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AN MICHAEL FRIEDRICH WILD

   

Ich erfülle, verehrter Herr Hofrath und Freund, einen Dank, den ich Ihnen im alten Jahre schuldig geworden bin, endlich im neuen, und auch in diesem so spät, daß ich nicht einmal mehr schicklich meine guten Wünsche beifügen könte, wenn es nicht die nämlichen wären, die ich das ganze Jahr hindurch hege und aussprechen darf, daß Sie glücklich seyn und mir ferner Ihr Wohlwollen schenken mögen, das sich neuerdings in dem gefälligen Geschenk ausspricht, mit welchem Sie mich erfreut, und in welchem Sie der Welt abermal verrathen, daß ich Sie unter meine sehr geneigten Leser rechnen darf, worauf ich stolz bin. Aber womit entschuldige ich die Verspätung dieser Bekenntnisse? Etwa damit, daß ich Sie bitte, mich für den Mann auf der genialischen Titelvignette zu nehmen, der nicht Zeit hat. Das nicht. Denn ich sitze auf dem Bänklein und höre dem Manne zu. Aber ich wünschte, daß Sie auch einmal schon so zerstreut seyn können, wie ich wenigstens periodisch seyn kann, um so etwas zu begreifen, und doch mußte oder wollte ich das Büchlein auch zuerst recht lesen. Ich habe es gethan und bin Ihnen vermehrten Dank schuldig, selbst für das, was ich schon wußte, theils weil ich's schon früher doch von Ihnen gelernt habe, theils weil es mir immer angenehm ist, etwas schon zu wissen, was ein gelehrter Mann zu lehren nicht verschmäht, und hie und da meine eigenen Vorstellungen gerechtfertigt zu sehen. Ich sehe eine solche Lektüre als ein Examen an, in welchem ich bestehe. Das Werklein wird lernbegierigen Lesern und Schülern ein dankenswerthes Geschenk seyn und ich empfele und preise es, nicht um mir an dem Werklein, sondern anderen Leuten ein Verdienst zu machen. Denn seit des Adiunkts Standrede gilt mein Urtheil etwas in diesem Fach. Wir zwei dürfen im Stillen schon darüber lächeln. Aber ich verzinse Ihnen vielleicht nur zu Ihrer Last Ihre lange Schuld mit einem langen Brief. Halten Sie mir diese zweite Unart zugut, wie die erste, und empfangen Sie gerne die Versicherung meiner aufrichtigsten Hochachtung und Liebe

 J. P. Hebel             


CR., 12. Jenner 1819.