auch Elisabeth, ihre Gefreundte,
Hoffnung habe, Mutter eines Sohnes zu werden. Es war aber Elisabeth eine
fromme Frau, die Ehefrau eines Priesters in Juda, der Zacharias hieß. Da
sehnte sich Maria nach ihrer guten Gefreundtin, der Elisabeth, die ihr
der Engel nannte, daß sie mit ihr reden und einer Seele sagen könnte,
was ihr Gott durch den Engel habe geoffenbaret. Denn eine große Gnade
von Gott will man nicht jedem rühmen und kann es doch auch nicht allein
in seinem Herzen verschließen. Maria ging aus Galiliia über das Gebirg
nach Juda, daß sie ihre Freundin besuchte. Elisabeth bewillkommte sie
voll Freude, daß die Mutter ihres Herrn zu ihr komme. Maria aber freute
sich und preisete Gott in einem schönen Lobgesang dafür, daß er die
Verheißung erfülle, die er Abraham und seinen Nachkommen gegeben hatte,
und sie erkannte in ihrem demütigen Herzen, wie groß die Gnade sei, die
Gott ihr erzeige. »Gott hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen,«
sagte sie. »Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle
Kindeskinder; denn er hat große Dinge an mir getan, der da mächtig ist,
und dessen Namen heilig ist.«
Arme Jungfrau, es kommt noch eine Stunde, in welcher dich niemand wird
selig preisen. Maria blieb drei Monate lang bei ihrer Freundin.
Nachgehends wurde Elisabeth mit einem Sohn erfreut, und sie gaben ihm
den Namen Johannes. Johannes wuchs und ward stark im Geist, und als er
erwachsen war, verbarg er sich vor den Menschen und lebte in der Wüste
in einsamen Gegenden. Aber sein Vater Zacharias weissagte von ihm, daß
er ein Prophet werden und daß er vor dem Herrn hergehen und ihm den Weg
bereiten werde.
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